ÖRESUND
ZWEI WOCHEN SPÄTER
»Jetzt hältst du den Mund.« Er verpasste ihr mit dem Ellbogen einen Knuff in die Seite.
Sie schlug die Augen nieder und dachte, dass er das nicht hätte sagen müssen. Seit sie die erste Grenze passiert hatten und über die Berge gefahren waren, hatte sie kein Wort gesagt. Tag wie Nacht, im Bus sitzend. Es war ein warmer Bus, mit weichen Sitzen. Sie reiste bequem. Sie konnte sich zurücklehnen und schlafen und daran denken, was sie erwartete.
»Antworte nicht, wenn sie dich etwas fragen«, zischte er ihr ins Ohr. »Du bist eine Frau, du hast zu schweigen. Das verstehen sie. Sie wissen, wie es ist.« Er klopfte sich gegen die Brust. »Ich kümmere mich um das Reden.«
Dann stöpselte er sich die Kopfhörer in die Ohren, und sie hörte leise die Musik, den Rhythmus. Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Nie zuvor hatte sie so viele verschiedene Grautöne gesehen. Der Himmel war blassgrau mit dunkelgrauen Wolken, die über sie hinwegzogen, der Asphalt, über den der Bus rollte, stahlgrau, und der Rauch aus den vielen, hohen Schornsteinen stieg bis zu den Wolken hinauf und vermischte sein dichtes Grau mit dem des Himmels. Das Gras, das sich am Straßenrand wiegte, hatte sich gelbgrau verfärbt.
Sie dachte an ihren neuen Namen, jenen, der in ihrem Pass stand.
Das Bild sah ihr nicht besonders ähnlich, der Name fühlte sich an wie eine Blase am Fuß.
Ein Mensch besteht nicht nur aus seinem Namen, dachte sie. Wenn die Letzten mich vergessen haben, bin ich weg.
Und sie dachte an Sefi, die bald heiraten würde. Sefi hätte die ganze Fahrt über geplappert. Zum Glück war nicht sie auf die Reise gegangen. Sefi hätte sich mit einem warmen, gemütlichen Bett zum Schlafen zufriedengegeben, einem eigenen Zimmer mit Aussicht durch einen kleinen Schlitz im Fenster. Sie hätte sich nicht nach Cádiz durchgeschlagen, und die Familie wäre für alle Zeiten auf ihren Schulden sitzengeblieben. Wenn Sefi nach Europa gereist wäre, würde die Mutter nie ein eigenes Haus bekommen.
Mary Kwara reckte vorsichtig den Hals, als sie Schilder näherkommen sah. Der Mann durfte nicht sehen, dass sie neugierig war. Der Text rauschte an ihr vorbei und sagte ihr nichts, aber sie behielt den Namen im Gedächtnis. Einige davon würde sie später vergessen, wie sie auch Barcelona, Perpignan und Stuttgart vergessen hatte, nachdem sie hinter ihr verschwunden waren. Sie überlegte, wie weit nach Norden man fahren musste, bevor sich die Welt wieder nach unten neigte.
Malmø, dachte sie. Sweden. København. Ein Flugzeug donnerte tief über ihre Köpfe hinweg.
Sie würde tun, was vor Antritt ihrer Reise geplant war: Ihre Mutter hatte eine Vereinbarung mit den Männern getroffen, die das Geld für die Reise geliehen hatten, sie waren Cousins von irgendjemandem, den sie kannten. »Sie verschaffen dir einen Job. Und Papiere.« Großmutter hatte ihr ein Amulett für den Hals mitgeben wollen, das vor bösen Geistern und der Pest schützte. »So eine Hexerei gibt es in Europa gar nicht«, hatte die Mutter gezischt. Sie hatte das Amulett dagelassen, aber die Adresse des Mannes in Cádiz hatte sie auswendig gelernt.
Niemals würde sie jemandem von ihrer Reise erzählen. Ihre Mutter würde es nicht wissen wollen. Sefi würde anfangen zu weinen. Die Brüder waren in South-South, fanden keine Arbeit, kauften von ihrem letzten Geld Burukutu und ließen sich volllaufen.
Doch dem Mann in Cádiz hatte sie von den Schurken erzählt, die die Menschen ins Meer geworfen hatten. »Das hat mit uns nichts zu tun«, sagte er. »Das waren Bösewichte. Sie machen dreckige Geschäfte.«
Last exit in Denmark, war auf einem Schild zu lesen.
Der Mann in Cádiz hatte sie eingeschlossen, während sie auf ihren trolley wartete. Er zeigte ihr den Pass. »Lern den Namen auswendig«, zischte er ihr zu. So sprach er, zischend wie ein Topf, der gerade überkochte. Mary Kwara hatte auf das Bild einer Frau geschaut und sich gefragt, wer sie war. »Stell keine Fragen«, fauchte er. Dann war ihr trolley gekommen und hatte den Pass einbehalten.
Der Bus fuhr in einen Tunnel. Sie konnte das Ende nicht sehen, nur weiße Wände und Lichtstreifen an der Decke. Der Tunnel schien endlos zu sein. Sie schielte zu dem Mann neben sich. Sie würde tun, was er ihr sagte. Der Mann in Cádiz wusste, wer ihre Eltern waren.
Endlich verließen sie den Tunnel, und da konnte sie das Meer sehen. Sie kauerte sich in ihren Sitz. Hauptsache, ich muss nicht Boot fahren, dachte sie, und unzählige Lichtflecken schwirrten vor ihren Augen, sie bekam keine Luft mehr. Die Straße stieg vor ihr auf, und sie sah die Brücke, eine gewaltige Brücke, die sich auf hohen Pfeilern nach oben schwang, und weit in der Ferne, am Ende der Brücke, sah sie eine Stadt und klammerte sich an die Armlehne ihres Sitzes. Dort muss ich hin, dachte sie, auf die andere Seite des Meeres.
Sie schloss die Augen. Sefi wäre sicher bei der Frau mit den vielen Ketten geblieben. Sie hätte sich damit zufriedengegeben, versorgt zu werden und fernzusehen. Sefi war faul. Sie wäre nicht durch das Haus geschlichen und hätte nach Geld gesucht, als die Hausherrin weg war, hätte nicht gestohlen, um sich die Busfahrkarte kaufen zu können.
Gott hat für solche Kleinigkeiten keine Zeit, hatte Mary Kwara gedacht, aber sie hatte dennoch um Vergebung gebetet, vorsichtshalber. Wenn sie nicht nach Cádiz gefahren wäre, hätten die Eltern die Schulden bezahlen müssen und Sefi und ihre Kinder, und falls die Brüder jemals etwas aus South-South zurückschickten, würden die Schlepper auch das einbehalten.
Mit Herzklopfen hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, in dem sie so viele Nächte verbracht hatte. Sie hatte mehrere Stunden gebraucht, um den Busbahnhof in Tarifa zu finden, es war ein kleiner Bahnhof. Sie kaufte das Ticket für den Bus. Als sie über die Berge fuhr, sah sie die Stadt weit unten liegen, wie einen Haufen Zuckerwürfel, die jemand am Strand entlang verstreut hatte, dann bog der Bus ab, und um sie herum war alles ländlich.
Während sie Kilometer um Kilometer an Bergen, Feldern, Städten und Tankstellen vorbeifuhr, dachte sie: Wenigstens reise ich vom Meer weg. Nie wieder muss ich das Meer sehen.
Einmal, in der letzten Nacht, hatte sie geahnt, dass es in der Nähe war, aber sie hatte die Augen geschlossen und gedacht, dass die Dunkelheit sie nur dazu überlistete, Dinge zu sehen, die sie nicht sehen wollte. Geister und Wellen.
Doch jetzt war es Tag, und sie sah die schwankende, graugrüne Oberfläche auf beiden Seiten der Brücke. Zwischen ihr und der Tiefe waren nur ein niedriges Geländer und die Eisenbahnschienen.
Sie würde hart arbeiten müssen, um ihre Schulden zurückzuzahlen. Fünf oder vielleicht sogar zehn Jahre. Dann wäre sie frei.
Sie hätte ein Haus mit weißen Wänden und roten Blumen im Garten und mehrere Zimmer und einen Fernseher und ein eigenes Bett.
Und ab und zu würde sie nach Hause fahren. Zum ersten Mal auf der gesamten Reise wagte sie es, so zu denken. Wenn ich nach Hause fahre. Wird dann noch jemand da sein, der sich an mich erinnert?
Die Brücke wurde höher und machte einen Bogen, auf Pfeilern, die groß waren wie Türme. Sie spürte, wie der Bus im Wind bebte.
Ich heiße Promise, murmelte sie stumm vor sich hin. Ich heiße Promise Makinwa-Keizer.