{362}Lebendige Feuer

Es tut so weh, so wohl hernach,
Wer sträubte sich dagegen?
Goethe, WEST-ÖSTLICHER DIVAN

»Sind Sie Jude?« Einen Augenblick lang schien ihm, das müsse ein Scherz sein. Sie wusste doch schon so vieles von ihm, selbst von seiner langen und qualvollen Verlobungsgeschichte hatte sie gehört, das hatte ihr gewiss Pollak erzählt. Und dass er Jude war, wusste sie nicht?

Auch der postume Leser ist überrascht: Ist denn Kafka mit derart unverblümten Fragen je konfrontiert worden? Noch acht Jahre zuvor, im Briefwechsel mit Felice Bauer, hatte es monatelanger, tastender Versuche bedurft, ehe man über die rituelle Phase des Flirts und über die Mitteilung momentaner Befindlichkeiten hinauskam. Die finanziellen Verhältnisse blieben im Halbdunkel bis zum Ende, die innerfamiliären Auseinandersetzungen ebenso, und was es bedeutete, Jude und Jüdin zu sein – dieser schmerzende Punkt wurde gelegentlich betastet, doch niemals offengelegt. Der Begriff Antisemitismus erschien auf jenen Hunderten von Briefblättern kein einziges Mal.

Verglichen damit entfaltet sich die Beziehung zu Milena geradezu explosiv – beide Protagonisten, so scheint es, sind entschlossen, das soziale Vorspiel zu überspringen. Diesmal ist es die junge Frau, die Kafka zu einer bisher nicht gekannten Offenheit zunächst zwingt, dann aber auch ermutigt. Nachdem er in seinen ersten Briefen, dem bewährten Muster folgend, nichts anderes tut, als Wärme zu erzeugen, um Wärme zu genießen, ist er bereits nach wenigen Wochen mit unerwarteten Bekenntnissen konfrontiert und mit ebenso freimütigen Fragen, die den Kern seiner Existenz betreffen. Sie scheut sich nicht, von Pollak zu erzählen – sie liebt ihn und sie fühlt sich misshandelt {363}von ihm –, aber dann möchte sie auch wissen, ob Kafka eine Geliebte hat. Es ist kein ›Geständnis‹, wenn sie ihm sagt, dass sie von der Hand in den Mund und gelegentlich von Lebensmitteln aus Prag lebt, und es ist keine Koketterie, wenn sie bereits nach wenigen Briefen von ihrem Körper spricht, der tuberkulös ist. Vielleicht nimmt sie an, ein Prager Schriftsteller, der einige Abende im Café Arco verbracht hat, werde sich an die einschlägigen Gerüchte über die Minerva-Schülerinnen ohnedies erinnern; und den (mehr oder minder freiwilligen) Umgang mit Menschen, die über sie Bescheid wissen, ist sie seit langem gewohnt. Doch das allein ist es nicht. Mit ihrer Weigerung, sich an die Spielregeln bürgerlicher Diskretion zu halten, stellt sie Kafka vor eine völlig neue Aufgabe – sie lässt sich auf soziale Diplomatie ebensowenig ein wie auf die rhetorische Mühsal des doublespeak. Unterläuft ihm ein allzu vorsichtiger, vager Satz, fragt sie nach oder äußert sogar ihr Missfallen.

Gewiss ist auch sie gegenüber der Zärtlichkeit schon der allerersten Briefe keineswegs gleichgültig – es tut ihr wohl, dass ein Mann in Sorge um sie ist, ohne dass ein offenkundiges sexuelles Interesse im Spiel ist. »Was werden Sie nun tun?«, fragt Kafka, nachdem er von ihrer Lungenkrankheit erfahren hat. »Es ist ja wahrscheinlich ein Nichts, wenn man Sie ein wenig behütet. Dass man Sie aber ein wenig behüten muss, muss doch jeder einsehn, der Sie lieb hat, da muss doch alles andere schweigen.« [425]  Warm glimmende Sätze, weitab von Milenas alltäglicher Plage. Freilich auch Sätze, so glaubt sie, die niemanden zu etwas verpflichten. Kafka ist anderer Ansicht.

»Sie hatten, wenn man das Ganze etwa als Schulaufgabe ansieht, mir gegenüber dreierlei Möglichkeiten. Sie hätten mir z.B. gar nichts von sich sagen können, dann hätten Sie mich aber um das Glück gebracht, Sie zu kennen und was noch grösser ist als das Glück, mich selbst daran zu erproben. Also durften Sie es mir nicht verschlossen halten. Dann hätten Sie mir manches verschweigen oder schönfärben können und könnten das noch, aber das würde ich in dem jetzigen Stande herausfühlen, auch wenn ich es nicht sagte und es würde mir doppelt weh tun. Also auch das dürfen Sie nicht tun. Bleibt dann als dritte Möglichkeit nur: sich selbst ein wenig zu retten suchen. […]
Was Sie über Ihre Gesundheit sagen (meine ist gut, nur mein Schlaf ist in der Bergluft schlecht) genügt mir nicht.« [426]  

Das geht nun selbst ihr ein wenig zu rasch. Kafka schreibt nicht nur Briefe, er spricht über Briefe, als läge eine nennenswerte Korrespondenz {364}bereits vor. Und das »Glück, Sie zu kennen«? »In dem jetzigen Stande«? Das versteht sie nicht, es ist doch allzu wenig, was man nach einem halben Dutzend Briefen »herausfühlt«, und gewiss lernt man auf diesem Wege niemanden »kennen«. Es sind Äußerungen wie diese, die noch einige Zeit den Zweifel in ihr wachhalten, was von alldem ernst zu nehmen sei und was nicht. Auch hegt sie den Verdacht eines taktischen, zensierten Schreibens: »Nicht ein einziges Wort, das nicht sehr wohlerwogen wäre«, findet sie in Kafkas Briefen; spontan ist dieser Mann gewiss nicht, es bleibt eine unverkennbare Reserve, so scheint ihr. Freilich kann sie nicht wissen, dass die niemals erlahmende moralische Wachsamkeit, der Vorsatz, sich selbst nicht den Schatten eines Hintergedankens zu verzeihen, zu den elementaren Zügen seines Selbstbilds gehören. Und darum ist es die erste, nicht unerhebliche Kränkung, die sie ihm zufügt, als sie ausdrücklich Aufrichtigkeit fordert. [427]  

Den Wärmestrom, der von Meran herüberweht, spürt sie trotz dieser Zweifel, sie braucht ihn, und sie beginnt, sich daran zu gewöhnen. Ab Ende Mai setzt ein Schauer beinahe täglicher Botschaften ein, die sie ebenso regelmäßig und ausführlich beantwortet. Überliefert sind Milena Pollaks Briefe nicht [428]  , doch sind sie offenkundig von Stimmungsschwankungen geprägt, denen Kafka nur mit Mühe zu folgen vermag: vom Gefühl der Nichtigkeit ist die Rede, sogar von Selbsthass, gelegentlich kündigt sie ungeheuere Enthüllungen an, dann wieder beklagt sie sich über die Lächerlichkeit der Leute, mit denen sich ihr Ehemann umgibt. Gegenüber Kafka bleibt sie empfindlich, fürchtet, nicht ernst genommen zu werden, versteht manchen seiner seltsamen Späße nicht und weigert sich, ihm ihre eigenen journalistischen Arbeiten zu zeigen. Aber verlieren möchte sie ihn jetzt nicht mehr – jen strach o Vás, zitiert Kafka, »nur Angst um Sie«, wenn der Strom einmal abreißt. [429]  Sind ihr allzu böse Worte unterlaufen, schickt sie ein Telegramm hinterher, und schon Mitte Juni – wenige Tage, nachdem er drängend zum »Du« übergegangen ist – sendet sie ihm Blumen.

Die Versuchung ist übermächtig: Briefe, die sich an die Stelle sinnlicher Erfahrung setzen; Briefe, die eine parallele Welt erschaffen, einen entgrenzten Raum der Imagination, wie ihn sonst nur die Literatur kennt; Briefe, deren Intensität die physische Erfahrung des Lebens überbietet. Kafka kennt diese Versuchung nur allzu gut, er {365}kennt auch den Preis, den sie fordert, und seit den einsamen Zürauer Meditationen, seit den letzten, sprachlosen Begegnungen mit Felice weiß er, welches Potenzial an Unglück darin lauert. Und dennoch erliegt er. Er hat, einige Wochen lang, keineswegs das Gefühl, eine gelernte Lektion nur zu wiederholen. Gerade die völlig unerwartete, doch offenkundige Chance, die sich ihm zum ersten Mal im Leben bietet, die Chance, mit einer sinnlich, seelisch, intellektuell ebenbürtigen Frau sich zu verbünden – gerade dieser reale Gehalt der neuen Erfahrung lässt ihn vergessen, dass er mit derselben, längst vertrauten Droge spielt. Erneut beginnt er, Briefe zu »trinken«. Er liest sie mehrfach, horcht auf den Klang der Sätze, auf Ober- und Untertöne. Er breitet die Blätter vor sich aus, berührt sie mit dem Gesicht. Und weiß doch, dass diese Lust, die ihn den Nachtschlaf kostet, »unsinnig« ist. [430]  

Milena hat für solche Exzesse der Imagination nur wenig Verständnis. Sie führt nicht das äußerlich sorgenfreie Leben eines Kurpatienten, der sich, solange er Lust am Träumen hat, nahezu jede Störung vom Leib halten kann. Vor allem aber hat sie eine andere Auffassung davon, wozu Briefe dienen können und wozu nicht. Kafkas Gier nach reiner, symbiotischer Intensität ist ihr keineswegs fremd – jahrelang hat Milena eine geliebte Lehrerin mit Briefen bedrängt –, doch die Adoleszenz hat sie ernüchtert, jetzt kommt es ihr auf den Inhalt an, sie nimmt Briefe wörtlich, erwartet über Träume, Metaphern und liebe Worte hinaus auch Fragen und Antworten, die von Leben erfüllt sind. »Sie klagen über manche Briefe«, schreibt Kafka, der die Differenz sofort erfühlt, »man dreht sie nach allen Seiten und es fällt nichts heraus, aber doch sind das, wenn ich nicht irre gerade jene, in denen ich Ihnen so nahe war, so gebändigt im Blut, so bändigend Ihres, so tief im Wald, so ruhend in Ruhe … « [431]  Das ist ihr zu wenig. Einsamkeit, so ihre Erfahrung, lässt sich nicht dadurch aufheben, dass man der körperlosen Stimme eines fernen Menschen lauscht. Briefe können die Wirklichkeit präludieren, im günstigsten Fall, und sie sind hilfreich, um Erinnerungen zu bewahren. Die Wirklichkeit aber hat Vorrang vor dem Imaginären, und dieser Vorrang ist absolut und unabhängig von den Umständen. Darum bleibt noch die intensivste, liebevollste Korrespondenz hinter der schmerzlich unvollkommenen, aber verwirklichten Liebesbeziehung zurück. Zwei Stunden Leben, resümiert sie beinahe kalt, sind mehr als zwei Seiten {366}Schrift. »Die Schrift ist ärmer«, antwortet Kafka, »aber klarer.« [432]  Und damit ist ausgesprochen, dass der Friede, den beide ersehnen, nicht ein und derselbe ist.

Einen mit Briefen spielenden Träumer zu wecken ist leicht, bisweilen genügen wenige harmlose Worte: ›Sind Sie Jude?‹, beispielsweise, oder: ›Wann kommen Sie nach Wien?‹ Das sind Fragen, die über das beschriebene Briefpapier energisch hinausweisen, Fragen, die nicht nach einer Geste verlangen, sondern nach Auskunft. An welche Abgründe sie ihn damit führt, kann sie noch nicht wissen.

»Eine merkwürdige Geschichte hat sich zugetragen, die ich dir wenigstens andeutungsweise ›referiere‹. Der junge Redakteur Reiner der Tribuna, (wie man sagt, ein sehr feiner und wirklich übertrieben junger Mensch – vielleicht 20 Jahre) hat sich vergiftet. Das war, als du noch in Prag warst – glaube ich. Jetzt erfährt man den Grund: Willy Haas hatte mit seiner Frau (einer geb. Ambrožová, Christin, Freundin der Milena Jesenská und ihr ähnlich, so sagt man) ein Verhältnis, das aber in geistigen Grenzen sich bewegt haben soll. Es kam zu keinem Ertappen oder so etwas, sondern die Frau hat den Mann, den sie vor der Ehe Jahre lang kannte, so gequält, mit Worten hauptsächlich und ihrem Benehmen, daß er sich in der Redaktion tötete. Früh kam sie mit Herrn Haas in die Redaktion, um zu fragen, warum er aus dem Nachtdienst nicht zurückgekommen ist. Er lag schon im Krankenhaus und starb, ehe sie hinkamen. – Haas, der vor der letzten Prüfung stand, brach das Studium ab, überwarf sich mit dem Vater und leitet in Berlin eine Filmzeitung. Es soll ihm nicht gut gehen. Die Frau lebt auch in Berlin und man glaubt, er würde sie heiraten. – Ich weiß nicht, warum ich dir diese grausame Geschichte schreibe. Vielleicht nur weil wir unter demselben Dämon leiden und so gehört die Geschichte uns, wie wir ihr gehören … «

Kafka erhielt diese Mitteilungen Max Brods am 12.Juni 1920. Noch am selben Tag schrieb er sie für Milena ab, beinahe Wort für Wort; nur die Bemerkung, dass es eine »Christin« und überdies eine »Freundin der Milena Jesenská« gewesen war, die ihren jungen Ehemann Josef Reiner in den Tod getrieben hatte, ließ er höflichkeitshalber aus. Doch wozu all die Mühe? Jenes Unglück war schon vor Monaten geschehen – es war der 19.Februar, tatsächlich hatte sich Kafka zu dieser Zeit noch in Prag aufgehalten –, und so musste ihm doch klar sein, dass Milena über das Schicksal ihrer Freundin Jarmila längst aus erster Hand und viel genauer unterrichtet war. Warum also diese Kolportage? [433]  

Doch Kafka tat noch Unverständlicheres. Er stellte die zitierte Episode in einen Rahmen, versah sie mit einer Einleitung und einem Schluss, die kaum weniger schockierend waren. »Du gehörst zu mir«, versicherte er und unterstrich diesen Satz, »selbst wenn ich Dich nie mehr sehen würde … Wie werden wir weiter leben? Wenn Du zu meinen Antwortbriefen ›Ja‹ sagst, darfst Du in Wien nicht weiter leben, das ist unmöglich.« Und am Ende: »Ich wiederhole, dass Du nicht in Wien bleiben kannst. Was für eine schreckliche Geschichte.« Man muss annehmen, dass selbst einer Frau wie Milena Pollak, die bühnenwirksame Überraschungen gewohnt war und gelegentlich auch selbst produzierte, angesichts dieser Komposition der Atem stockte. Wenn sie es recht verstand – und wie sonst sollte man es verstehen –, dann war dies nicht weniger als die Aufforderung, den eigenen Ehemann zu verlassen und mit einem Menschen, den sie ein einziges Mal flüchtig getroffen hatte, den sie lediglich aus literarischen Texten und einigen persönlichen Briefen kannte, ein neues Leben zu beginnen. Eine zweimalige Aufforderung, unterbrochen durch eine Selbstmordgeschichte, die mit der verlangten Entscheidung in keinerlei erkennbarem Zusammenhang stand. Ob sie sich nach diesem Schrecken Gedanken über Kafkas geistige Verfassung machte, ist nicht überliefert – das Recht dazu hatte sie. Vorerst teilte sie ihm einige Einzelheiten mit, die sie von Jarmila selbst erfahren hatte, doch bat sie natürlich Kafka, zu begründen, warum gerade dieses Unglück ihm derart naheging, dass er es mit seinen allerpersönlichsten Angelegenheiten verknüpfte. Denn es schien doch, dass er Jarmila überhaupt nicht kannte und dass auch »Herr Haas« keineswegs zu seinen engen Freunden zählte.

Die gewiss mit Spannung erwartete Erklärung hätte Milena vielleicht erahnen können, hätte Kafka nicht den Schlüssel zu diesem Rätsel gleichsam einbehalten. Denn eben jene Worte, die er beim Abschreiben unterdrückt hatte, waren, wie sich jetzt zeigte, die entscheidenden. Es war ein kritischer Augenblick gewesen, da Brods Bericht aus Prag ihn getroffen hatte, dieselbe Stunde fast, da er sich entschlossen hatte, ernst zu machen und Milena herauszufordern: ein Moment der höchsten Erregung also, in dem es ihm schlechterdings unmöglich war, jene Katastrophenmeldung – in der zu allem Unglück der Name Jesenská aufschien – nicht als Kommentar zum eigenen Schicksal zu lesen. Sogleich ging sein Blick über die törichte Jarmila {368}hinweg und richtete sich auf Willy Haas, der doch offenbar im vollen Bewusstsein seiner Verantwortung gehandelt hatte: Er war Jude, und er hatte die Ehe einer Christin zerstört. Diese Geschichte – davon war jetzt Kafka überzeugt, als handele es sich um eine Eingebung von höchster Stelle – diese Geschichte war auf ihn gemünzt. Und diese Gewissheit verführte ihn dazu, für einen Augenblick den Vorhang wegzuziehen vor einem Schauspiel jüdischer Angst, dem die völlig überraschte Milena wohl nur mit Schaudern folgte:

»Das für mich zunächst Schrecklichste an der Geschichte ist die Überzeugung wie sich die Juden notwendigerweise, so wie Raubtiere morden müssen und entsetzt da sie doch nicht Tiere sind sondern überwach, sich auf Euch stürzen mussten. Diese Vorstellung in ihrer Fülle und Kraft kannst Du nicht haben, alles andere in der Geschichte magst Du besser verstehen als ich. Ich begreife überhaupt nicht wie die Völker ehe es zu solchen Erscheinungen der letzten Zeiten kam auf den Ritualmordgedanken kommen konnten (es war früher höchstens allgemeine Angst und Eifersucht, hier aber ist doch der eindeutige Anblick, hier sieht man ›Hilsner‹ die Tat Schritt für Schritt tun; dass die Jungfrau ihn dabei umarmt, was bedeutet das) allerdings begreife ich auch nicht wie die Völker glauben konnten, dass der Jude morde, ohne sich dabei selbst abzustechen, denn das tut er, aber das braucht freilich die Völker nicht zu kümmern.
Ich übertreibe wieder, alles das sind Übertreibungen. Es sind Übertreibungen, weil sich die Rettung-Suchenden immer auf die Frauen werfen und es ebensogut Christinnen wie Jüdinnen sein können.« [434]  

Dies also war der Grund dafür, warum Brod von einer ihnen allen gemeinsamen Geschichte sprach, der Grund, warum Kafka »sie zehnmal gelesen und zehnmal über ihr gezittert« hatte. [435]  Beide identifizieren sich mit dem jüdischen ›Täter‹, beide sehen in Haas ein Exempel. Doch allein Kafka fühlt sich unter dem Zwang, diese Geschichte weiter zu spinnen, gerade jetzt, im Augenblick der Entscheidung, gewinnen die Bilder eine noch größere Macht über ihn, er folgt ihnen wie ein Schlafwandler, und er versäumt den Augenblick, da sie sein Denken zum Entgleisen bringen. Er spricht von Mord, ja, er bringt gar den fatalen Leopold Hilsner ins Spiel, jenen angeblichen ›Ritualmörder‹ an einem unschuldigen christlichen Mädchen, den die Presse zwei Jahrzehnte zuvor zur Symbolfigur einer verhassten Rasse gemacht hatte.

Auf einen Begriff, der mit kollektiver Erregung noch stärker aufgeladen {369}war, hätte Kafka kaum verfallen können, und worum es ihm eigentlich ging, verstand Milena nach diesen Ausfällen, die aus der Geschichte ihrer Freundin ein Politikum machten, erst recht nicht mehr. Das waren keine »Übertreibungen«, das waren moralisch vernichtende Urteile, mit denen Kafka allenfalls auf die Zustimmung überzeugter Judengegner rechnen konnte. Verdächtigte er gar sie selbst antisemitischer Regungen? Immerhin hatte er einmal mit auffallendem Sarkasmus begründet, warum die tschechische Frage nach seinem Judentum (Jste žid?) in ihrem Klang an einen Fausthieb erinnerte, und natürlich hatte sie versucht, ihn in diesem Punkt zu beruhigen. Das sei doch »dummer Spass« gewesen, beteuerte Kafka, nur zum Lachen habe er sie bringen wollen mit diesen phonetischen Spielereien, und um letzte Zweifel sofort auszuräumen, führte er diesen vorgeblichen Spaß weiter, ließ die Zügel schießen und vergaß einmal mehr, wen er vor sich hatte.

» … eher könnte ich Dir den Vorwurf machen, dass Du von den Juden die Du kennst (mich eingeschlossen) – es gibt andere! – eine viel zu gute Meinung hast, manchmal möchte ich sie eben als Juden (mich eingeschlossen) alle etwa in die Schublade des Wäschekastens dort stopfen, dann warten, dann die Schublade ein wenig herausziehn, um nachzusehn, ob sie schon alle erstickt sind, wenn nicht, die Lade wieder hineinschieben und es so fortsetzen bis zum Ende.« [436]  

Milena Pollak war die Geliebte und Ehefrau eines Juden. Die Verbindung mit einem Juden war es, um deretwillen sie ihre Heimatstadt verlassen hatte. Dass ihr bei der Lektüre dieser launigen Mitteilungen zum Lachen zumute war, darf man bezweifeln.

Dass sie aber im Zorn denselben ideologischen Gespenstern verfallen konnte, mit denen hier Kafka paradierte, bewies sie ein Jahr später gegenüber Max Brod. Als dieser das Gespräch auf eine ihrer Nebenbuhlerinnen lenkte, feuerte Milena sofort zurück: Alle Jüdinnen seien »unglücklich, unglückbringend, totgeweiht«. Dass sie zum jüdischen Ehemann einer jüdischen Frau sprach, wusste sie in diesem Augenblick. [437]  


Es gibt Sätze Kafkas, die eindringlich, aber kaum entschlüsselbar sind, die dunkel scheinen von Anbeginn – vor allem die Zürauer Notate bieten dafür erstaunliche Beispiele. Seine Äußerungen über {370}das Judentum zählen dazu nicht – hier sind es offenkundig die Erbschaft einer blutigen Geschichte, die Deformation von Begriffen, das Abreißen diskursiver Traditionen, die das Verständnis heutiger Leser so außerordentlich erschweren. Genauer gesagt: das einfühlende Verständnis. Es ist nach den antisemitisch motivierten Verbrechen der dreißiger und vierziger Jahre nicht mehr möglich, das Töten jüdischer Kollektive zum Gegenstand eines Scherzes zu machen. Es ist ebenso unmöglich, sich in das Bewusstsein eines Menschen zu versetzen, für den Verbrechen solcher Dimension nicht nur im Dunkel der Zukunft liegen, sondern schlechthin undenkbar sind, in ein Bewusstsein also, in dem sich die Vorstellung erstickender Juden mit dem Begriff Gas nicht unausweichlich verbindet. Weder im imaginativen Spiel mit dem Tod – das in seinen Briefen selten ist –, noch in der Reflexion über seine antisemitisch grundierte Lebenswelt konnte Kafka auf den Gedanken verfallen, dass ein derartiges Schicksal die jüdische Bevölkerung tatsächlich einmal treffen könnte, und die Vorstellung schließlich, dass seinen eigenen Schwestern das Recht auf Leben entzogen würde, dass sie eines Tages planvoll aus der Welt geschafft würden wie Ungeziefer, überstieg selbst die vom Gaskrieg infizierte Einbildungskraft bei weitem. Kafka trieb Späße mit dem Nicht-mehr-Menschlichen, und er konnte das tun, weil es ihm ebenso unmöglich und märchenhaft schien wie die sadistischen Phantasien des STRUWWELPETER. Vor dieser Ahnungslosigkeit graut uns. Jenes Überschreiten zivilisatorischer Grenzen aber, das Kafka sich nicht vorstellen konnte, ist im eigentlichen Sinn unvorstellbar geblieben, und dies allein vermag der historischen Empathie noch einen Weg zu bahnen.

Um Kafkas Äußerungen zum Judentum in den Jahren nach dem Krieg zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass der Vorwurf des Antisemitismus unter Westjuden noch keineswegs den heutigen Blutgeruch, ja nicht einmal durchgängig negative Konnotationen hatte. Anders ist nicht zu erklären, dass Kafka einmal ein Feuilleton Milena Pollaks als »scharf und böse und antisemitisch«, im selben Atemzug aber als »prachtvoll« bezeichnete. [438]  Andererseits fällt ins Auge, dass er auf Erfahrungen der Ausgrenzung und des antisemitischen Hasses jetzt weitaus häufiger zu sprechen kommt. Er fühlt sich genötigt, über die Sorge um die jüdische Identität hinauszugehen, politisch aufmerksamer zu werden, er begreift, dass die {371}Epoche einer weitgehenden jüdischen Rechtssicherheit zu Ende geht, und er reagiert wie jeder, dem Sicherheit entzogen wird: Er wird empfindlicher, und sein Blick auf die anderen wird schärfer.

Das ist besonders auffallend in Kafkas Meraner Zeit. Es war dies ja keineswegs das erste Mal, dass er wochenlang von Menschen umgeben war, die Juden entweder ablehnten oder den Umgang mit ihnen zumindest problematisierten. Solche Erfahrungen hatte er, acht Jahre zuvor, gewiss auch im christlich geleiteten Naturheilsanatorium Jungborn schon gemacht, ohne dass er es für wert befunden hätte, in Briefen oder im Tagebuch etwas darüber zu notieren. Ganz anders nun in der Pension Ottoburg.

» … die Gesellschaft also ist ganz deutsch-christlich, hervorstechend: paar alte Damen, dann ein gewesener oder gegenwärtiger, es ist ja das gleiche, General und ein ebensolcher Oberst, beide kluge, angenehme Leute. […] Nun nötigte mich aber heute der Oberst, als ich ins Speisezimmer kam, (der General war noch nicht da) so herzlich zum gemeinsamen Tisch, dass ich nachgeben musste. Nun ging die Sache ihren Gang. Nach den ersten Worten kam hervor, dass ich aus Prag bin beide, der General (dem ich gegenüber sass) und der Oberst kannten Prag. Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun in diese treuen deutschen militärischen Augen, was Du eigentlich bist. Irgendwer sagt: ›Deutschböhme‹, ein anderer: ›Kleinseite‹. Dann legt sich das Ganze und man isst weiter, aber der General mit seinem scharfen, im österreichischen Heer philologisch geschulten Ohr ist nicht zufrieden, nach dem Essen fängt er wieder den Klang meines Deutsch zu bezweifeln an, vielleicht zweifelt übrigens mehr das Auge als das Ohr. Nun kann ich das mit meinem Judentum zu erklären versuchen. Wissenschaftlich ist er jetzt zwar zufriedengestellt, aber menschlich nicht. In demselben Augenblick wahrscheinlich zufällig denn alle können das Gespräch nicht gehört haben, aber vielleicht doch in irgendeinem Zusammenhang erhebt sich die ganze Gesellschaft zum Weggehn (gestern waren sie jedenfalls lange beisammen, ich hörte es da meine Tür an das Speisezimmer grenzt). Auch der General ist sehr unruhig, aus Höflichkeit bringt er aber doch das kleine Gespräch zu einer Art Ende, ehe er mit grossen Schritten wegeilt. Menschlich befriedigt mich ja das auch nicht sehr, warum muss ich sie quälen?, sonst ist es eine gute Lösung, ich werde wieder allein sein ohne das komische Alleinsitzen, vorausgesetzt dass man nicht irgendwelche Massregeln ausdenken wird.« [439]  

Der gleichmütige Ton trügt, der Schmerz ist präsent und nur oberflächlich betäubt. Kafka weiß, es ist Zufall, dass alle sich im selben Moment erheben, da er sich als Jude bekennt; sein gegenteiliges {372}Gefühl aber, eine tief eingewurzelte Erwartung, ist so stark, dass er dennoch »irgendeinen Zusammenhang« wittert. Auch der höfliche General, so scheint ihm, hat es plötzlich auffallend eilig, und am Ende beschwört Kafka sogar die Vision einer geheimen Beratung, die den unliebsamen jüdischen Tischgenossen verbannen wird.

Es dauert Wochen, ehe die augenblickliche Starre sich löst und Kafka wieder klarer sieht. Alles nicht so schlimm, räumt er jetzt ein, er habe wohl doch übertrieben. Der General schätze ihn als Zuhörer und sei freundlicher zu ihm als zu allen anderen, der Oberst spreche gar von »dummem« Antisemitismus, und wenn in größerer Runde doch einmal von »jüdischer Lumperei« und »Frechheit« die Rede sei, dann lache man darüber und entschuldige sich sogar noch bei ihm. Kurz, da »zeigt der Antisemitismus bei Tisch seine typische Unschuld«, die eben darin bestand, dass zurückhaltende und assimiliert aussehende Zeitgenossen, mit denen man irgendwie auskam, augenzwinkernd freigesprochen waren, während man etwa die jüdischen Anführer der Münchner Räterepublik – der Alptraum des deutschen Bürgertums – mit Genugtuung vor den Gewehrläufen des Standgerichts sah. [440]  Kafka muss an diesem Tisch sehr schnell klar geworden sein, wie naiv seine ursprünglichen Reisepläne nach Bayern gewesen waren: Dort nahm man jüdische Gäste offenbar nur noch auf, um sie zu erschlagen, wie er es später pointierte. [441]  

Brod wusste nur zu gut, wovon Kafka sprach. »Jüdische Frechheit!«, so hatte es ihm selbst erst wenige Tage zuvor in den Ohren geklungen, unter weitaus bedrohlicheren Umständen und in aller Öffentlichkeit. Es war in einer Loge der Münchener Kammerspiele, Brod saß dort an der Seite Kurt Wolffs und dessen Geschäftsführer Meyer, um für seinen Einakter DIE HÖHE DES GEFÜHLS den gewohnten Beifall entgegenzunehmen – eine politikferne Harmlosigkeit, die das Publikum in anderen Städten stets mit Rührung aufgenommen hatte. Diesmal jedoch wurde gelacht und gezischt, es hagelte Pfiffe und Schmährufe. In München machte man ernst: Seit der gewaltsamen Beendigung der Räteherrschaft traf hier jeder Jude, der sich öffentlich zu Wort meldete, auf die Bereitschaft zum Pogrom, und dass man selbst eine machtpolitisch so unbedeutende Figur wie Gustav Landauer ohne Gerichtsverfahren und ohne Urteil kurzerhand beseitigt hatte, wurde von der Mehrzahl derer, die hier lachten und johlten, zweifellos gebilligt. Vielleicht war auch der eine oder andere {373}Zuschauer dabei gewesen, als im Februar, knapp zwei Monate zuvor, ein neu aufgetauchter Agitator namens Hitler eine einfache administrative Lösung des Problems vorschlug, nämlich den Entzug der Staatsbürgerschaft sämtlicher deutscher Juden, und bei dieser Gelegenheit – es war der von 2000 begeisterten Menschen verfolgte Gründungsakt der NSDAP im Münchner Hofbräuhaus – auch gleich versprach, sich für dieses Ziel »rücksichtslos« und »wenn nötig unter Einsatz des eigenen Lebens« einzusetzen. [442]  

Kafka fühlte sich bestätigt, als er den Schreckensbericht aus München las, wenngleich in etwas anderem Sinne, als Brod erwartet hatte. Waren die Juden tatsächlich, wie es der Kulturzionismus behauptete, ein historisch, kulturell, rassisch eigenständiges Volk, das sich seiner Eigenständigkeit nur noch bewusst werden musste, dann war es nicht zu vertreten, dass Juden massiv in die politische Geschichte eines anderen Volkes eingriffen, und sei es aus noch so idealistischen Motiven. Diese Folgerung war fatal, jedoch zwingend, und erst wenige Wochen zuvor hatte Martin Buber – ausgerechnet in einer festlichen Gedenkrede auf Landauer – sie ausdrücklich bekräftigt und zur Zurückhaltung gemahnt. »Er verkannte ganz und gar«, sagte Buber über den ermordeten Freund, »dass der Blutkreislauf dieses fremden Volksorganismus ein ganz anderer ist, als seiner und unserer. Er wollte das Tempo seines Blutes, den Rhythmus seines Blutes diesem fremden Volksorganismus aufzwingen, er und ein paar andere jüdische Menschen mit ihm.« [443]  Nicht anders argumentierten die Antisemiten. Doch Bubers Auffassung – deren ideologische Verblendung heute augenfällig ist – leuchtete Kafka sofort ein, und er machte sie zu seiner eigenen. Auch die Reaktion des Münchner Theaterpublikums, schrieb er an Brod, sei doch durchaus begreiflich:

»vielleicht verderben die Juden Deutschlands Zukunft nicht, aber Deutschlands Gegenwart kann man sich durch sie verdorben denken. Sie haben seit jeher Deutschland Dinge aufgedrängt, zu denen es vielleicht langsam und auf seine Art gekommen wäre, denen gegenüber es sich aber in Opposition gestellt hat, weil sie von Fremden kamen. Eine schrecklich unfruchtbare Beschäftigung, der Antisemitismus und was damit zusammenhängt und den verdankt Deutschland den Juden.« [444]  

Warum wird Kafka nicht wütend? Warum zeigt er so auffallendes Verständnis, weist gar die Schuld am Antisemitismus den Juden {374}selber zu? Eine Haltung, die umso rätselhafter erscheint, als ja gerade die Nachkriegszeit in Prag genügend Beispiele dafür bot, dass überzeugte Antisemiten immer Gründe und Anlässe finden. Durch die Presse, vor allem aber durch Brod war Kafka genauestens darüber unterrichtet, wie häufig es zu physischen Übergriffen gegen deutschsprechende Juden kam und wie hilflos die neue Regierung diesem Problem gegenüberstand. Es besteht kaum ein Zweifel, dass er solche Vorfälle auch selbst schon beobachtet hatte und dass die Drohung eines allgemeinen Pogroms, der dann Ende 1920 tatsächlich nur knapp verhindert wurde, keine wesentlich neue Erfahrung war:

»Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhass. ›Prašivé plemeno‹ [räudige Brut] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, dass man von dort weggeht, wo man so gehasst wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.
Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben.« [445]  

In München: Deutsche gegen Juden. In Prag: Tschechen gegen Deutsche und Juden. Es lief auf das Gleiche hinaus. Kafkas Resümee aber lässt klar erkennen, dass seine Aufmerksamkeit nicht dem unbezweifelbaren Recht der Opfer gilt, sondern deren moralischer Position, die ihm anrüchig scheint. Denn es ist schändlich, sein Leben hinter einem Schutzwall von Bajonetten zu fristen, es ist nicht Stärke, sondern widerwärtige Zudringlichkeit, gerade dort leben zu wollen, wo man unerwünscht ist. Zweifellos war es auch die eilfertige Anpassungsbereitschaft vieler Prager Juden, die Kafka besonders aufbrachte und ihn zu ungewöhnlich abfälligen Bemerkungen provozierte: Deutsche Familiennamen wurden in tschechische umgeschrieben, deutschsprechende Kinder plötzlich auf tschechische Schulen geschickt, und im ›Deutschen Kasino‹ wollte man nicht mehr gesehen werden. [446]  Vor allem aber war es Kafkas rigide Empfindlichkeit in Fragen persönlicher Würde, die es ihm verwehrte, ungebrochenen Hass gegen die Täter und reines Mitgefühl mit den Verfolgten aufzubringen. Die tschechischen Antisemiten wussten, was sie wollten, während die deutschen Juden bloß nach der Polizei riefen. Daraus erwuchs {375}ein moralisches Dilemma: Während die Opfer natürlich alles Recht auf ihrer Seite hatten, war die soziale Rolle des jüdischen Opfers mit Selbstachtung kaum mehr zu vereinbaren. Und dieses Dilemma war ansteckend, es sprang gleichsam auf den jüdischen Beobachter über, der sich darüber, dass er zum Kollektiv der Unschuldigen zählte, keineswegs freuen konnte.

Milena Pollak, die von der veränderten Atmosphäre in Prag keine so eindringliche Vorstellung hatte, fiel es schwer, zu verstehen, warum die Frage nach seinem Judentum für Kafka plötzlich derart virulent wurde. Warum nahm er das so überaus persönlich? Hatte er Angst davor, über Gräben zu springen? Aber das tat er doch bereits, er hatte sich einer Frau anderer Sprache und Konfession zugewandt, einer Frau von anderer Moral sogar, und nichts deutete darauf hin, dass er dabei erst irgendwelche Skrupel hätte überwinden müssen. Als ›christlich‹ hatte sie schon lange niemand mehr apostrophiert, für Fragen der Religion interessierte sie sich ebensowenig wie Pollak, und der Gegensatz der Konfessionen bot innerhalb ihrer Ehe keinerlei Reibungsflächen. Kafka sah offenbar Gespenster, er schlug sich mit Problemen herum, die durch eine freundliche Aussprache leicht aus der Welt zu schaffen waren. Schon nach wenigen Briefen, Ende Mai, hatte sie ihn eingeladen, nach Wien zu kommen. Nun, da sie wusste, mit welch abwegigen Szenarien er sich quälte, lag ihr umso mehr daran. Es hing nur von ihm ab, ein wenig Ruhe zu finden. Warum also kam er nicht?


Direktor Odstrčil hatte Wort gehalten. Und Dr.Kafka hatte es ihm leicht gemacht. Dass der neu gekürte Sekretär und Abteilungsleiter pünktlich Ende Mai an seinen Schreibtisch zurückkehren würde, hatte in der Unfallversicherung eigentlich niemand erwartet. Doch überraschenderweise bat Kafka nicht um Verlängerung des Krankenurlaubs, sondern lediglich darum, seinen regulären fünfwöchigen Urlaub unmittelbar anschließen und in Meran bleiben zu dürfen. Er hatte sogar seine Schwester Ottla damit beauftragt, persönlich vorzusprechen und dieses Ersuchen zu begründen. Das konnte man ihm – angesichts der letzten medizinischen Befunde – unmöglich abschlagen.

Volle Genesung konnte Kafka natürlich nicht versprechen, obgleich die Selbsttherapie, zu der er sich entschlossen hatte, der Behandlung {376}in einem Lungensanatorium kaum nachstand. Das Wichtigste war das tägliche, stundenlange, ruhige Liegen an frischer Luft, eine Übung für Tagträumer, zu der er gewiss keiner Anleitung bedurfte. Das Nächstwichtige war die Ernährung, die im Haus Ottoburg, trotz des anhaltenden Mangels, auf seine Wünsche weitgehend eingestellt war – eine ordentliche Gewichtszunahme konnte Kafka vermelden, sieben Pfund waren es inzwischen. » … eine so gute Pension und Behandlung finde ich nicht wieder«, schrieb er der Schwester, die über das völlige Ausbleiben von Klagen recht erstaunt gewesen sein muss. [447]  Auch einen geeigneten Begleiter hatte Kafka mittlerweile kennengelernt, einen Ingenieur und Fabrikanten aus Bayern, mit dem er Spaziergänge oder kleine Ausflüge unternahm, und sogar Gelegenheit zu ein paar Stunden leichter Gartenarbeit fand sich in Meran.

Das alles wurde jedoch grundiert von stetig sich verschlimmernden Schlafstörungen, die Kafka in einen Zustand zielloser Erregung versetzten. Nicht ungewöhnlich, hieß es im Baedeker, das könne an der Gebirgsluft liegen. Doch mit solchen Ausreden konnte er in Prag, wo man ihn nach seiner Rückkehr genau inspizieren würde, wohl kaum auf Verständnis rechnen. Tatsächlich drohte der fortgesetzte Schlafentzug den Erfolg der Kur zunichte zu machen; wollte er in Meran bleiben, brauchte er ein wirksames Gegenmittel. Kafka trank Bier, ließ sich zu Baldriantee überreden, ja, er griff sogar zum verhassten Brom, das mehr Betäubung als Schlaf brachte. An die Quelle des Übels gelangte er damit natürlich nicht, und wo diese Quelle zu finden war, wusste er sehr genau, ohne mit irgendjemandem darüber sprechen zu können.

Mit Julie Wohryzek, die formell noch immer seine Verlobte war, hatte Kafka vereinbart, an den Meraner Aufenthalt einige gemeinsame Tage in Karlsbad anzuschließen. Bis dahin sollte er regelmäßig Bericht erstatten – Julie war besorgt, und es kam vor, dass sie sich an Ottla wandte, um über sein Befinden noch Genaueres zu erfahren. Es gab also zwei Korrespondenzen, die Kafka parallel und mit etwa gleicher Frequenz führte, ohne dass er zunächst das Gefühl hatte, Widersprüchliches oder gar Verwerfliches zu tun. Denn diese Mitteilungen waren völlig unterschiedlicher Natur: Während er mit Julie keine grundsätzlichen Auseinandersetzungen mehr führte und auf seinen (nicht erhaltenen) Ansichtskarten gewiss alles vermied, was Unruhe stiften konnte, wurden im Briefwechsel mit Milena psychische {377}Gewölbe betreten, die er seit Jahren unter Verschluss hielt. Legte man hier allein den Maßstab der Intensität und der imaginativen Fülle an – und dieser Maßstab war für Kafka der verbindliche –, so gab es tatsächlich keinen Grund, die aufwühlenden Briefe aus Wien mit den fürsorglichen aus Prag in irgendeinen Zusammenhang zu bringen, geschweige denn, sich vom schlechten Gewissen den Schlaf rauben zu lassen. Milena war gegenwärtig, Julie war fern, die eine war ein Wunder, die andere, mehr als fünf Jahre Ältere blieb »das Mädchen«.

Diese innerpsychische Kulisse wurde jedoch in völlig anderes Licht getaucht im selben Augenblick, da Milena ihn bat, nach Wien zu kommen. Für sie ein natürlicher Übergang: Man schreibt einander, man sieht einander. Für Kafka hingegen ein schockhaftes Erwachen, das ihn aus dem Imaginären in die Logik sozialer Beziehungen riss. Es war unmöglich, zuerst nach Wien und dann nach Karlsbad zu reisen. Es war unmöglich, Karlsbad abzusagen, ohne Wien zu erwähnen. Diese Orte lagen auf demselben Kontinent, und die Wege waren kurz.

Dazu die Drohung eines umkämpften Beziehungsdreiecks oder gar -vierecks, eine Situation, mit der Kafka keinerlei Erfahrung hatte. Ganz undenkbar schien es ihm, Herrn und Frau Pollak etwa gemeinsam zu treffen: Nach diesen Briefen zu einer höflichen, taktisch bestimmten Konversation zurückzukehren, hätte ein Ende bedeutet oder zumindest eine abgrundtiefe Lüge, die das ganze Unternehmen sinnlos machte. Doch ohne Versteckspiel ging es auch dann nicht, wenn er Milena allein sah: Die Wahrscheinlichkeit, in der Wiener Innenstadt von irgendjemandem erkannt zu werden, war groß, und sobald die Meldung ins Café Herrenhof gelangte, konnte sich Kafka nicht mehr entziehen, ohne eine ganze Schar von Bekannten, inklusive Ernst Pollak, vor den Kopf zu stoßen. Wie immer man es anfasste, die Situation blieb unkontrollierbar, ihr Ausgang völlig unbestimmt. Er sei geistig krank, schrieb Kafka, den die Angst nun vollends wachhielt, eine Begegnung in Wien sei daher unmöglich: »weil ich die Anstrengung geistig nicht aushalten würde«. Wenige Stunden später aber sandte er ein Telegramm auch an Julie: Nein, keine gemeinsamen Tage in Karlsbad. Begründung folgt.

Hätte Milena Pollak je Gelegenheit gehabt, Kafkas Briefe an Felice Bauer zu lesen – sie starb lange vor deren Publikation –, so hätte sie {378}das Muster zweifellos wiedererkannt. Es war der Übergang vom Flug der Imagination zur Mühsal der Realität, der Kafka so schwerfiel, es war die Angst vor der Landung, die Angst vor dem Loslassen des Steuers danach, die ihn zu aberwitzigen Manövern nötigte. Ich komme, ich komme nicht, ich komme später – diesen Refrain hatte auch Felice unzählige Male vernommen. In Berlin freilich war es um die Frage der Ehe gegangen, um die Furcht, in der fremden Stadt, unter fremden und zugleich allzu nahen Menschen keine wirklich freie Entscheidung mehr zu treffen. In Wien hingegen lockte ein erotisches und existenzielles Abenteuer, das ein keineswegs nur eingebildetes Potenzial an Zerstörung barg. In Wien konnte er sich schuldig machen – die Geschichte um Jarmila hatte es ihm bewusst gemacht, als sei sie eigens für ihn erfunden –, und schuldig an Menschen, deren erwiesene Lebenskraft er nur demütig bestaunen konnte. Die Sehnsucht war übermächtig, die Verantwortung jedoch ebenso: »Ich komme ganz bestimmt nicht, sollte ich aber doch … « [448]  

Mehr als drei Wochen dauerte es, mindestens zwanzig weiterer Briefe bedurfte es, ehe Kafka den inneren Aufruhr so weit dämpfen konnte, um eine praktische Entscheidung zu treffen. Allmählich wurde ihm bewusst, dass die Imagination dem Leben nicht beliebig weit vorauseilen kann. Er hatte tiefes Vertrauen gefasst, wie vielleicht noch niemals zuvor. Er hatte die jüdische Wunde offengelegt, vor den Augen einer Nichtjüdin. Er hatte Milena von seiner Angst erzählt, der Angst davor, Ansprüche an das Leben zu stellen, vor jener »inneren Verschwörung gegen mich«, die jeden hoffnungsvollen Schritt konterkarierte; und er hatte ihr seinen noch immer in der Schublade ruhenden BRIEF AN DEN VATER versprochen, damit sie vom Ursprung dieser Angst sich selbst ein Bild machen könne. Er hatte sie aufgefordert, Wien zu verlassen, und um den Ernst seiner Worte zu bekräftigen, war er noch einen großen Schritt weitergegangen: »ich verdiene nicht viel, aber es würde gut für uns beide reichen«. [449]  Er hatte Anlauf genommen, hatte sich weit hinausgestreckt ins Fast-Unmögliche. Und wenn er nicht alle diese Briefe – seine wie ihre – durchstreichen wollte, so musste er jetzt nach Wien fahren: in die einst gehasste Metropole, deren Untergang er vor Jahren prophezeit hatte und über der sich, von Westen gesehen, unversehens ein ganz anderes, verheißungsvolleres Licht ausbreitete. [450]  

Am Montag, den 28.Juni, packte Kafka müde seinen Koffer, {379}schaute ein letztes Mal prüfend in den Schrankspiegel, verabschiedete sich von den Menschen, die ihn fast ein Vierteljahr lang fürsorglich bedient hatten, verteilte Trinkgelder, empfing die teils förmlichen, teils herzlichen Abschiedswünsche einiger Tischgenossen, warf noch rasch eine Karte für Ottla in den Postkasten und bestieg gegen Mittag den Kurswagen mit der Aufschrift ›Wien‹. Wahrscheinlich blickte er noch eine Zeitlang zurück auf die von Burgen geschmückten, auf zahllosen Spaziergängen erkundeten Hänge des großen Talkessels. Sie müssen ihm jetzt sehr fern erschienen sein, das erstarrte Abbild vergangenen Lebens. Am späten Nachmittag langwierige Gepäckkontrollen am Brenner. Vorweisen eines längst abgelaufenen österreichischen Visums, was gnädig übersehen wird. Hinter Innsbruck die Dämmerung. Die nächtlichen Bahnhöfe von Salzburg und Linz. Kafka bleibt wach.

»Wenn er diese Angst spürte, hat er mir in die Augen gesehen, wir haben eine Weile gewartet, so als ob wir keinen Atem bekommen könnten oder als ob uns die Füße wehtäten, und nach einer Weile ist es vergangen. Es war nicht die geringste Anstrengung nötig, alles war einfach und klar, ich habe ihn über die Hügel hinter Wien geschleppt, ich bin vorausgelaufen, da er langsam gegangen ist, er ist hinter mir hergestampft, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch sein weißes Hemd und den abgebrannten Hals, und wie er sich anstrengt. Er ist den ganzen Tag gelaufen, hinauf, hinunter, er ist in der Sonne gegangen, nicht ein einziges Mal hat er gehustet, er hat schrecklich viel gegessen und wie ein Dudelsack geschlafen, er war einfach gesund, und seine Krankheit war uns in diesen Tagen etwas wie eine kleine Erkältung.« [451]  

Sie nannte ihn »Frank«. Wohl nie zuvor hatte ihn jemand anders als mit seinem wirklichen Namen gerufen, doch diese eigentümliche, intime Anrede ging auf ihn selbst zurück. Denn so hatte er eine Zeitlang seine Briefe unterzeichnet, erst auf den zweiten Blick war zu erkennen, dass dies »FranzK« heißen sollte, zunächst mit, dann ohne Punkt, ehe er mit »Ihr F« oder einfach »F« noch ein wenig näherrückte. Doch es blieb bei Frank, Milena blieb dabei, solange er lebte.

Ihre Schilderung der vier gemeinsamen Tage in Wien ist die einzige, die wir besitzen. In Kafkas eigenen Briefen finden sich nur Andeutungen, Beschwörungen von glücklichen Augenblicken vollkommener Gelöstheit, wie er sie wohl noch niemals erfahren hatte. Die Angst davor, sich einem fremden Menschen und damit der chaotischen Fülle des Lebens selbst auszuliefern, hatte sich als besiegbar {380}erwiesen, und die Erinnerung daran, dass er für wenige Stunden die verbotene Zone symbiotischen Glücks hatte betreten dürfen, kostete er noch monatelang aus, in einsamen Träumen. Gewiss, auch in Wien war es nicht ohne Augenblicke des Ernüchterns abgegangen. Kafka hatte sich am Dienstagmorgen in einem schäbigen Hotel am Südbahnhof einquartiert, doch war er so übermüdet, dass er die erste Begegnung mit Milena auf den folgenden Tag verschob. Auf dem Trottoir vor dem Hotel trafen sie sich, inmitten lärmenden Verkehrs, und wenn sie die Orte aufsuchten, die seine Phantasie seit Wochen umflog – die ungemütliche Lerchenfelder Straße, in der sie wohnte, das Postamt in der Bennogasse, wo sie seine Briefe abholte –, dann nur mit scheuen Blicken ringsum und in Furcht vor unliebsamen Zeugen. Droben an den Hängen des Wienerwalds aber waren sie allein, und die Befangenheit löste sich rasch. Der erste Tag, schrieb Kafka, sei »der unsichere« gewesen, der vierte und letzte Tag »der gute«. [452]  

Die rasche Entscheidung jedoch, die Kafka insgeheim erhofft hatte, fiel nicht. Noch längst war sich Milena nicht im Klaren darüber, was sie sich von ihm erhoffte, geschweige denn, wie ein gemeinsames Leben in Prag denn aussehen könne, ein Leben mit einem Menschen, dessen geistige Präsenz überwältigend war, dessen Sinnlichkeit aber scheu, defensiv, gleichsam unschuldig sich zeigte. Jener letzte Tag im Wald – es war Kafkas 37. Geburtstag – war der Tag der größten körperlichen Annäherung, ja beinahe einer Verführung. Wenn aber Angst sein eigentliches und tiefstes Problem war, wie war es dann möglich, dass er gerade diesen Tag als den guten erinnerte?

Diese Frage war nicht zu beantworten, ohne dem stummen Sex eine Sprache zu geben. Es ist heute nur mehr schwer zu ermessen, welche herzklopfende Herausforderung dies bedeutet haben muss, welche diskursiven Hemmnisse, Skrupel und Rollenzwänge im Jahr 1920 zu überwinden waren, ehe ein Mann gegenüber einer – noch dazu wesentlich jüngeren – Frau die eigene Sexualität definierte, ohne den doppelten Boden des Flirts, jenseits der Sprachspiele erotischer Werbung. Das hatte etwas Utopisches, es barg das Versprechen eines fremden, ungeahnten Glücks. Kafkas zaghaften Versuchen, von den Angelegenheiten des Herzens auch zu denen des Geschlechts vorzudringen, war Felice stets ausgewichen. Milena hingegen fragte selbst, sie war erfahren, sie wusste, dass Augenblicke sprachlosen Glücks Augenblicke eines artikulierten Vertrauens voraussetzen. {381}Und Kafka hatte jetzt dieses Vertrauen. Er unterschied nicht mehr zwischen Mädchen, Frau und weiblichem Mitmenschen. Er begann, zu allen dreien zu sprechen.

»Die schönsten Briefe unter den Deinigen (und das ist viel gesagt, denn sie sind ja im Ganzen, fast in jeder Zeile, das Schönste, was mir in meinem Leben geschehen ist) sind die, in denen Du meiner ›Angst‹ recht gibst und gleichzeitig zu erklären suchst, dass ich sie nicht haben muss. Denn auch ich, mag ich auch manchmal aussehn wie ein bestochener Verteidiger meiner ›Angst‹, gebe ihr im tiefsten wahrscheinlich Recht, ja ich bestehe aus ihr und sie ist vielleicht mein Bestes. Und da sie mein Bestes ist, ist sie auch vielleicht das allein, was Du liebst. Denn was wäre sonst grosses Liebenswertes an mir zu finden. Dieses aber ist Liebenswert.
Und wenn Du einmal fragtest, wie ich den Samstag ›gut‹ habe nennen können mit der Angst im Herzen, so ist das nicht schwer erklärt. Da ich Dich liebe (und ich liebe Dich also, Du Begriffstützige, so wie das Meer einen winzigen Kieselstein auf seinem Grunde lieb hat, genau so überschwemmt Dich mein Liebhaben – und bei Dir sei ich wieder der Kieselstein, wenn es die Himmel zulassen) liebe ich die ganze Welt und dazu gehört auch Deine linke Schulter, nein es war zuerst die rechte und darum küsse ich sie, wenn es mir gefällt (und Du so lieb bist die Bluse dort wegzuziehn) und dazu gehört auch die linke Schulter und Dein Gesicht über mir im Wald und Dein Gesicht unter mir im Wald und das Ruhn an Deiner fast entblössten Brust. Und darum hast Du recht, wenn Du sagst dass wir schon eins waren und ich habe gar keine Angst davor, sondern es ist mein einziges Glück und mein einziger Stolz und ich schränke es gar nicht auf den Wald ein.
Aber eben zwischen dieser Tag-Welt und jener ›halben Stunde im Bett‹ von der Du einmal verächtlich als von einer Männer-Sache schriebst, ist für mich ein Abgrund, über den ich nicht hinwegkommen kann, wahrscheinlich weil ich nicht will. Dort drüben ist eine Angelegenheit der Nacht, durchaus in jedem Sinn Angelegenheit der Nacht; hier ist die Welt und ich besitze sie und nun soll ich hinüberspringen in die Nacht, um sie noch einmal in Besitz zu nehmen. Kann man etwas noch einmal in Besitz nehmen? Heisst das nicht: es verlieren. […]
In einer Nacht das durch Zauberei erwischen wollen, eilig, schweratmend, hilflos, besessen, das durch Zauberei erwischen wollen, was jeder Tag den offenen Augen gibt! (›Vielleicht‹ kann man Kinder nicht anders bekommen, ›vielleicht‹ sind auch Kinder Zauberei. Lassen wir diese Frage noch) Darum bin ich ja so dankbar (Dir und allem) und so ist es also samozřejmé [selbstverständlich] dass ich neben Dir höchst ruhig und höchst unruhig, höchst gezwungen und höchst frei bin, weshalb ich auch nach dieser Einsicht alles andere Leben, aufgegeben habe.« [453]  
{382}

Ob Milena Pollak die volle Bedeutung dieses letzten Satzes – mit einem falschen Komma an entscheidender Stelle – erfassen konnte, ist zweifelhaft. Denn er besagt nichts weniger, als dass Kafka sich von der eigenen Sexualität verabschiedet. Nicht darum aber, weil er sie für einen persönlichen Makel hält, sondern weil er sie nicht integrieren kann, weil sie mit seinem Streben nach Glück nichts zu tun hat, weil sie etwas Fremdes bleibt, das der eigenen Psyche als unfassbare, unlenkbare Macht gegenübertritt. Das Gute lockt ins Böse, die Frau lockt ins Bett, hatte Kafka noch in Zürau lakonisch notiert. Diesen ethischen Rigorismus hatte er lebenspraktisch nicht einholen können, Julie Wohryzek war seine Geliebte geworden, das sexuelle Begehren war gegenwärtig, selbst noch in Meran, wo er in Gedanken ein Stubenmädchen verfolgte, wochenlang, und bei unverkennbarem Entgegenkommen gewiss auch umarmt hätte. Das alles aber »gegen meinen offenen Willen«, wie er Milena gestand. Denn der Sex erscheint ihm als Umweg, als Irrweg, der, wenn nicht ins Böse, so doch ins Dunkel führt, wo Mann und Frau sich einem Sturm ausliefern, der ihnen am Ende aus der Hand reißt, was sie schon zu besitzen glaubten. Glück aber kann sich Kafka nur in Bildern des Friedens, der Ruhe, der völligen Entspannung vorstellen. Einmal vergessen dürfen, dass man ein ›Rettung-Suchender‹ ist; nicht mehr wachsam sein müssen, die Türen geöffnet lassen. Den Kopf auf ihre Brust oder in ihren Schoß legen. Die kühle Hand auf der Stirn fühlen. » … nichts mehr, Stille, tiefer Wald«. [454]  


Die große Wohnung am Altstädter Ring fand Kafka beinahe leer; erst in einigen Tagen sollten die Eltern von ihrem alljährlichen Sommerurlaub in Franzensbad zurückkehren. Nur Ottla war hier, beschäftigt mit den Vorbereitungen ihrer Hochzeit. Sie war die Erste, der Kafka berichtete, was geschehen war. Von ihr wiederum erfuhr er, wie es inzwischen seiner Freundin Julie ergangen war und in welchem Zustand er sie vorfinden würde. Beide wussten, dass ihm jetzt ein schwerer Gang bevorstand.

Und dann wartete noch eine Überraschung auf Kafka. Natürlich hatte er Brod längst darüber unterrichtet, dass sein Leben verändert war, dass Meran nicht gesundheitlich, doch in ganz anderem Sinn sich als Wendepunkt gezeigt hatte. Zum zweiten Mal eine Liebesbeziehung, die nicht durch Berührungen, sondern durch Briefe aufblühte, {383}zum zweiten Mal der Versuch, eine überwältigende erotische Imagination einzuholen und festzuhalten. »Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe«, hatte er Brod mit Begeisterung eröffnet, doch gleich hinzugefügt: »ein Feuer übrigens das trotz allem nur für ihn brennt.« [455]  Für ihn: Das war Ernst Pollak. Auch wenn er den Namen nicht ausdrücklich nannte – aus Sorge um unerwünschte Mitleser –, so glaubte Kafka doch genügend Hinweise gestreut zu haben, um erkennbar zu machen, von welchem prominenten Paar hier die Rede war.

Nun stellte sich aber heraus, dass der Freund ahnungslos war. Er hatte sich vergeblich den Kopf darüber zerbrochen, wer die geheimnisvolle Frau in Wien denn sein könne, und er war auch nicht darauf verfallen, dass es sich um eine ›Christin‹ handelte. Für Kafka eine erstaunliche, ja erschütternde Entdeckung. Denn es bedeutete, dass Brod die tragische Episode um Jarmila und ihren deutsch-jüdischen Liebhaber (und späteren Ehemann) Willy Haas gar nicht aus besonderem Anlass und erst recht nicht als Lehrstück erzählt hatte; es bedeutete weiter, dass er den Namen Milena Jesenská rein zufällig in seinen Brief hatte einfließen lassen.

›Hat denn diese Geschichte irgendeine Beziehung zu uns?‹, hatte Milena in Wien geradeheraus gefragt. ›Sollte das etwa eine Warnung sein?‹ Aber nein, hatte Kafka versichert, dem längst bewusst geworden war, zu welchen Verallgemeinerungen er sich hatte hinreißen lassen – nein, keine Beziehung, keine Warnung. Und das war die Wahrheit, wie sich erst jetzt zeigte. Die Dienstwege des inneren Gerichts blieben unerforschlich. Max Brod aber, der den Freund noch niemals in solch exaltiertem Zustand erlebt hatte, war nicht weniger erschrocken. »Er ist sehr glücklich«, notierte er in der Nacht nach dem ersten Treffen. »Ob er aber diesen Stürmen gewachsen ist?« Zur selben Stunde saß auch Kafka am Schreibtisch: » … wenn man durch Glück umkommen kann, dann muss es mir geschehn. Und kann ein zum Sterben Bestimmter durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben.« [456]  

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis
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