59

Eine kalte Krallenhand kroch über Kendiras Wange und wollte ihr mit ihren nadelspitzen Nägeln die Augen aus der Schädelhöhle stechen. Sie schrie auf, schlug in panischer Todesangst um sich – und erwachte.

»Haben auch dich die Tunnelratten im Schlaf verfolgt?«, fragte Dante und zog seine Hand von ihrer Wange zurück. »Ich wurde sie auch nicht los. Diese Bilder werde ich wohl nie vergessen.«

Mit fliegendem Atem saß Kendira aufrecht auf der Feldpritsche und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand und was passiert war. Sie war so jäh aufgeschreckt, dass sie in den ersten Sekunden immer noch stark unter dem Eindruck des fürchterlichen Albtraums stand. Dann aber verblassten die schaurigen Bilder und schlagartig kehrte die Erinnerung zurück.

Sie befand sich in einem großen fensterlosen Raum, der unten bei den Werkstätten des überdachten Trockendocks lag und mit einfachen Feldpritschen vollgestellt war. Eine nackte Glühbirne hing unter der Decke und leuchtete mit unsteter Helligkeit. Auf diesen Pritschen waren sie im Morgengrauen erschöpft zusammengesunken, nachdem sie oben im Besprechungszimmer von Major Marquez ihre Rucksäcke ausgeräumt und ihm dann auch noch die Geschichte der Befreiung von Liberty 9 erzählt hatten. Dass sie nicht mitten im Erzählen schon eingeschlafen waren, hatte nur an den Kannen mit starkem schwarzem Kaffee gelegen, die Lieutenant Scott MacDowell, der so etwas wie ein Adjutant des Milizenführers war, ihnen zusammen mit einem Tablett Sandwiches hochgebracht hatte.

»Was hast du gesagt?«, fragte Kendira und nahm erst jetzt bewusst wahr, dass Dante neben ihr auf der Feldpritsche saß.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte er. »Ich hätte dich gern noch schlafen lassen. Aber ich konnte einfach nicht mitansehen, wie du dich durch diesen Albtraum quälst.«

»Ich bin froh, dass du mich geweckt hast«, sagte sie mit einem müden Lächeln. Dann stutzte sie, furchte die Stirn und sah sich verwirrt im Schlafsaal um. Keines der anderen Betten war belegt. »Dante, wo sind Zeno, Nekia und Carson? Ist irgendwas passiert? Und wie spät haben wir es überhaupt?«

»Es ist kurz nach vier.«

»Unsinn! Wir sind doch erst gegen fünf …«

»Vier Uhr nachmittags.«

»Was? Ich habe geschlagene elf Stunden durchgeschlafen?« Sie blickte auf ihre Armbanduhr und konnte es nicht glauben.

Dante grinste. »Damit hältst du jetzt zwar den Rekord«, scherzte er, »aber auf satte zehn Stunden haben ich und die anderen es auch gebracht. Ich war vollkommen erledigt … wir waren alle erledigt, was ja wohl auch kein Wunder war.«

Sofort musste Kendira an ihre Freunde denken, die nicht mehr bei ihnen waren, vor allem an Hailey und die Zwillinge, und sie wusste, dass diese tiefe Wunde noch lange heiß in ihrer Seele brennen würde.

»Wenn wir es doch nur alle geschafft hätten«, murmelte sie mit belegter Stimme und biss sich auf die Lippen, als sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schießen wollten.

Dante nickte stumm, er wusste genau, was sie fühlte. Die tiefe Erschütterung über den Tod ihrer Freunde quälte auch ihn.

»Dass Hailey uns nicht mehr mit ihren sarkastischen Kommentaren aufmischen soll und wir auch Fling und Flake mit ihren abstehenden Ohren und ihrer trockenen Art nie wieder …« Sie brach ab, weil es einfach zu sehr schmerzte, schüttelte den Kopf und wischte sich schnell die Tränen aus den Augenwinkeln, die sie nun doch nicht hatte zurückhalten können.

Dante griff nach ihrer Hand. »Was würde ich dafür geben, wenn sie jetzt hier bei uns sein und mit uns den Angriff auf Tomamato Island planen könnten! Jetzt, da auch der Tai-Pan der Jachis mit einem Großteil seiner Truppe hier eingetroffen ist …«

Kendira riss die Augen auf. »Was sagst du da? Yakimura und seine Männer sind hier?«.

Dante nickte heftig. »Stimmt! Davon hast du ja gar nichts mitbekommen. Ihr Eintreffen hast du ja völlig verschlafen. Ja, sie sind vor einer knappen Stunde eingetroffen, mit zwei Steamern und dreiundsechzig Mann stark. Akahito und Liang sind auch mit dabei. Yakimura hat die Verhandlungen mit der Brotherhood gestern Nacht endlich zum Abschluss gebracht und ein Abkommen mit ihnen geschlossen.«

»Dann muss das irgendwann in der Zeit geschehen sein, als wir in den Hinterhalt der Islander geraten sind und uns in den Abyss flüchten mussten«, folgerte sie.

Er nickte. »Ja, der Durchbruch bei den Verhandlungen ist kurz nach Mitternacht gekommen, wie Liang erzählt hat.«

Kendira hatte plötzlich das Gefühl, von aller Kraft verlassen zu werden, und die Verzweiflung wurde fast übermächtig. »Was haben wir nur getan, Dante?«, stieß sie bestürzt hervor. »Warum haben wir nicht wenigstens ein, zwei Tage gewartet? Dann wären Marco, Hailey und die Zwillinge noch am Leben!«

»So darfst du nicht denken, Kendira!«, beschwor er sie. »Es ist nicht richtig, dass du dich mit Selbstvorwürfen quälst. Dafür besteht kein Grund.«

»Und ob wir einen Grund haben, uns Selbstvorwürfe zu machen!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Der Tod unserer Freunde ist so unnötig, so sinnlos gewesen! Keiner hätte sterben müssen. Siehst du das denn nicht? Schon wenn wir nur einen Tag gewartet hätten, wären wir jetzt alle …«

»Nein, das ist nicht richtig!«, fiel er ihr energisch ins Wort. »Niemand hat wissen können, dass der Durchbruch in den Verhandlungen ausgerechnet letzte Nacht kommen würde. Oder hast du vergessen, was der Tai-Pan gesagt hat? Nämlich dass keiner weiß, wann sie dieses Abkommen mit der Brotherhood endlich in trockenen Tüchern haben. Er hat sogar nicht ausgeschlossen, dass es vielleicht noch Monate dauern könnte. Das ist das eine, Kendira. Und das andere ist, dass wir darüber abgestimmt haben, ob wir warten wollen oder nicht. Und wir haben einstimmig beschlossen, nicht zu warten. Wir waren uns einig und damit müssen wir leben.«

»Ja, wir Glücklichen, die wir überlebt haben«, murmelte Kendira bedrückt.

»Selbst wenn wir alle gewartet hätten, wäre damit nicht garantiert gewesen, dass wir jetzt noch alle am Leben wären.«

Verständnislos sah sie ihn an. »Wieso nicht?«

»Die Jachis hatten auf ihrer Fahrt nach New Providence einen Zusammenstoß mit einem Konvoi Islander«, teilte er ihr mit. »Es ist zu einem kurzen, aber heftigen Gefecht gekommen. Zum Glück für Yakimuras Männer waren Hyperions Helikopter nicht mehr in der Luft und andere Konvois nicht nahe genug, um in den Kampf eingreifen zu können. Die Jachis haben den Söldnern schwere Verluste zugefügt, den Rest des Konvois schließlich in die Flucht geschlagen und einiges an Waffen erbeutet. Aber der Sieg war nicht billig. Sie haben selbst fünf Tote zu beklagen und sieben Verletzte, die zum Glück alle durchkommen werden.«

»Oh nein!«, entfuhr es Kendira.

»Du siehst, auch mit den Jachis wäre unsere Sicherheit nicht garantiert gewesen. Bei dem Gefecht hätte es ebenso gut auch uns treffen können«, hielt Dante ihr eindringlich vor Augen. »In der Dunkelwelt gibt es einfach keine Sicherheit. Das müssen wir akzeptieren – so wie wir auch all die unbekannten Gefahren akzeptiert haben, als wir uns auf die Befreiung von Liberty 9 eingelassen haben und dann freiwillig in den Helikopter gestiegen sind.«

Sie dachte kurz darüber nach und nickte schließlich. »Ja, du hast recht«, sagte sie leise. »Wir müssen dankbar sein für das, was wir erreicht haben … und hoffen, dass es für uns und unsere Freunde auf der Reaktorinsel eine Zukunft gibt.«

Einen kurzen Moment saßen sie schweigend nebeneinander auf der Pritsche. Dann sagte er leise, während er zärtlich über ihre Hand strich: »Es mag gemein und selbstsüchtig sein, aber das Wichtigste für mich ist, dass dir nichts passiert ist, Kendira. Schon die Vorstellung, dass es auch dich hätte treffen können, ist einfach unerträglich. Du bedeutest mir so unendlich viel, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Ohne dich …«, er stockte kurz, »ohne dich wollte ich nicht leben.«

Kendira sah zu ihm auf, den Blick unverstellt und offen bis ins Innerste ihres Herzens. Die Wärme seiner Hände, die ihre Hand noch immer umschlossen hielten, erfüllte sie von Kopf bis Fuß, entzündete jede Faser ihres Körpers. Gleichzeitig wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie seit … nun, seit fast achtundvierzig Stunden zum ersten Mal wieder mit ihm allein war. Das letzte Gespräch unter vier Augen hatten sie auf dem Rockcastle Hill am Abend vor dem Eintreffen des Lichtschiffs gehabt.

Wie ein Stromschlag durchfuhr sie die Erkenntnis, wie sehr sie es vermisst hatte, mit ihm allein zu sein und ihn so nahe bei sich zu spüren. Hailey und die Zwillinge fehlten ihr sehr und würden für immer eine Lücke in ihrem Herzen zurücklassen. Aber dieses Vermissen hatte nichts mit dem allumfassenden Gefühl von Sehnsucht und Zusammengehörigkeit zu tun, das sie für Dante empfand. Für Dante und für niemand anderen, dass wusste sie in diesem Augenblick mit endgültiger Gewissheit! Sie brauchte ihn, so wie sie die Luft zum Atmen brauchte.

»Und ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen und will es auch erst gar nicht versuchen«, flüsterte sie zurück, ohne den Blick von seinen Augen zu nehmen. »Ich glaube, das nennt man Liebe, nicht wahr?«

Sein Lächeln war eine einzige bedingungslose Liebeserklärung. »Ja, ich glaube auch, dass man das so nennt«, gab er leise zurück und nahm ihr Gesicht in beide Hände.

»Ach, Dante! Warum haben wir nur so lange damit gewartet?« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, zog ihn zu sich und küsste ihn mit einem jäh aus ihr hervorbrechenden Hunger und einer Leidenschaft, als gäbe es kein Morgen.

Wann die Tür aufflog und Zeno hereinplatzte, ob schon nach wenigen Sekunden oder aber nach vielen Minuten leidenschaftlicher Versunkenheit, das wusste hinterher keiner von ihnen zu sagen. Für Kendira und Dante hatte die Zeit ihre Bedeutung verloren.

»Hey, genug geturtelt, Leute! Das muss erst mal reichen!«, rief Zeno und strahlte sie mit seinem runden Mondgesicht an, als platzte er gleich vor Aufregung. »Los, hoch mit euch! Schwingt die Hufe! Oben ist Einsatzbesprechung! Es heißt, wir schlagen schon heute Nacht los!«

Liberty 9 - Todeszone
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