33
Langsam und nur widerstrebend kam Kendira zu sich. Ein Teil ihres Ichs wehrte sich dagegen, den gnädigen Schutz der Bewusstlosigkeit zu verlassen und sich der Wirklichkeit zu stellen. Jener Teil, der schon die zu erwartenden Schmerzen und Bilder des Schreckens um sich herum erahnte.
Es waren jedoch weder Schmerzen noch visuelle Eindrücke, was sie als Erstes bewusst wahrnahm, als die Ohnmacht sie zögerlich freigab. Vielmehr registrierte sie zuerst Wimmern und Stöhnen und halb erstickte Schreie, verbunden mit ekelhaften Gerüchen. Dabei handelte es sich um ein Gemisch aus beißendem Rauch, verschmorten Kabeln, Blut, Erbrochenem, Fäkalien und Flugbenzin.
Zudem schmecke sie Sand im Mund.
Als Nächstes setzte die Erinnerung ein, zögerlich, bruchstückhaft und in kurzen Schüben. Es war ein Erinnern wie mit angezogener Bremse.
Wir sind abgestürzt.
Über der Dunkelwelt.
Bin ich tot?
Die Antwort erfolgte den Bruchteil einer Sekunde später, als der Schmerz sich bemerkbar machte. Er traf sie wie ein glutheißer Strahl aus dem Rohr eines Flammenwerfers und schoss ihr durch die Brust. Ein ähnlicher, wenn auch mehr dumpfer Schmerz meldete sich im Kopf mit pochendem Hämmern.
Seltsam, ich scheine noch zu leben.
Oder es stimmt nicht, was man über den Tod sagt.
Nämlich, dass man dann gar nichts mehr fühlt.
Kendira schlug die Augen auf. Sie hatte Mühe, ihren Blick zu fokussieren. Einige Sekunden lang sah sie alles verschwommen, und ihr war, als würde sie in einem grauen, stinkenden Meer treiben. Diffuses Dämmerlicht umgab sie. Und als ihr Blick endlich klarer wurde, weigerte sich ihr Verstand einige Sekunden lang, die auf sie einstürzenden Bilder anzunehmen und zu verarbeiten.
Sie hing in ihren Gurten. Ihr rechter Arm fühlte sich taub an, doch gebrochen schien er nicht zu sein. Jedenfalls konnte sie ihre Finger bewegen. Neben ihr ragte eine Aluminiumkiste schräg vom Boden auf. Indigo hing mit tief eingedrücktem Brustkorb über dem oberen Ende. Sein Kopf war ihr zugewandt. Blut rann aus seinem offen stehenden Mund. Leblose Augen starrten an ihr vorbei ins Leere.
Ein Teil der Bordwand hinter Indigo fehlte. Dort hatte Dante gesessen. Es fehlte auf ihrer Seite auch die Kanzel mit dem Copiloten sowie ein Stück Bordwand. Da war nur Sand.
Sand war überall.
Der Pilot lebte jedoch noch. Er hing wie sie in den Gurten und schrie. Er musste schwer verwundet und halb wahnsinnig vor Schmerzen sein.
Einen halben Schritt links von ihr lag Alisha mit verrenkten Gliedern auf dem stählernen Gerippe des Bodens. Ihr Kopf war unnatürlich weit in den Nacken gebogen. Selbst wenn sie sich nicht das Genick gebrochen hatte, musste sie tot sein. Denn eine Hälfte ihres Gesichtes fehlte. Sie schien wie weggeschnitten zu sein. An ihre Stelle war eine blutige graue Masse getreten.
Jäh wandte Kendira den Blick ab.
Die andere Bordseite war weiter von ihr weg, als sie es in Erinnerung hatte. Der Helikopter schien wie ein Kürbis, der aus einigen Metern Höhe auf Beton aufschlägt, auseinandergeplatzt zu sein. Sie sah Carson und die Zwillinge hinter Rauchschwaden, die wie schmutziger Nebel von oben herabfielen. Und über ihr klaffte ein breiter Streifen Himmel.
Carson, Fling und Flake bewegten sich.
Sie stöhnten.
Sie lebten!
Von irgendwo aus dem grauen Licht jenseits des Wracks kamen aufgeregte Rufe. Es waren viele Stimmen, auch raues Gelächter. In allem schwang ein bösartiger, hämischer Grundton mit, der von Unheil kündete. Die Stimmen näherten sich schnell. Aus mehreren Richtungen. Dazu lautes Fußgetrappel und das Knirschen von Sand unter Schuhsohlen.
Stimmen auch in ihrem Kopf. Ihre eigene, irgendwie zweigeteilt.
Alisha und Indigo sind tot.
Aber du hast überlebt!
Wo kommt bloß all der Sand her?
Warum kümmert dich das jetzt?
Weil wir eigentlich doch alle hätten tot sein müssen.
Das kann noch kommen, wenn du nicht endlich etwas tust!
Kendira tastete mit der linken Hand nach der Gurtschnalle. Sie sprang auf und löste die Gurte. Sie stürzte nach vorn zu Indigo auf die Kiste, der wie eine Puppe nach hinten wegkippte. Eine neue Schmerzwelle brandete durch ihren Körper, als sie sich aufzurichten versuchte und gleich wieder in sich zusammensackte. Fast wäre sie neben die Kiste gestürzt.
In dem Moment tauchten die ersten schattenhaften Gestalten auf. Sie brachten einen stechenden Gestank mit sich, der noch schlimmer war als der einer offenen Latrine. Wie ein beutehungriger Schwarm fielen die Schatten von mehreren Seiten über das Wrack her.
»Jetzt kriegen wir die Hyperion-Hunde endlich mal vor die Messer!«, schrie draußen eine krächzende Stimme mit wildem Triumph. »Wenigstens ein paar von ihnen!«
»Und satte Beute bringt der Chopper noch dazu!«
Im nächsten Augenblick sah Kendira, wie solch ein stinkender Schatten in der weiten Öffnung der aufgerissenen Cockpitkanzel auftauchte und sich über den Piloten beugte. Dann sah sie eine lange Messerklinge, die dem Piloten durch die Kehle fuhr und seinem schmerzerfüllten Schreien ein Ende machte.
»Verdammt, das ist ja ein Morituri, der da liegt!«, schrie zur selben Zeit eine verdutzte Stimme vor dem Wrack. »Mann, Jethro, die hatten ’ne Gruppe junger Morituri für The Rock an Bord!«
Der Zuruf löste einen raschen Wortwechsel aus.
Jemand lachte höhnisch. »Na und? Was juckt es uns? Todgeweiht bleibt todgeweiht! Dafür sorgen wir schon.«
»Klar, hier wird nicht geteilt, und es wird auch keiner am Leben gelassen, selbst so arme Schweine wie die Morituri nicht, oder, Jethro?«
»Hey, nicht so schnell, Leute! Lebend können sie uns ’ne Menge Geld bringen, wenn junge Frauen darunter sind!«
»Genau! Also holt sie erst mal alle aus dem Wrack, vor allem die Weiber. Die können wir später an die Albaner oder besser noch an die Islander verscherbeln, wenn wir sie leid sind!«
»Ich seh schon eine!«, rief der Mann, der gerade den Piloten abgestochen hatte. »Mann, da sind noch mehr drin! Die haben den Crash sogar überlebt!«
»Holt die ganze Bande raus! Und beeilt euch!«
Wankend kam Kendira auf die Beine, obwohl sie gerade noch geglaubt hatte, nicht die nötige Kraft zu haben, sich aufzurichten.
Sie erinnerte sich daran, dass sie eine Waffe unter der Kutte trug. Aber sie konnte das kalte, harte Metall nicht mehr unter ihrem Trikot spüren. Und als sie nach der Automatik tasten wollte, kam ihr zu Bewusstsein, dass der rechte Arm ihr noch immer den Dienst versagte. Sie kam nicht mehr dazu, mit links nach der Waffe zu suchen.
Mehrere stinkende Schatten verdunkelten den breiten, klaffenden Spalt am Bug des Helikopters, drängten sich herein und schienen sich alle auf sie zu stürzen. Schwielige Hände griffen nach ihr, packten sie brutal an den Armen, rissen sie mit sich. Eine Hand krallte sich sogar in ihr Haar.
Die Männer zerrten sie brutal aus dem Wrack. Jeder Widerstand erwies sich als vergeblich.
Draußen im Dämmerlicht des anbrechenden Tages, der noch mit dem Dunkel der Nacht kämpfte, nahmen die Gestalten Konturen an und bekamen Gesichter. Was sie jedoch nicht weniger abstoßend machte, sondern den Abscheu vor ihnen noch steigerte.
Kendira sah sich umgeben von einer Schar völlig zerlumpter Männer. Manche trugen nicht viel mehr als Fetzen am Leib, die von ein paar Fäden Garn, rostigen Sicherheitsnadeln oder durchgezogenen Drähten zusammengehalten wurden. Die bleichen, zerfurchten und ausgezehrten Gesichter, die aus einem Dickicht schulterlanger verfilzter Haare hervortraten, strotzten von Dreck.
Bei nicht wenigen waren Gesicht, Hals und Arme von offenen, eiternden Geschwüren befallen und zerfressen. Ihre zahnlosen Münder klafften wie dunkle Löcher und stanken wie Abfallgruben. Und der Blick der Augen um sie herum war so kalt und unerbittlich wie der Stahl ihrer Messer.
Kendira befand sich noch immer in einem seltsamen Zustand, der sich aus schmerzerfüllter Benommenheit sowie Schock und Angst zusammensetzte. Trotz der Panik, die nach ihr griff, registrierte sie, dass sie sich auf dem Grund einer riesigen, flachen und sandigen Grube befanden. Jenseits der Ränder machte sie die schwarzen Umrisse von halb eingestürzten Gebäuden, abgeknickten Förderanlagen und Turmruinen aus.
In ihrem Hinterkopf formte sich aus den Bildern die Schlussfolgerung, dass sie auf dem weitläufigen Gelände einer Sand- und Kiesfabrik abgestürzt waren. Der viele weiche Sand, der in der Grube hier und dort noch Hügel bildete, und die sanfte Abwärtsneigung des Geländes schienen ihren Aufschlag abgemildert zu haben und der Grund dafür zu sein, dass so viele von ihnen den Absturz überlebt hatten.
Ihr Hirn verfolgte diese Überlegung jedoch nicht länger. Vertraute Stimmen drangen an ihr Ohr. Das waren eindeutig Nekia und Hailey, die da Zeter und Mordio schrien!
Erhabene Macht sei Dank, auch sie lebten!
Plötzlich erhaschte sie durch eine Lücke in der Mauer der grässlichen Männer, die sie umgaben, begrapschten und sich um sie stritten, einen Blick auf Dante. Er lag mit dem Gesicht in einem dieser flachen Sandhügel. Neben ihm ragte ein großes Stück Bordwand mit zerfetzten Gurten aus dem Sand. Sie erkannte ihn an seinem schwarzen, mit Kupferdraht umwickelten Zopf. Eine der stinkenden Gestalten, die eine Art Mistgabel in den Händen hielt, drehte ihn auf den Rücken und trat ihm in die Rippen, um zu sehen, ob noch Leben in ihm war.
Worauf Dante aufstöhnte, sich krümmte und hustete. Benommen brachte er sich in eine halb aufgerichtete Stellung. Mit einer Hand stützte er sich nach hinten hin ab, mit der anderen fasste er sich an den Kopf. Als er sie zurückzog, hinterließ seine Hand eine breite Blutspur auf seiner Stirn.
Für einen Moment vergaß Kendira ihre Schmerzen und die bestialisch stinkende, wilde und mordlüsterne Horde um sich herum, die alles verkörperte, was sie über die Dunkelwelt zu wissen meinte. Erlösung und Dankbarkeit durchfluteten sie.
Auch Dante hatte überlebt!
»Hey, der Todgeweihte hier, den es aus dem Chopper katapultiert hat, lebt noch!«, rief die Schauergestalt verwundert und blickte sich grinsend zu ihren Komplizen um. »Scheint ’n richtig zäher Bursche zu sein! Was sollen wir mit ihm machen, Jethro?«
»Was schon! Natürlich abstechen! Wie den Rest der männlichen Mannschaft!«, rief eine Stimme, bei der es sich um die des Anführers namens Jethro handeln musste, zurück. »Können uns nicht auch noch mit den Kerlen abschleppen. Gibt nur Ärger, wenn wir sie mitnehmen.«
»Sehe ich auch so, Boss!«
»Und jetzt macht schon. Hier gibt es garantiert irgendwelche Fracht zu bergen. Wir müssen schnell wieder verduften, wenn wir nicht den verfluchten Jachis in die Hände fallen wollen! Außerdem kann das Wrack gleich in die Luft fliegen. Wenn wir uns also nicht höllisch beeilen, schaffen wir es nicht, noch rechtzeitig einiges von dem Zeug zu bergen, das sie an Bord hatten!«
»Nein!«, schrie Kendira mit grenzenlosem Entsetzen auf.
Die Lumpengestalt holte gerade mit der Mistgabel zum tödlichen Stoß aus, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und starrte nach oben. Ihr Unterkiefer klappte herunter.
»Heiliges Henkerblut!«
Plötzlich war die Luft erfüllt von einem scharfen Zischen und dem Geräusch eines wehenden Windes, der binnen Kurzem zu einem aus der Höhe herabfallenden Rauschen anschwoll.
Die Männer, die Kendira gerade noch grölend und mit obszönen Bemerkungen begrapscht hatten, ließen von ihr ab und rissen die Köpfe in den Nacken.
»Die verfluchten Jachis kommen!«, gellte der Mann mit dem Dreizack mit schriller, sich überschlagender Stimme. »Die grauen Drachen sind schon im Anflug! Gleich haben sie uns am Arsch!« Er ließ seine Waffe in den Sand fallen und stürzte davon.
Im selben Moment regnete es grellrote, laut fauchende Feuerschweife vom Himmel.