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Die Nacht war mondhell und die Sicht im Totenwald so gut, wie man es sich nur wünschen konnte, wenn man den Patrouillen der Guardians mit ihren Nachtsichtgeräten nicht in die Arme laufen wollte. Jedenfalls war das Dantes Meinung.
»Mir wäre es lieber, es wäre so stockfinster wie bei unserem letzten Ausflug«, flüsterte Carson. Sie hatten unterhalb des Windbruchs eine kurze Atempause eingelegt und kauerten im Schutz eines stark duftenden Strauchs. Beim Abstieg in eine der Höhlen, in die man sich per Seil hinunterlassen musste, war ihm der Fuß umgeknickt, und nun machte sich ein stechender Schmerz bemerkbar. Verstohlen rieb er sich das schmerzende Fußgelenk.
»Was wäre denn damit gewonnen? Dann fiele es uns schwerer, den Weg zum Treffpunkt mit den Mountain Men zu finden, und der Vorteil wäre zu hundert Prozent aufseiten der Guardians«, hielt Dante ihm leise vor und rückte das kupferfarbene Band zurecht, mit dem er sein dichtes seidenschwarzes Haar im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden hatte. »So haben wir zumindest eine reelle Chance, sie noch früh genug zu entdecken, um ihnen aus dem Weg gehen zu können.«
Carson grinste schief. »Du hast ja recht, aber irgendwie fühle ich mich bei diesem verdammt hellen Mondschein einfach viel … na ja, viel verwundbarer.«
»Ich war ja schon öfter hier draußen im Totenwald«, sagte Dante. »Und anfangs dachte ich auch, die Dunkelheit schützt mich. Aber das Einzige, was einen wirklich schützt, ist unablässige Wachsamkeit – und Erfahrung. Mit der Zeit entwickelt man nämlich so ein Bauchgefühl.«
Carson verzog das Gesicht. »Ich weiß, du bist in diesen Dingen ja schon ein alter Hase und mit der Wildnis fast so vertraut wie der wilde Jedediah und sein Wolf-Clan«, murmelte er mit einem leicht bissigen Unterton.
Dante zog es vor, das Thema zu wechseln, und deutete auf Carsons Fußgelenk, das sein Gefährte noch immer rieb. »Hast du starke Schmerzen?«, fragte er. »Kannst du überhaupt weiter?«
»Wieso? Habe ich mich beklagt? Oder kann ich etwa nicht mit dir mithalten?«, fragte Carson gereizt zurück.
»Nein, ich dachte nur, dass du vielleicht …«
Carson schnitt ihm das Wort ab. »Ich bin in Ordnung. Von mir aus können wir weiter!«
Dante unterdrückte ein Seufzen und hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen. »Gut, dann ist ja alles in Butter«, sagte er trocken, während er sich aufrichtete.
Er glaubte zu wissen, warum Carson manchmal recht empfindlich auf ihn reagierte. Carson hatte die letzten sechs Jahre in dem von den Oberen ständig genährten Bewusstsein verbracht, ein Auserwählter und Berufener der Erhabenen Macht zu sein und daher ein Recht auf besondere Privilegien zu besitzen – etwa auf die Dienste von Servanten, wie er einer war. Und sein blendendes Aussehen hatte ihm in der Entwicklung eines überaus kräftigen Selbstbewusstseins sicher ebenso wenig im Wege gestanden wie seine erstklassigen Leistungen im Sport und im virtuellen Raum der Sim-Kabinen.
Aber eine viel größere Rolle spielte vermutlich die Tatsache, dass Carson in ihm einen unbequemen Konkurrenten sah, der mit ihm um Kendiras Herz wetteiferte. Und damit lag er gar nicht so falsch. Dante wusste, dass Kendira mehr als nur freundschaftliche Zuneigung für ihn empfand. Das hatte er deutlich bei dem Kuss gespürt, vor wenigen Tagen nach der Lichtmesse am Seeufer. Er hatte sie in jener Nacht beim Umziehen zwischen den Büschen zugegebenermaßen überrumpelt und doch war sie alles andere als zurückweisend gewesen. Und sie trug das Lederband mit der indianischen Pfeilspitze um ihren Hals, die er ihr geschenkt hatte! Das sprach für sich und sagte ihm, dass seine Chancen wohl gar nicht so schlecht standen.
Dante verdrängte diese Gedanken rasch, als er nun mit Carson hinter der Deckung hervorkam und sie ihren Weg zum Treffpunkt fortsetzten. Was immer wegen Kendira unterschwellig zwischen ihnen stand, es durfte nicht ihr Denken und schon gar nicht ihr Handeln beeinflussen.
Jedenfalls nicht, solange nicht Liberty 9 und ihre anderen Kameraden befreit waren, die schon in der Todesfalle des Lichttempels saßen und vielleicht noch immer nicht ahnten, was ihnen bevorstand. Und auch er selbst, Carson, Kendira, Nekia und Zeno wussten ja nur, dass der sichere Tod dort auf sie wartete, aber nicht, warum und auf welche Art sie dort sterben sollten.
Heute Nacht ging es allein darum, sich des bewaffneten Beistands der Mountain Men aus dem Wolf-Clan und dem Bones-Clan zu versichern und zusammen mit ihnen Liberty 9 in ihre Gewalt zu bringen! Für alles andere blieb später noch Zeit genug.
Die beiden jungen Männer stiegen die dicht bewaldeten Hänge hinauf. Sie waren trainiert und doch lag bald ein feiner Schweißfilm auf ihren Gesichtern und ihr Atem beschleunigte sich. Immerhin hatten sie sich schon eine gute Stunde lang durch das stockfinstere Höhlenlabyrinth gekämpft, bevor sie in den Totenwald gelangt waren.
All ihre Sinne waren aufs Höchste angespannt. Sie hielten sich geduckt, nutzten jede natürliche Deckung und achteten mit größter Aufmerksamkeit darauf, nicht auf trockene Zweige zu treten. Geräusche drangen in der Nacht wesentlich weiter als am Tag. Schon ein lautes Knacken konnte sie verraten und Guardians auf ihre Spur locken. Deshalb blieben sie immer wieder für einen kurzen Moment stehen, lauschten angestrengt in die Dunkelheit und hielten Ausschau nach Guardians auf Nachtpatrouille.
Doch je höher sie kamen, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass eine Streife sich so weit bergauf und damit in das Revier der Mountain Men wagte, die in diesem Gelände jeden Stein, jeden Baum und jede Bodenrille kannten.
Als sie sich vorsichtig durch ein Gelände mit nur noch vereinzelten Mammutbäumen bewegten, zwischen denen viel hoch wucherndes Buschwerk wuchs, schätzte Dante, dass sie jetzt nur noch hundert, höchstens zweihundert Meter bis zu der buschumstandenen Felsgruppe hatten, wo Jedediah Wolf und seine Brüder auf sie warteten.
»Da oben ist es!« raunte er Carson zu und deutete schräg nach rechts, wo sich in einer Lücke zwischen zwei Bäumen graues Felsgestein abzeichnete.
Carson nickte stumm.
Augenblicke später schlichen sie an einem der Mammutbäume vorbei. Dreißig, vierzig Meter vor ihnen wuchs die Felsgruppe aus dem Waldboden.
Als Dante das leise metallische Klicken registrierte, ruhte schon der kalte Stahl einer doppelläufigen Schrotflinte auf seiner linken Schläfe.