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»Raus mit euch!«, rief Akahito den Libertianern zu. »Hier ist Endstation!«
Beklommen und voller Ungewissheit, was sie wohl hier in den Samurai Towers erwartete, kletterten sie aus dem Bus. Joetta hatte sichtlich große Schmerzen, als zwei Männer sie aus dem Bus trugen. Auch Marco biss tapfer die Zähne zusammen.
»Sieht mir ganz nach einer Tiefgarage aus«, raunte Dante, als sie sich in einer unterirdischen Halle aus nacktem grauem Beton wiederfanden. In Abständen von zehn, zwölf Schritten erhoben sich schwere Stützpfeiler.
Es herrschte Halbdunkel. Nur durch die Öffnung der Rampe fiel Licht zu ihnen herunter. In der Tiefe der Halle zeichneten sich vage Umrisse von anderen Fahrzeugen ab. Einige hatten die Silhouette eines Steamers.
»Hanzo! Akuma!«, brüllte Akahito in die Dunkelheit. »Schlaft ihr da hinten oder braucht ihr eine schriftliche Order vom Tai-Pan? Wie wär’s, wenn ihr endlich in die Pedale tretet! Licht, verdammt noch mal!«
Aus dem Dunkel kamen erschrockene Laute, sogleich gefolgt von einem sirrenden, rasch schneller und lauter werdenden Geräusch, und fast im selben Moment glomm unter der Decke eine Reihe von nackten Glühbirnen auf. Die Lampenkette führte zu einer Betoneinfassung in der Hallenmitte, in deren Längswand ein großes Ziehharmonikagitter eingelassen war.
Dahinter zeichnete sich die dunkle Kabine eines geräumigen Lastenaufzugs ab. Links neben der zusammenfaltbaren Gittertür standen zwei fahrradähnliche Pedalgestelle. Auf ihnen saßen zwei junge Männer und brachten die Dynamos zum Sirren. Drähte liefen von den Pedalgestellen zu drei hinter ihnen stehenden Batterien, von denen wiederum Drähte zu einem Stromkabel an der Decke aufstiegen.
»Dynamo und Muskelkraft statt Solarfeld – auch ’ne Methode, um an Strom zu kommen«, sagte Zeno beim Anblick der beiden Jungs, die etwa in seinem Alter waren und sich neben dem Lastenaufzug auf den Dynamomaschinen abstrampelten. »Na ja, im Mittelalter hätten sie vermutlich blutige Kriege geführt, um in den Besitz dieser Technik zu kommen.«
»Nicht nur im Mittelalter!«, bemerkte Akahito vielsagend und bedeutete ihnen, sich zum Lastenaufzug zu begeben.
Wenig später standen sie mit Akahito und Liang im Aufzug. Ihre sechs Alukisten wurden gebracht und an den Seiten gleichmäßig verteilt, damit ihr Gewicht den wankenden Bohlenboden nicht ungleich beschwerte. Joetta stützte sich auf die Zwillinge. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Und auch Marco sah bleich und von Schmerzen gepeinigt aus.
»Mehr packt die Winde nicht. Ihr müsst leider auf die nächste Fahrt nach oben warten – oder die Klettertour durchs Treppenhaus machen!«, rief er seinen Kameraden im Vorraum zu und erntete dafür spöttisches Gelächter sowie einige Gesten mit dem gestreckten Mittelfinger.
Während Liang das laut rasselnde Türgitter zuzog, drehte Akahito kräftig an einer Wandkurbel. Neben der Kurbel war ein kleiner, verkratzter Kasten mit einer Gegensprechanlage angebracht. Nach drei, vier schnellen Umdrehungen ließ er die Kurbel los und drückte die Sprechtaste. »Nagato, melde dich!« Er ließ die Taste los und wartete auf Antwort.
»Auf Posten, Akahito. Was steht an?«, schepperte es im nächsten Moment aus dem Lautsprecher.
»Schmeiß die Seilwinde an, ich brauche vollen Saft auf die Winde! Hast du gehört? Vollen Saft!«
»Welches Gewicht bringst du?«
»Wir sind hier zu dreizehnt plus sechs Kisten, die zwischen zwanzig und dreißig Pfund wiegen«, gab Akahito durch.
»Das packt die Maschine nicht! Dafür ist noch nicht genug Dampf im Kessel!«
»Na und, dann schick eben drei Männer zur Unterstützung auf die Pedale!«, forderte Akahito.
»Oder ihr lasst die Kisten zurück.«
»Kommt gar nicht infrage! Die Kisten haben Zahlenschlösser und sehen nach wichtiger Fracht aus, die Yakimura bestimmt sofort begutachten will. Also mach schon! Und sieh zu, dass die Jungs auch ordentlich in die Pedale treten. Bei so großer Last werden die Batterien nämlich schnell ausgelutscht sein, und ich will nicht wieder auf halber Strecke im Schacht hängen bleiben!«, gab Akahito warnend nach oben durch. »Ist das angekommen, Nagato?«
»Klar und deutlich. Ich schwing also die Peitsche! Ende!«, kam es zurück.
Sie mussten einige Sekunden warten. Dann sprang im Schacht dreißig Stockwerke über ihnen die Seilwinde an und ächzend setzte sich der Lastenaufzug in Bewegung. Im Schneckentempo glitten sie an den Ausgängen zu den Etagen vorbei. Die unteren Stockwerke sahen bewohnt aus. Sie hörten auch Stimmen von Männern, Frauen und Kindern und erblickten im Licht der nackten Glühbirne, die über ihren Köpfen an einem Kabel baumelte, in den Gängen hinter den Gittertüren Bretterregale, Blechtonnen, aufgestapelte Säcke, Möbelstücke, Werkbänke und andere derartige Hinweise, dass jenseits dieser Gitter Menschen lebten. Aber schon nach der siebten Etage blieben diese Anzeichen von Leben aus, und sie blickten in ausgestorbene Korridore, durch die ein warmer Wind Dreck und Staub wehte.
Der Lastenaufzug wurde immer langsamer. Der Windenmotor hatte spürbar Mühe, die Last nach oben zu ziehen. Mehrmals stockte die Seilwinde kurz. Auch die Glühbirne flackerte und drohte zu verlöschen. Gerade hatte sie nach mehrfachen derartigen Schwächeanfällen wieder ihre volle Leuchtkraft zurückgewonnen, als das Licht von einer Sekunde auf die andere ganz ausging und der Aufzug auf halber Höhe zwischen zwei Stockwerken stehen blieb.
Akahito hieb auf die Sprechtaste. »Nagato!«, brüllte er in die Gegensprechanlage. »Was ist los? Lass mich bloß nicht hängen! Ich hab dich gewarnt!«
»Reg dich ab, es geht gleich weiter! Müssen nur schnell die Reservebatterien zuschalten!«
Einige Augenblicke später zog die Winde tatsächlich wieder an, und ohne weitere Pannen ging es hinauf ins oberste Stockwerk. Dort wurden sie von einer gut dreißigköpfigen Menge sichtlich neugieriger Männer erwartet. Frauen oder Kinder waren keine zu sehen. Es waren zumeist jüngere, schlanke Männer, die alle die graue eng anliegende Kleidung der Drachenflieger trugen. Die etwas älteren waren mit Hemden und Hosen unterschiedlichster Art bekleidet. Verblichene T-Shirts sowie Jeans und derber Drillichstoff überwogen. Manche trugen auch ausgefranste Shorts.
Mitleidige Blicke trafen die zehn Libertianer und in dem Getuschel auf dem Gang fiel mehr als einmal das Wort Morituri. Jeder schien zu wissen, welches Schicksal Hyperion ihnen zugedacht hatte.
»Macht Platz, Leute! Lasst uns durch!«, rief Akahito leicht ungehalten. »Der Einsatz war ein voller Erfolg, und was er gebracht hat, das erfahrt ihr später. Ich kann es selbst noch nicht genau sagen, denn was in den Kisten ist, wissen wir noch nicht. Die haben Zahlenschlösser und wir müssen sie erst aufbrechen. Außerdem soll ich die Morituri unverzüglich zum Tai-Pan bringen! Also gebt den Durchgang frei und geduldet euch bis später!«
»Wird schon was zu feiern geben!«, fügte Liang hinzu und warf den Libertianern ein Grinsen zu, das so schwer zu deuten war wie Akahitos Gesicht.
»Takumi und Maito! Seht zu, dass diese beiden hier schleunigst zum Doc kommen«, forderte Akahito zwei Männer im Vorbeigehen auf und wies auf Joetta und Marco. »Das Bein des Mädchens muss geschient werden und es gibt ein paar Wunden zu säubern und zu nähen. Und sorgt auch dafür, dass die sechs Kisten gleich zum Tai-Pan ins Lagezentrum gebracht werden!«
Kendira sah ihre Freundin fragend an, während ihr Mund stumm das Wort Lagezentrum formte.
Nekia zuckte ratlos die Achseln.
Es ging vorbei an Türöffnungen rechts und links, die früher einmal in die einzelnen Wohnungen geführt hatten. Die meisten Türblätter fehlten. Einige Eingänge waren mit tuchverhängten Gittern oder blechverstärkten Brettertüren gesichert. Was sich dahinter verbarg, ließ sich so schnell nicht erkennen. Unzählige Risse und Spalten durchzogen die Korridorwände und überall blätterten Farbe und Putz ab. An nicht wenigen Stellen trat großflächig nacktes Mauerwerk hervor.
Hailey hatte noch immer kein Wort von sich gegeben.
»Dieser Akahito scheint hier den Ton anzugeben«, murmelte Flake hinter ihnen. »Muss ’ne große Nummer sein.«
»Klingt so, als wäre er der Mann gleich hinter dem Tai-Pan Yakimura«, fügte sein Zwillingsbruder leise hinzu. »Bin jetzt wirklich gespannt auf diesen Oberboss der Samurai!« Und nach einer kurzen Pause fügte er noch mit einem Stoßseufzer hinzu: »Hoffe mal, er steht nicht auf Harakiri und ähnlich unerfreuliche Praktiken dieser alten Kriegerkaste!«