55
Noch nie waren Kendira zweihundert, dreihundert Meter so endlos erschienen. Sie rannte und rannte, und doch schien das Tunnelkreuz in unerreichbarer Ferne zu bleiben, verschluckt von der erstickenden Finsternis des Abyss.
Von allen Seiten kam das hämmernde Dröhnen der Rohre. Der infernalische Lärm hielt sie gefangen und klang in ihren Ohren wie Hohn, wie eine bösartig gehämmerte Botschaft, dass sie nicht entkommen würden, ganz gleich wie schnell sie auch rannten. Es schien immer lauter zu werden, schwoll an wie ein Trommelwirbel vor einer Hinrichtung. Und obwohl sie mitten im Pulk ihrer Freunde durch den Tunnel hetzte, verließ sie nicht einen Augenblick das entsetzliche Gefühl, dass die Meute hinter ihnen unaufhaltsam immer näher rückte und sich die Augen der schauderhaften Kreaturen in ihren Rücken bohrten.
»Das Tunnelkreuz!«
Dustys Zuruf war wie eine Erlösung.
Im wild hin und her springenden Lichtschein der Taschenlampen sah Kendira, dass sich der Tunnel vor ihnen weitete und in ein sechseckiges Gewölbe überging. An diesem Knotenpunkt zweigten je zwei Seitengänge zu beiden Seiten des Haupttunnels ab. Und irgendwo hinter dieser Kreuzung lag die Rettung.
Dusty, Nekia und Zeno vor ihr feuerten blind rechts und links in die Seitentunnel, während sie durch das Gewölbe und hinüber auf die andere Seite des Haupttunnels rannten. Auch Fling, der links neben ihr lief, schickte zwei kurze Feuerstöße in die finsteren Seiteneingänge.
Schrilles Kreischen war die Antwort.
Fast im selben Moment, als sie nur noch zwei, drei Schritte bis zum rettenden Eingang des Haupttunnels hatten, schoss etwas, das wie ein Speer aussah, aus einem linken Seitentunnel.
Fling schrie getroffen auf und wurde gegen Kendira geschleudert, als sich der Speer mit mörderischer Wucht über der linken Hüfte in seinen Unterleib bohrte. Schreiend stolperte er noch in den Tunneleingang, dann brach er an der Wand zusammen. Seine Hände umklammerten den rostigen Stahl einer zweigezackten Harpune, deren langer, daumendicker Schaft in einem rechten Winkel aus seinem Körper ragte.
»Neeeiiin!«, schrie Flake und stürzte zu ihm.
Kendira würgte es bei Flings Anblick, aber nicht nur wegen des grauenhaften Anblicks. Es war die schreckliche Gewissheit, dass nun auch noch Fling hier unten sterben und in die Klauen der Tunnelratten fallen würde, die ihr den Magen umdrehte und sie fast in die Knie zwang.
Dante und Carson, die zusammen die Nachhut gebildet hatten, fuhren sofort herum und sicherten den Tunneleingang. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen, die sie gegen den Lauf ihrer Waffen gepresst hielten, folgten den Zielrichtungen der Gewehre. Jeder deckte eine Hälfte des Gewölbes ab. Sie begnügten sich mit kurzen Feuerstößen in die Seitentunnel und in den Hauptgang auf der gegenüberliegenden Seite.
»Sieht so aus, als müsstet ihr ohne mich weiter!«, stieß Fling mit schmerzverzerrter Miene hervor und brachte es sogar in dieser aussichtslosen, qualvollen Lage noch fertig, mit Galgenhumor hinzuzufügen: »Ich leg hier mal eine kleine Atempause ein.«
»Niemals! Ich lasse dich nicht hier zurück!«, erwiderte Flake mit verzweifeltem Aufbegehren gegen das Unabänderliche und befreite ihn so behutsam wie möglich von seinem Rucksack.
»Red … keinen Unsinn!«, keuchte Fling, und seine Worte kamen nun abgehackt. »Ich mache … keinen Schritt mehr, und komm bloß nicht … auf die idiotische Idee, mich … mich schleppen zu wollen! Damit rettet … ihr mich nicht, sondern macht die … die Qual nur noch schlimmer.«
Verzweifelt blickte Flake seinen Bruder an. Tränen füllten seine Augen. »Du bist mein kleiner Bruder, Fling«, sagte er mit erstickter Stimme, »und ich werde dich hier nicht allein sterben lassen, das schwöre ich dir!«
Nein, nach Hailey nicht auch noch Fling und Flake!, schrie es in Kendira, und ihr war, als bohrte sich ein eisiges Messer in ihr Herz. Denn sie wusste, dass es ihm ernst damit war und er seinen Bruder unter keinen Umständen sterbend an diesem Ort zurücklassen würde.
Dusty trat zu ihnen. Sein Gesicht sah seltsam grau aus und war von Erschöpfung gezeichnet, doch seine Miene war hart und unerbittlich. »Du musst es tun, und du weißt das so gut, wie es dein Bruder weiß«, sagte er schwer atmend und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Keiner kann so eine Verwundung überleben. Noch nicht einmal in einem Krankenhaus in Presidio, geschweige denn in einer von unseren armseligen Krankenstationen, selbst wenn es eine in der Nähe gäbe.«
»Nein, ich muss es nicht und ich werde es auch nicht tun!«, widersprach Flake heftig. »Ich lasse meinen Bruder nicht allein. Wir bleiben zusammen – bis zum Ende. Und wenn unser Ende hier kommen soll, dann soll es eben so sein! … Dante, Carson, einer von euch muss den Rucksack meines Bruders mitnehmen. Und nehmt auch unsere Gewehre. Ihr werdet das Zeug brauchen.«
In maßloser Erschütterung und Hilflosigkeit blickten Dante und Carson zu den Zwillingen hinüber, hängten sich die zusätzlichen Gewehre über die Schulter und nickten stumm. Dann wandten sie sich wieder um und jagten in ohnmächtiger Wut Schüsse in die Tunnel.
Kendira wollte schreien und weinen zugleich. Sie tat nichts von beidem. Sie biss sich so hart auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte und unter dem scharfen Schmerz zusammenfuhr.
»Dein Heroismus in Ehren, aber mit dieser noblen Selbstaufopferung …«, setzte der Runner zu einer Erwiderung an.
Flake sah ihn mit einem flammenden Blick an, der seine unbeugsame Entschlossenheit verriet, und fiel ihm scharf ins Wort. »Ich tue, was ich für richtig halte, und keiner wird mich davon abbringen können. Keiner – und du schon gar nicht, ist das klar?«, stieß er hervor und zerrte sich nun seinen Rucksack von der Schulter. »Also halte dich nicht länger mit unnützen Reden auf, Runner, sondern erledige deinen verdammten Job, für den wir dich bezahlt haben, und bring den Rest von uns zu Major Marquez!«
Im Gesicht des Runners spannten sich die Wangenmuskeln, als er die Zähne hart aufeinanderpresste. Dann nickte er knapp. »Okay, es ist deine Entscheidung.«
»Da hast du verdammt recht! Endlich sind wir einer Meinung!«, knurrte Flake und holte mehrere Sprengstoffpakete hervor.
»Was … was soll das werden, Flake?«, stieß Zeno heiser und verstört hervor.
»Ich werde den verfluchten Tunnel samt dem Gewölbe da in die Luft sprengen, was dachtest du denn?«, gab Flake grimmig zurück und legte zwei Zünder zu dem Plastiksprengstoff. »Mich und meinen Bruder werden die Tunnelratten jedenfalls nicht in ihre dreckigen Klauen bekommen, da könnt ihr sicher sein! Und ich wünschte, wir hätten Zeit gehabt, um auch Hailey auf diese Weise ein halbwegs anständiges Grab zu verschaffen.« An Dusty gewandt, fragte er: »Gibt es hier in der Nähe einen Ausstieg?«
Dusty schüttelte den Kopf. »Nein, das heißt, es gab mal einen, aber der ist seit Langem verschüttet.«
»Wie weit ist es dann von hier bis zu dem Ausstieg, von dem du gesprochen hast?«
Fling krümmte sich an der Wand und stöhnte. Sein Overall unterhalb der beiden Harpunenzacken war mit Blut durchtränkt. Der Tod kam, aber langsam und qualvoll.
Der Runner überlegte kurz. »Etwa einen knappen halben Kilometer. So genau kann ich es nicht sagen.«
Flake nickte, warf einen schnellen Blick auf seinen Bruder und knetete die formbare Masse der beiden Pakete Plastiksprengstoff zusammen. »Ich gebe euch drei Minuten. Das muss reichen, wenn ihr nicht herumtrödelt«, sagte er, und ein schwaches, spöttisches Lächeln flog über sein Gesicht. Rasch stellte er beide Zünder auf drei Minuten ein, warf dann dem Runner eine Box zu, während er die andere mit dem Sprengstoff verband. »Ich will, dass wir es schnell hinter uns haben. Ihr werdet euch beeilen müssen.«
Die Vorstellung, dass Flake sich in wenigen Minuten hier tief unten im Abyss mit Fling in die Luft sprengen würde, wirkte auf Kendira wie ein fürchterlicher körperlicher Schmerz. »Flake …!«, stieß sie gequält hervor und wollte zu ihm.
Hastig sprang Flake auf, wich ihr und auch den anderen fast erschrocken aus, als fürchtete er, jeden Moment die Beherrschung über sich zu verlieren, und presste hastig die Sprengstoffmasse mit dem Zünder in den Spalt zwischen zwei Deckenrohren. »Los, verschwindet! Hier gibt es nichts mehr für euch zu tun! Rettet euch – und rettet unsere Freunde aus der Strahlenhölle, damit das alles nicht … nicht vergebens und sinnlos gewesen ist!«, rief er ihnen mit zitternder Stimme zu und schaltete den Zünder zwischen den Rohren ein. »Rennt, die Zeit läuft!«
Sofort schaltete auch Dusty den Zünder ein, den Flake ihm zugeworfen hatte. In roten, blinkenden Ziffern, die im Sekundentakt aufleuchteten, zeigte das Display die bis zur Explosion verbleibende Zeit an: 02:59 … 02:58 … 02:57.
»Worauf wartet ihr?«, schrie Flake sie flehend und mit einem Gesichtsausdruck an, in dem all seine Todesangst und hoffnungslose Verzweiflung lagen. Er riss seine Automatik aus dem Halfter und machte eine Geste, als wollte er gleich das Feuer auf sie eröffnen. »Haut endlich ab! Rennt! … Verdammt noch mal, rennt! Rettet euch!«
Kendira wollte ihm noch zurufen, dass sie ihn und Fling nie vergessen würde. Aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, nicht ein Wort brachte sie heraus. Doch was sie innerlich fast zerriss und was sie ihm sagen wollte, aber nicht herausbrachte, und wofür auch gar keine Zeit mehr blieb, es stand in ihren von Tränen überschwemmten Augen.
Flake schien zu verstehen, was sie ihm in diesem letzten Moment noch mitteilen wollte. Denn als sich ihre Blicke kurz trafen, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, und er nickte ihr zu, als wollte er sagen: »Nimm es nicht so schwer, so bitter es auch ist. Es ist gleich vorbei. Und ich bereue nicht, dass wir mitgekommen sind. Bringt ihr es jetzt zu Ende.«
Dann stieß jemand sie hart von hinten an und sie rannte mit den anderen den Haupttunnel hinunter.
Dusty schrie ihnen alle zwanzig Sekunden die Zeit zu, die ihnen noch blieb, um den Ausstieg vor der Explosion zu erreichen. Niemand wusste, wie gewaltig die Druckwelle sein würde, die dann durch den Tunnel raste. Vielleicht riss sie die Druckwelle zu Boden und zerfetzte ihnen die Trommelfelle. Gut möglich aber auch, dass die Welle einen dichten Hagel aus Steinen mit sich bringen und tödlich sein würde!
Sie rannten um ihr Leben.
Mehrmals hörten sie, wie Flake Schüsse abgab. Das Aufbellen seiner Automatik war das letzte Lebenszeichen der unzertrennlichen Zwillinge, unzertrennlich bis in den Tod.
Neunzehn Sekunden vor der Explosion erreichten sie den Ausstieg.
»Hier!«, brüllte Dusty und blieb vor einer rostbraunen Eisentür stehen, die sich kaum vom schmutzigen Ziegelbraun des alten Mauerwerks abhob. Sie wären daran vorbeigerannt, ohne sie wahrzunehmen.
Er riss die Tür auf und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf eine Eisentreppe, die am Ende des kurzen Vorraums nach oben führte. Dabei schrie er ihnen zu, hinauf in den großen Raum zu rennen, in den die Treppe mündete, sich dort in die hinterste Ecke zu flüchten, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu werfen und den Kopf mit dem Tornister, zumindest jedoch mit den Armen zu schützen. »Und lasst bloß den Mund offen, sonst zerreißt es euch die Trommelfelle!«
In panischer Hast stürzten sie die Treppe hoch.
»Zehn Sekunden!«, brüllte der Runner unten, der als Letzter aus der Todesbahn des Tunnels flüchtete, und knallte die Tür hinter sich zu.
Der herumschwingende Rucksack ihres Vordermannes schlug Kendira die Taschenlampe aus der Hand. Sie polterte über die Gitterroste der Stufen. Kendira unternahm nicht einmal den Versuch, innezuhalten und nach der Taschenlampe zu suchen. Sie folgte dem flackernden Schein vor ihr und taumelte in einen großen, finsteren und muffigen Raum. Irgendetwas Haariges geriet ihr zwischen die Beine. Sie nahm es kaum wahr.
»Drei!«, gellte Dusty. »Runter! Runter!«
Kendira warf sich zu Boden. Sie schlitterte über Dreck und Staub. Ihre Maschinenpistole, die ihr im Fallen am Gurt von der Schulter gerutscht war, schlug ihr schmerzhaft hart gegen den Hüftknochen, und der Lauf traf sie wie ein Faustschlag am Kinn. Sie hörte sich aufschreien. Keine Zeit mehr, die Gurte des Rucksacks zu lockern und ihn sich über den Kopf zu zerren. Sie warf die Arme hoch, verschränkte sie über dem Kopf und riss den Mund weit auf.
Und dann explodierte auch schon der Sprengstoff.
Die Detonation klang wie das dunkle Aufbrüllen eines Giganten, der tödlich getroffen aufschrie und sich ein letztes Mal mit Riesenkräften im Tunnel aufbäumte und den Abyss dabei in Stücke riss.
Der Boden bebte und wölbte sich unter Kendira. Ihr war, als müsste jeden Moment der Beton unter ihr aufbrechen und sie unter die Decke geschleudert werden. Das Mauerwerk um sie herum ächzte und knirschte, als würden Dutzende riesiger Sägeblätter versuchen, sich durch die Wände zu fressen. Ein Sturmwind heulte wie ein tausendstimmiger Geisterchor durch den Treppenaufgang, fegte durch den Raum, wirbelte Staubwolken auf und ließ sie husten.
Dann trat Stille ein.
Unwirkliche, beklemmende Stille.
Selbst das Husten verstummte.
Überlebt.
Sie hatten überlebt.
Und Fling und Flake waren tot. In Stücke gerissen und unter unzähligen Tonnen Gestein und Erdreich begraben.
Langsam, wie in Zeitlumpe, rollten sie sich herum und setzten sich dort auf, wo sie sich hingeworfen hatten. Mehrere Taschenlampen lagen im Raum herum. Sie schickten ihr Licht über den Boden, zur Decke hoch, an die Wände. Einige Lichtbahnen kreuzten sich. Durch die hellen Schneisen, die sie in die Finsternis schnitten, tanzte der Staub.
Keiner sagte etwas.
Kendira hörte jemanden schluchzen. Das Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie wollte es unterdrücken, doch sie kam nicht dagegen an. Ihre Schultern begannen unkontrolliert zu zucken.
Ein Arm legte sich um sie. Es war Dante. Sanft zog er sie an sich und nahm sie schützend in die Arme. Sie sank an seine Brust und wehrte sich nun nicht länger gegen ihre Tränen und ihr verzweifeltes Schluchzen, das aus ihr herausbrach.
Dass Carson sich erhoben hatte und zu ihr wollte, nahm sie hinter ihren dichten Tränenschleiern nicht wahr. Wie es ihr auch entging, dass Dante ihm einen unbeugsamen, stechenden Blick entgegenschickte und Carson im Schritt innehielt, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Sie weinte hemmungslos, während sich die beiden zwei, drei Sekunden lang stumm mit Blicken duellierten – und Carson schließlich geschlagen den Blick senkte, sich umwandte und mit hängenden Schultern an seinen Platz an der Wand zurückkehrte.