EPILOG
Der Fremde hielt vor dem Pförtnerhaus und betätigte die Glocke, die am Türpfosten befestigt war. Zu LZ dem Kopf mit dem quadratischen Hut, das anschließend aus dem winzigen Fenster herausragte, sagte er: »Schatzmeister Cakebread, wenn es Ihnen recht ist.«
»Und wer seid Ihr?«, verlangte der Pförtner zu wissen.
»Flinders-Petrie.«
»Oh!«, rief der stämmige, kleine Mann aus. »Es tut mir sehr leid, Sir. Ich habe Sie nicht wiedererkannt.« Er hetzte aus dem Häuschen. »Hier entlang, Sir, wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«
Der Besucher wurde durch das Tor geführt und entlang des inneren Kolleghofs zum Büro des Schatzmeisters von Christ Church. Der Pförtner klopfte an die Tür, und eine Stimme aus dem Inneren rief: »Herein!«
Der Besucher dankte dem Pförtner, nahm den Hut ab und öffnete die Tür. »Cakebread, nicht wahr?«
»Der bin ich, Sir. Der bin ich. Mit wem habe ich das Vergnügen zu reden, wenn ich so kühn sein darf, zu fragen?«
»Ich bin Douglas Flinders-Petrie«, erklärte der Besucher. »Ich denke, dass Ihr meine jüngste Korrespondenz bekommen habt.«
»Ah! Mr Flinders-Petrie! Allerdings, Sir. Erst gestern habe ich Euren Brief erhalten. Bitte, kommt herein und setzt Euch.« Er geleitete den Besucher in seine gemütliche Bürostube. »Darf ich Euch Sherry anbieten?«
»Habt Dank, nein. Mein Besuch in Oxford ist bedauerlicherweise viel zu kurz. Innerhalb einer Stunde muss ich wieder abreisen, doch ich wollte Euch sehen, bevor ich gehe.«
Der Schatzmeister setzte sich hinter seinen Tisch, auf dem sich die Geschäftsbücher und Unterlagen stapelten. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Sir?«
»Wie ich in meinem Brief mitgeteilt habe, bin ich in den Genuss einer beträchtlichen Erbschaft gekommen und möchte an einem College in Oxford einen Lehrstuhl stiften, der nach meinem verstorbenen Großvater benannt werden soll, dem Philosophen und Forscher Benedict Flinders-Petrie. Vielleicht habt Ihr von ihm gehört?«
»Und wer hat das nicht, Sir? Ich frage mich selbst - wer hat nicht von dem berühmten Flinders-Petrie gehört? Seine Spenden für unsere Institution sind zudem wohlbekannt, Sir - wohlbekannt.«
Douglas lächelte. »Wie Ihr Euch vorstellen könnt, werde ich die Unterstützung von jemandem benötigen, der im College eine strategisch günstige Stelle innehat, um die Abwicklung dieses Verfahrens zu unterstützen. Jemand, der den Antrag durch die geeigneten Kanäle steuert und verhindert, dass er sozusagen auf Grund läuft.« Er griff in eine große lederne Geldtasche hinein und zog einen Sack mit Münzen heraus. Nachdem er ihn aufgebunden hatte, begann er, Gold-Sovereigns auf die Handfläche zu legen und sie zu zählen. »Natürlich bin ich bereit, die Person zu belohnen, die diesen Auftrag für mich übernimmt.«
Der Schatzmeister starrte voll Staunen auf die glänzenden Münzen. »Es versteht sich ganz von selbst, wie ich hoffe, dass ich bereit stehe, Euer Vorhaben voll und ganz zu unterstützen.«
»Glänzend«, erwiderte Douglas. »Ich bin sehr froh, das zu hören.« Er legte einen hübschen Stapel Münzen auf den Tisch. »Wir werden dies bloß als eine erste Anerkennung betrachten«, erklärte er und schob das Geld zum Schatzmeister hin. »Sobald der Lehrstuhl eingerichtet ist, werde ich natürlich jemanden brauchen, der für seinen Erhalt Hilfe leistet. Und ich bin bereit, dafür eine noch größere Anerkennung zu zeigen.«
»Mehr muss man dazu nicht sagen, Sir. Mehr muss man dazu nicht sagen.«
»Gut.« Douglas Flinders-Petrie erhob sich, um zu gehen. Unvermittelt lehnte er sich über den Schreibtisch; seine schlaksige Figur türmte sich über dem untersetzten Schatzmeister. »Ich wusste, dass ich auf Euch rechnen könnte, Mr Cakebread - geradeso wie ich weiß, dass ich auf Eure völlige Diskretion zählen kann.«
»Das ist doch selbstverständlich, Sir. Ist doch selbstverständlich.« Der Schatzmeister erhob sich ebenfalls und folgte dem Gast zur Tür. »Gibt es sonst noch irgendetwas, Sir? Irgendetwas sonst?«
»Nein, ich glaube nicht ...«, begann Douglas und hielt dann inne. Als ob er eine plötzliche Eingebung bekommen hätte, fügte er hinzu: »Jetzt, da Ihr es erwähnt, glaube ich, dass ich irgendeinen sicheren Ort benötigen werde, um verschiedene Sachen aufzubewahren - wichtige Dokumente, Urkunden und Ähnliches -, die eingesetzt werden, um meinen Antrag für den Stiftungslehrstuhl zu unterstützen.«
»Gewiss, Sir«, sagte der Schatzmeister, der sich von seiner umgänglichsten Seite zeigte. »Ich habe genau einen solchen Ort.«
»Denkt Ihr, dass ich ihn jetzt sehen könnte?«
»Selbstverständlich, Sir.« Schatzmeister Cakebread eilte zum Tisch zurück und holte einen Schlüsselring. »Ich kann ihn Euch auf der Stelle zeigen; er ist in der Krypta der Kapelle.«
Douglas wurde zur Kapelle des College geführt und dann hinunter in die Krypta, wo er im flackernden Licht einer hastig entzündeten Fackel einen kleinen trockenen Raum mit einem Tisch sah, an dessen Wänden sich Holztruhen und eiserne Schatullen reihten.
»Ja«, meinte er anerkennend. »Das wird seinen Zweck gut erfüllen. Gibt es eine Kiste, die ich vielleicht nutzen kann?«
»Diese hier ist leer, Sir«, antwortete der Schatzmeister und hantierte an dem großen Eisenring, um den Schlüssel zu finden.
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Douglas und befreite ihn von dem Schlüsselring. »Wenn Ihr nichts dagegen habt, oben auf mich zu warten ... Ich werde ihn schon alleine finden.« Er lächelte und begleitete den Schatzmeister zur Tür. »Es wird nicht länger als einen Moment dauern. In Eurem Büro werde ich wieder zu Euch stoßen.«
»Wie Ihr wünscht, Sir; wie Ihr wünscht«, erwiderte Cakebread. »Ich werde dann oben auf Euch warten. Bitte, lasst Euch Zeit.«
Douglas schloss die Tür hinter dem Schatzmeister und lauschte, bis er die Schritte des Mannes auf den Stufen hörte. Dann ging er direkt auf eine Schatulle in einer der Ecken zu. Nach ein paar Versuchen fand er den Schlüssel, der passte. Er schloss die Kiste auf und öffnete sie. Darin erspähte er zwischen einigen zusammengeschnürten Pergamenten und Schriftrollen ein in ein Tuch gewickeltes Bündel. »Endlich«, flüsterte er. »Ich habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um dich zu finden.«
Er nahm es hoch und legte es auf den Tisch in der Nähe. Dort zog er das Tuch weg - seine Finger zitterten dabei vor unterdrückter Aufregung - und enthüllte eine lange, unregelmäßig geformte Pergamentrolle, die von einem schwarzen Band zusammengehalten wurde. Das Pergament hatte eine so feine, papierartige Beschaffenheit, dass es fast durchsichtig war. Vorsichtig - unendlich vorsichtig - löste er das Band und rollte einen Teil des Pergaments auf. Es zeigte sich eine Anzahl von strahlend blauen Symbolen, die in die Rolle eingraviert waren.
»Guten Tag ... Großvater?«, sagte er. »Bin ich erfreut, dich kennenzulernen? Du hast ja keine Ahnung ...«
Dann - als ob er fürchtete, belauscht zu werden - zog er rasch aus einer Innentasche seines Mantels eine Rolle aus dickerem Pergament, verschnürte sie mit dem Band und wickelte sie in das Tuch. Die vertauschte Rolle legte er in die Schatulle, die er wieder verschloss. Zum Schluss verstaute er das entwendete Pergament in die Innentasche und verließ den Raum.
Als er aus der Krypta auftauchte, wartete oben Schatzmeister Cakebread auf ihn. »Ich hoffe, Ihr habt alles zu Eurer Zufriedenheit gefunden, Sir?«
»Alles war so, wie ich es erwartet habe«, antwortete Douglas und gab dem Schatzmeister den Schlüsselring zurück. »Ich werde irgendwann in Kürze zurückkommen. Ich vertraue darauf, dass Ihr meine Besuche für Euch behalten werdet - bis zu dem Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntmachung des Lehrstuhls.«
»Meine Lippen sind versiegelt, Sir.«
»Dann wünsche ich Euch noch einen guten Tag, Schatzmeister Cakebread.«
»Und ich Euch auch, Sir. Und ich Euch auch.«
Nachdem er das College verlassen hatte, spazierte Flinders-Petrie die Straße entlang Richtung Cornmarket Street. Als er sich Carfax näherte, sah er, dass sich rund um einen kleinen Einspänner eine Menschenmenge auf der Straße versammelt hatte. Er verlangsamte den Schritt, während er näher herankam, und erkannte, dass es einen Unfall gegeben hatte: Ein kleiner Junge war geschlagen und auf der Straße überfahren worden. Der kleine Bursche blutete aus einer Schnittwunde an der Seite seines Gesichts und weinte. Doch er saß aufrecht, und ein paar Stadtbewohner kümmerten sich um ihn. Ein wenig abseits stand ein anderer kleiner Junge; und es war das außergewöhnliche Erscheinungsbild dieses Burschen, das Douglas' Interesse weckte.
Der Junge, der in dreckige Lumpen gekleidet, schmutzig im Gesicht und barfüßig war, hatte einen Kopf, der zwei Größen zu dick war für seinen kleinen, stämmigen Körper. Dies, zusammen mit dem hellen flachsblonden Haar und den winzigen, schieferfarbenen Augen, verlieh ihm ein beinahe übernatürliches Aussehen. Er stand da und blickte finster auf den verletzten Jungen. Offensichtlich hasste er den anderen mit jeder Faser seines Körpers, der noch recht klein war, denn er konnte nicht älter als sechs oder sieben Jahre sein.
Da sein Interesse geweckt war, hielt Douglas an. »Was ist hier passiert?«
Einer der Schaulustigen, die ihm am nächsten standen, antwortete: »Der da hat 'n anderen vor d' Kutsch' jestoßen, der kleine Teufel. Hätt' 'n am liebsten getötet. Zum Glück hat d' Kutscher dat jeseh'n und jebremst.«
»Ist er verletzt?«
»Glaub' nich'. Hat 'nen fiesen Stoß bekommen, schätz' ich.«
Auf einmal - während die Leute noch über die Situation sprachen - schritt der seltsam aussehende Raufbold vor und trat seinem jungen Widersacher gegen den Kopf. Der verletzte Junge brach zusammen, woraufhin sein Angreifer ihn erneut trat - und ihm auch weiterhin direkt vor den Augen der Schaulustigen Tritte verpasst hätte, wenn er nicht grob weggezerrt worden wäre.
»He, du!«, brüllte der Mann, der den Jungen zurückgezogen hatte. »Hör damit auf! Jemand sollte den Büttel rufen!«
»Das wird nicht notwendig sein«, sagte Douglas Flinders-Petrie und zwängte sich durch die Menschenmenge. »Ich werde die Verantwortung übernehmen.«
Er lief rasch zu dem vor Hass brennenden Jungen und stellte sich zwischen ihm und der Menge. »Hör mir gut zu, du kleines Gossenkind«, zischte Douglas, während er sich über den Bengel beugte. »Komm jetzt mit mir, wenn du nicht im Zuchthaus landen willst.« Dann nahm er den Jungen an der Hand und begann, ihn wegzuführen.
»He, Ihr da!«, rief einer der Städter. »Ihr kennt diesen Knaben?«
Douglas dreht den Kopf. »Ja!«, antwortete er laut über die Schulter und marschierte weiter. »Es ist alles in Ordnung.«
»Seid Ihr sein Vater?«, schrie ein anderer Schaulustiger.
»Ja«, erwiderte Douglas und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Jetzt bin ich es.«