SIEBTES KAPITEL
Der peitschende Regen und ein heftiger Windstoß ließen Wilhelmina in einer trüben Pfütze zurück. Keuchend stand sie da, nass bis auf die Haut. Mit dem Handrücken wischte sie sich das Wasser aus den Augen und schaute sich um. Doch augenblicklich schloss sie wieder die Lider - eine instinktive Reaktion und der verzweifelte Versuch, die Kontinuität ihrer Wahrnehmungen aufrechtzuerhalten, angesichts einer Veränderung, die so einschneidend war, dass sie die Wirklichkeit selbst in Stücke zersplittern ließ.
London war verschwunden.
Anstelle der lebendigen, ständig weiter aufstrebenden Metropole mit ihren gewaltigen Menschenmengen war um Wilhelmina herum eine ländliche Wildnis: regennasse braune Felder und ein herbstlicher Himmel mit tief stehenden Wolken. Während dieses kürzesten aller Blicke hatte sie genug gesehen, um eines zu wissen: Was auch immer ihr widerfahren war, es bedrohte nicht nur ihr eigenes Selbstverständnis, sondern auch ihr gesamtes Weltbild. Es war ein fürchterlicher Schock, und in dieser Verfassung verhielt sie sich so, wie es jeder andere auch täte: Ihr Mund öffnete sich, und sie begann zu schreien.
Sie legte den Kopf in den Nacken und jammerte laut; dem Himmel öffnete sie ihre Seele und heulte ihr Entsetzen in alle vier Winde hinaus. Sie schrie und schrie immer weiter, bis schwarze Punkte vor ihren Augen tanzten. Und selbst dann hörte sie nicht auf zu schreien, in lauten, abgehackten, hässlichen Explosionen, welche die Luft zerrissen und ihr Gesicht rot anlaufen ließen. Als sie schließlich nicht mehr schreien konnte, ballte sie ihre Hände zu Fäusten und stampfte mit den Füßen auf. Mit ihren Stiefeln spritzte sie den Matsch hoch, bis ihre Kräfte schließlich verbraucht waren und sie zusammensackte. Sie verfiel in ein Wimmern und Stöhnen und vergoss Tränen wegen ihrer zerstörten Welt.
Ein Teil ihres Verstandes hielt hartnäckig Abstand zum Rest ihrer Persönlichkeit und weigerte sich, dem Wahnsinn zu erliegen. Schließlich setzte sich dieses pragmatische Bewusstsein durch und sagte doch tatsächlich: Reiß dich zusammen, Mädchen. Du hast einen üblen Schock erlitten. Okay. Aber was wirst du jetzt deswegen unternehmen? Willst du den ganzen Tag im nassen Dreck sitzen und wie eine Zweijährige ausflippen? Es ist kalt hier draußen; du wirst dich zu Tode frieren. Nimm deine fünf Sinne zusammen und ergreif die Initiative.
Zunächst schüttelte sie das Wasser von ihren Händen. Dann ging sie auf die Knie, drückte ihre Hände ins Kreuz und sah sich um. Ein rascher, prüfender Blick bestätigte ihr, dass sie sich auf einem einfachen Weg befand, der mitten durch eine trostlose Landschaft aus kultivierten Feldern führte, und dass sie mutterseelenallein war.
»Kit?«, rief sie.
Nur das einsame Krächzen einer niedrig fliegenden Krähe.
Wenn ich den Kerl in die Finger kriege, dachte sie und erhob sich unsicher auf ihre Füße. Ich zerschneide ihn ganz kleine Stücke. »Kit!«, brüllte sie - und dann traf es sie unvermittelt: Wie eine Flutwelle stieg der Brechreiz in ihr hoch, sodass sie sich mitten auf dem Weg übergeben musste. Sie erbrach noch ein weiteres Mal, und dann fühlte sie sich besser. Mit ihrem Jackenärmel wischte sie sich den Mund ab und stapfte anschließend auf eine Feldmarkierung zu, die sie in einiger Entfernung erkennen konnte.
Während sie so vor sich hin marschierte, sagte sie sich selbst, dass etwas sehr Seltsames passiert und alles die Schuld ihres Freundes, dieses Versagers, sei - was auch immer der Hintergrund dieser unerklärlichen Vorgänge sein mochte. Dieser Gedanke tröstete sie nicht so sehr, wie sie vielleicht gehofft hatte, und auch auszumalen, was sie alles mit ihm anstellen würde, wenn sie ihn zu fassen kriegte, half ihr nicht wirklich weiter. Die ungeheure Fremdartigkeit ihrer nie für möglich gehaltenen Situation ließ alles andere klein und unwichtig erscheinen.
Menschen sprangen nicht einfach so von einem Ort zu einem völlig anderen - ohne dass irgendetwas dazwischen war. So etwas gab es nicht. Sie war sich sicher gewesen, dass Kit irgendwas im Schilde geführt hatte. Aber niemals - nicht einmal eine Nanosekunde lang - hatte sie sich vorgestellt, dass er möglicherweise irgendeine durchgeknallte Version der Wahrheit erzählen würde. Und dennoch: Hier war sie nun mitten im Nichts - fortgerissen aus den Straßen der Großstadt, in denen es von Menschen nur so wimmelte, und abgesetzt auf einem einsamen Landweg. Es war mehr oder weniger so, wie Kit behauptet hatte. Somit musste dies Cornwall sein. Oder Devon.
Sie erreichte den Markierungsstein und hielt an. Nichts anderes war zu sehen als leicht gewellte Hügel, von denen einige mit Wald und andere mit Gras bedeckt waren, und gepflügte Felder, die sich in alle Richtungen ausdehnten. Sie hatte keine andere Wahl, als weiterzugehen, bis sie ein Bauernhaus oder ein Dorf erreichen würde. Dort könnte sie irgendjemanden fragen, ob sie ein Telefon benutzen dürfe, um sich ein Taxi zu rufen.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper und trottete weiter. Nach einer kleinen Weile sah sie einen jener altmodischen hölzernen Wegweiser mit mehreren Schildern, die in verschiedene Richtungen zeigten. Bei diesem Anblick machte ihr Herz einen Sprung, und sie legte einen Schritt zu. Während sie darauf zueilte, erkannte sie, dass der Wegweiser sich an eine Art größerer Landstraße befand. Zumindest besaß sie eine Straßendecke, bestehend aus viereckigen Pflastersteinen, die von Hand gelegt worden waren.
Mina trat an den Wegweiser heran, um die Angaben darauf zu lesen. Die verblasste Schrift war in zwei Sprachen, von denen sie keine erkannte. Das ist bestimmt Kornisch, dachte sie, und eine damit verwandte Sprache. Vielleicht Gälisch? Oder waren diese beiden Sprachen gleich? Wie dem auch sei, die Entfernung zum nächsten Ort, der auf dem grau gewordenen, verwitterten Wegweiser angezeigt wurde, war mit »12« angegeben. Wahrscheinlich waren Meilen gemeint. Oder etwa Kilometer? Sie hoffte, dass es Kilometer waren.
Dessen ungeachtet war sie entschlossen, ihre verstörende Zwangslage zu beenden und die nächste menschliche Wohnstätte zu finden. Sie betrat die Landstraße und marschierte in die Richtung, die der Wegweiser anzeigte. Nach vielleicht zwei oder drei Meilen vernahm sie ein Geräusch hinter sich: ein langsames, beständiges Knarren und Klappern. Sie drehte sich um und sah einen Pferdewagen, der über die Straße auf sie zugerollt kam. Offensichtlich ein Bauer, fuhr es Mina durch den Kopf. Sie blieb stehen mit der Absicht, den Wagen anzuhalten und eine Mitfahrgelegenheit zu erbitten - ganz gleich, wohin es ging.
Als das Gefährt näherkam, sah sie, dass es sich nicht, wie sie zuerst geglaubt hatte, um ein einfaches Fuhrwerk für die Feldarbeit handelte: Es war vielmehr ein größeres, hochbordiges Fahrzeug mit einem Leinenverdeck, das über gebogene Reifen gezogen worden war, sodass es eine runde, zeltähnliche Bespannung bildete. Eine Art Planwagen, wie aus dem Wilden Westen. Der Wagen wurde zudem nicht nur von einem Tier gezogen, sondern von zwei Mauleseln, die lange Beine und Ohren hatten. Auf der Fahrerbank saß ein beleibter Mann mit einem ausgebeulten Hut aus Leinen. Sie winkte, woraufhin das Gefährt langsamer wurde und schließlich neben ihr stehen blieb.
»Hallo!«, rief sie und bemühte sich, recht munter dabei zu klingen. Sie hoffte, dass so ihr nasses, schmutziges Äußeres vielleicht übersehen würde.
»Guten Tag«, antwortete der Mann auf Deutsch, sodass sich Wilhelmina augenblicklich in ihre Kindheit und in die Küche ihrer deutschen Großmutter zurückversetzt fühlte.
Die unerwartete, kuriose Begegnung mit einem Deutschsprachigen auf der Landstraße führte dazu, dass sich ihre ohnehin schon abgrundtiefe Verwirrung noch mehr verstärkte. Sie war zunächst völlig sprachlos und starrte den Mann nur an.
Der Fremde schien zu glauben, dass sie ihn nicht verstanden hatte, denn er wiederholte lächelnd seinen Gruß.
»Guten Tag«, erwiderte Mina in derselben Sprache und dachte angestrengt nach, um sich an ihre lange nicht mehr benutzten Deutschkenntnisse zu erinnern. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Die deutschen Wörter fühlten sich irgendwie klumpig und hölzern in ihrem Mund an, und ihrer Zunge widerstrebte es, solche Laute zu bilden. »Sprechen Sie Englisch?«
»Es tut mir leid - nein«, antwortete der Mann weiterhin auf Deutsch. Er beäugte sie neugierig, vor allem ihre seltsame Kleidung und ihr kurzes Haar. Dann drehte er sich auf seinem Sitz herum und suchte mit den Augen die Straße nach beiden Richtungen ab. »Seid Ihr alleine hier?«
Sie brauchte einen Moment, um den Sinn der Frage zu verstehen; doch dann kamen die Wörter wie aus sehr großer Entfernung zu ihr zurückgeflogen. »Ja«, antwortete sie auf Deutsch. »Alleine.«
Der dicke Mann nickte. Anschließend sprudelte aus seinem Mund ein ziemlich langer Satz hervor, der Wilhelmina erneut in ihre Kindheit entrückte und zu dem Deutsch, das sie damals gelernt hatte: der altmodischen, seit Langem überholten Sprache ihrer Großmutter, der wiederum dieses Deutsch von ihrer nach England eingewanderten Großmutter beigebracht worden war. Es war eine Sprache, die sich sehr von dem Hochdeutsch unterschied, das Mina in der Schule gelernt hatte. Nichtsdestotrotz gelang es ihr, herauszubekommen, dass der Mann ihr mit seinen Worten eine Mitfahrgelegenheit zur nächsten Stadt angeboten hatte. Auf der Stelle nahm sie das Angebot an.
Der Wagenfahrer legte die Zügel nieder und stand auf. Dann beugte er sich vor, um auf die kreisförmige Eisenstufe hinzuweisen, die unten aus dem Wagenkasten herausragte, und streckte seine Hand nach unten. Mina setzte einen ihrer verdreckten Stiefel auf die Stufe und ergriff die dargebotene Hand. Mühelos zog der Mann sie nach oben auf den hölzernen Sitz. Sobald sie sich auf die Bank gesetzt hatte, nahm der Fahrer wieder die Zügel auf und ließ sie schnalzen. »Hü!«, rief er. Der Wagen machte einen Ruck, die Räder knarrten, und die Mulis bewegten sich wieder mit müden, trappelnden Schritten voran.
Schweigend rumpelten sie über die holprige Landstraße. Während der Wagen hin und her schaukelte, warf Mina ab und an einen verstohlenen Blick zum Fahrer. Er war ein sehr korpulenter Mann unbestimmten Alters mit einem sanften, freundlichen Gebaren. Seine Kleidungsstücke waren sauber und ordentlich, doch von einfachster Art. Er trug eine schlichte dunkelgrüne Wolljacke über einem groben, doch reinen Leinenhemd und eine weite Kniehose aus schwerem dunklem Sackleinen. Seine Füße steckten in handgemachten, derben, knöchelhohen Stiefeln, die allerdings schon ziemlich verschrammt und abgenutzt waren und dringend ausgebessert werden mussten. Minas feister Reisegefährte stellte insgesamt eine unauffällige Erscheinung dar - mit Ausnahme seines Gesichts. Es war rund, weich und rosafarben wie das eines Babys. Die Augen unter seinen blassen Brauen waren hellblau; und die dicken Backen, die von dem dünnen blonden Stoppelbart nur unzureichend bedeckt wurden, leuchteten rötlich im frischen Herbstwind.
Es war dieses gutmütige Gesicht, das ihn auszeichnete, befand Mina; denn die Miene, mit der er auf die Welt blickte, zeichnete sich durch einen Ausdruck von gutartiger Freundlichkeit aus: als ob alles, auf das sein Blick fiel, ihn amüsierte und erfreute - als ob die Welt und alles, was in ihr existierte, nur zu seinem Vergnügen da war. Er schien ein permanentes Wohlwollen auszustrahlen.
Wilhelmina räusperte sich schließlich und sagte in der für sie ungewohnten Sprache: »Ich spreche ein bisschen Deutsch, ja?«
Der Mann schaute sie an und lächelte. »Sehr gut.«
»Danke schön, dass Sie für mich angehalten haben«, sagte sie. »Ich bin Wilhelmina.«
»Ein schöner Name«, erklärte der Mann, der in einem breiten Dialekt sprach, wenn auch nur geringfügig. »Auch ich habe einen Namen«, verkündete er stolz. »Ich heiße Engelbert Stiglmaier.« Mit seiner feisten Hand hob er den unförmigen Hut hoch und vollführte im Sitzen eine kleine, komisch wirkende Verbeugung.
Mina fühlte sich durch die altmodische Geste seltsam berührt und musste unwillkürlich schmunzeln. »Ich bin glücklich, Sie kennenzulernen, Herr Stiglmaier.«
»Bitte! Bitte, mein Vater ist der Herr Stiglmaier. Mich nennt man einfach nur Etzel.«
»In Ordnung. Also Etzel.«
»Ihr müsst wissen, dass ich beinahe nicht für Euch angehalten hätte«, vertraute er ihr gutgelaunt an. »Oh?«
»Ich glaubte, Ihr wäret ein Mann.« Er zeigte auf ihre seltsame Kleidung und ihr kurzes Haar. Dann lächelte er und zuckte mit den Schultern. »Aber dann habe ich zu mir gesagt: Denk nach, Etzel; vielleicht kleiden sich die Menschen in Böhmen so. Du bist bis jetzt niemals außerhalb von Bayern gewesen. Wie also kannst du wissen, was man in Böhmen anzieht.«
Mina war ziemlich verblüfft, als sie das Wort »Böhmen« hörte. Sie benötigte einen Augenblick, um zunächst in Gedanken ihre nächste Frage ins Deutsche zu übersetzen; dann sagte sie: »Wie sind Sie nach Cornwall gekommen - falls es Ihnen nichts ausmacht, dass ich mich danach erkundige?«
Er blickte sie verwundert an. »Du lieber Himmel! Ich bin niemals in England gewesen. Und dieses Cornwall liegt doch in England, oder?«
»Aber wir sind doch hier in Cornwall«, entgegnete sie. »Dies ist Cornwall.«
Er legte den Kopf zurück und lachte; es klang volltönend und fröhlich. »Ich nehme an, junge Leute müssen einfach ihre Späße machen. Wir sind in Böhmen, wie Ihr sicherlich selber wisst.« Dann fügte er erklärend hinzu: »Wir sind auf einer Straße, die nach Prag führt.«
»Prag?«
Engelbert betrachtete sie mit einem mitleidigen Blick, der Besorgnis verriet. »Ja, ich glaube schon.« Er nickte langsam. »Zumindest ist es das, was auf den Wegweisern steht.« Einen Augenblick lang musterte er sie erneut, dann fragte er: »Könnte es sein, dass Ihr Euch verlaufen habt?«
»Jawohl«, antwortete sie seufzend und sank in ihrem Sitz zurück. »Das kann man wohl so sagen.« Mit voller Wucht kam erneut die extreme Fremdartigkeit ihrer Misere über sie. Zuerst war London verschwunden und jetzt auch noch Cornwall. Was würde wohl als Nächstes geschehen? Tränen der Angst und Frustration stiegen in ihren großen dunklen Augen auf. Was, in Gottes Namen, passiert mit mir?, dachte sie.
»Na na, Herzerl, keine Sorge«, tröstete sie ihr rundlicher Reisegefährte, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Ich werd' schon gut auf dich aufpassen. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst.« Er griff hinter die Rückenlehne und holte eine schwere Wolldecke hervor, die er Mina anbot. »Hier! Deine Kleidung ist nass, und es wird kalt. Wickel dich darin ein. Du wirst dich dann bestimmt besser fühlen.«
Sie nahm die Decke und wischte sich mit den Handballen die Tränen ab. »Herzerl« - so hatte ihre Großmutter sie stets genannt. Dieselbe Großmutter, deren Deutsch sie sprach und deren Name sie trug. »Vielen Dank«, sagte sie schniefend und wickelte sich in die Reisedecke. Während die Wärme langsam ihren Körper durchdrang, begann Mina sich ein wenig besser zu fühlen, nicht zuletzt wegen Etzels Zusicherung. Reiß dich zusammen, Mädchen!, sagte sie zu sich selbst. Du musst einen klaren Kopf bewahren. Denk nach!
Als Erstes kam ihr der Gedanke, dass ohne Zweifel allein ihr Freund, diese elende Ratte, die Schuld an ihrer gegenwärtigen misslichen Lage trug. All dieses Gerede über Leilinien - oder wie immer das hieß -, das Überqueren von Schwellen zu anderen Welten und den anderen Quatsch: Es war so ... Sie suchte nach dem passenden Wort. Unmöglich. So vollkommen unmöglich. Kein vernünftiger, geistig gesunder Mensch würde oder könnte ihm glauben.
Trotzdem ... Hier war sie nun.
Aber wo genau war das?
»Entschuldigen Sie, Herr Stiglmaier ...«
»Etzel«, korrigierte er sie lächelnd.
»Entschuldige, Etzel, aber wo genau sind wir?«
»Also«, sagte er und saugte an seinen Lippen, während er nachdachte, »wir sind nicht weit von dem Dorf Hodyně in Böhmen entfernt, das Teil des Heiligen Römischen Reiches ist.« Er blickte sie von der Seite an. »Was hast du denn gedacht, wo wir uns befinden könnten, wenn ich fragen darf?«
»Darauf kann ich dir nur schwerlich eine Antwort geben«, erwiderte sie. Zumindest fühlte sie sich bei der Benutzung der deutschen Sprache langsam wohler - es war wie bei einer eingerosteten Pumpe, die durch den Gebrauch immer besser funktionierte -, und die jeweils passenden Wörter fielen ihr immer schneller ein. »Ich bin mit jemandem gereist, der ... nun ja, wir haben uns verloren. Es gab einen Sturm, musst du verstehen, und es scheint, dass wir dadurch getrennt wurden. Es ist alles sehr verwirrend.«
Engelbert nahm diese Erklärung mit gelassener Zustimmung auf. »Ja, das Reisen kann sehr verwirrend sein. Und dieser Sturm ... Er war sehr heftig, nehme ich an?«
»Jawohl!«, pflichtete sie ihm bei und dachte: Du hast keine Ahnung, was für ein Sturm das war.
Sie setzten ihre Fahrt schweigend fort. Mina starrte hinaus in die eintönige Landschaft; alles war braun und grau unter dem dunklen Oktoberhimmel - wenn es überhaupt immer noch Oktober war. Das nahm sie zwar an, konnte sich aber dessen nicht sicher sein. Die Felder waren klein und sahen hinter ihren Umzäunungen aus Steinen oder Weidengeflecht ordentlich gepflegt aus. Bewaldete Hügel, die in den Herbstfarben Gold und Braun gekleidet waren, erhoben sich zu beiden Seiten der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße. Hier und da erblickte Mina kleine, aus Holzbrettern errichtete Häuser, die grau verwittert waren. Die Dachschindeln, die ziemlich morsch wirkten, waren mit Moos bedeckt. Es gab auch weiß getünchte Häuser mit niedrigen, strohgedeckten Dächern. Alles sah sehr altertümlich aus ...
»Welche Zeit haben wir eigentlich?«, fragte sie plötzlich. »Ich meine, welches Jahr?«
»Wir befinden uns im dreißigsten Jahr der Herrschaft von Kaiser Rudolf II.«, antwortete Etzel sofort. Er schien zu spüren, dass die Verwirrung seiner Reisegefährtin nicht nur den Ort einschloss, sondern ebenso die Zeit. »Wir sind im Jahre des Herrn 1606.«
»Aha!« Wilhelmina machte ein finsteres Gesicht. Es war schon schlimm genug gewesen, als sie sich vorgestellt hatte, sie wäre in Cornwall. Das aber war eindeutig schlimmer. Und falls es etwas gab, was man deswegen unternehmen sollte, vermochte sie nicht zu erkennen, was es sein könnte. Keine Panik!, sagte sie zu sich selbst. Irgendetwas wird geschehen, und du wirst wieder zu dir kommen. Bis dahin hast du keine andere Wahl, als die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.
»Bist du hungrig?«, erkundigte sich Etzel.
»Ein wenig«, gestand Mina.
»Ich meinerseits bin immer hungrig«, verkündete er, als ob dies eine außergewöhnliche Heldentat wäre. »Hinter dem Sitz ist eine Tasche.«
Mina drehte sich auf ihrem Sitz herum und löste ein wenig das Verdeck, sodass sich ein Eingang zum Wagenkasten bildete. Sie erblickte Fässer und große Säcke, die so aussahen, als ob sie Mehl oder vielleicht auch Zucker enthielten.
»Siehst du es?«
»Hier ist es!« Sie erspähte einen kleineren, ausgebeulten Sack und riss ihn hoch.
Mina legte ihn sich auf den Schoß und löste die Kordel, mit der man den Sack oben zugebunden hatte. Zum Vorschein kamen ein halber Laib dunkles Brot, ein in Tuch eingewickeltes Stück Käse, ein Wurstende, drei kleine Äpfel und eine Flasche aus Steingut, die Wein zu enthalten schien.
»Nimm, was immer du möchtest«, lud Etzel sie ein. Er streckte den Arm aus und brach vom Brot ein Stück ab. »Einfach so, ja?«
Mina folgte seinem Beispiel, brach etwas Brot ab und steckte es sich in den Mund. Es war schwer zu kauen und mit Kümmel gewürzt - so wie ihre Mutter und Großmutter es zu backen pflegten. »All diese Fässer und Säcke da hinten ...«, sagte sie nuschelnd, während sie auf einem zweiten Stück Brot kaute. »Bist du ein Handelsreisender?«
»Nein«, antwortete er und langte nach einem Apfel. »Du musst unbedingt den Käse versuchen«, drängte er sie. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin niemals zuvor außerhalb von Bayern gereist.«
»Du bist also ein Bayer?«
»Ja, ich komme aus Rosenheim. Das ist eine kleine Stadt, etwa sechzig Kilometer von München entfernt. Du hast sicherlich noch nie etwas von ihr gehört.« Er führte den Apfel an die Lippen und trennte ihn mit einem einzigen Biss sauber in zwei Hälften. »Schmeckt dir das Brot?«
»Ja, sehr; es ist köstlich«, erwiderte sie.
»Ich habe es selbst gebacken«, erklärte Etzel in einem etwas schüchternen Tonfall. »Ich bin Bäcker.«
»Wirklich?«, entfuhr es Wilhelmina verblüfft. »Was für ein Zufall - ich habe denselben Beruf. Ich bin Bäckerin.«
Etzel wandte sich auf seinem Sitz um und betrachtete sie; über seinen pausbackigen rosaroten Wangen waren die blauen Augen vor Erstaunen weit aufgerissen. »So etwas wie Zufall gibt es nicht. Daran glaube ich nicht.« Dann verkündete er pathetisch: »Dies ist eine Begegnung von größter Fortüne.«
»Fortüne?« Sie rätselte, was er mit diesem Begriff ausdrücken wollte. »Fortüne ... Fatum ... Meinst du Schicksal?«
»Schicksal!« Er sprach das Wort aus, als würde es sich säuerlich in seinem Mund anfühlen. Sein rundes, heiteres Gesicht legte sich in Falten, während er nachdachte. »Es ist ...«, begann er und hielt dann inne. Schließlich rief er triumphierend aus: »Vorsehung! Ja, es ist die Vorsehung, die uns zusammengebracht hat. Du musst nämlich wissen, dass ich dringend jemanden benötige, der mir beim Backen hilft.« Er legte eine Hand auf die Brust. »Und du bist eine Bäckerin, die dringend einen Freund benötigt, wie ich glaube - und vielleicht noch andere Hilfe, nicht wahr?«
Es stimmte, was er sagte, wie Mina sich eingestehen musste.
Anschließend enthüllte er den Grund für seine Reise nach Prag. »Es sind recht harte Zeiten gegenwärtig in Bayern - auch im ganzen übrigen Deutschen Reich, wie ich glaube. Alles ist sehr schwierig. In Rosenheim habe ich zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder als Bäcker gearbeitet, aber dort gibt es nicht mehr länger genug Kundschaft, um uns alle zu ernähren. Albrecht, mein Bruder, hat eine Familie, verstehst du, und das bisschen Geld, das wir noch verdienen, braucht er mehr als ich.« Seine Stimme klang traurig, als er fortfuhr: »Ich bin der zweitgeborene Sohn, und ich habe weder Frau noch Kinder.« Er hielt inne und nickte vor sich hin, als wollte er sich selber bestätigen, dass seine Situation tatsächlich so war. »Letzten Monat haben wir drei uns zusammengesetzt und nach vielen Bieren einen Plan geschmiedet. So war das! Sie schicken mich nach Prag, um zu prüfen, ob ich dort einen neuen Laden eröffnen kann.«
»Nun, ich hoffe, dass es sich für dich auswerkt.«
»Auswerkt?« Der Sinn dieses Wortes - eine verunglückte Übersetzung des englischen Ausdrucks to work out - verschloss sich ihm. »Auswirken? Ausarbeiten? Klappen?«
»Ach ... Gelingen oder Erfolg haben. Das meine ich.«
Er nickte. »Weißt du, was sie über Prag sagen?«
»Nein«, gestand Mina, die Etzels freundliches, sanftes Benehmen mochte. »Was sagen sie denn?«
»Sie sagen, dass derzeit in Prag die Straßen mit Gold gepflastert sind.« Er lachte. »Natürlich glaube ich nicht an so etwas. Es ist bloß so eine Art und Weise zu sagen, dass die Verhältnisse dort besser sind.« Er zeigte ein liebenswürdiges Achselzucken. »Ich selbst würde mich nicht so ausdrücken. Aber ich weiß, dass die Dinge nicht schlechter sein können als in Rosenheim.« Er nickte. »Dort muss es besser sein.«
»Ich hoffe, dass du recht hast«, meinte sie.
Der Wagen holperte weiter die Straße entlang. Als der düstere Tag schließlich zu schwinden begann, kamen ein paar mehr Bauernhöfe und Häuser in Sicht, die verstreut an den Abhängen der Hügel und neben der Straße lagen. Zu guter Letzt erblickten sie Hodyně: ein unordentlich aussehendes Bauerndorf.
»Wir werden nachschauen, ob es hier ein Wirtshaus gibt, ja?«
»In Ordnung«, stimmte ihm Wilhelmina skeptisch zu. »Aber ich sollte dich vorwarnen: Ich habe kein Geld bei mir.«
»Kein Grund zur Sorge«, erwiderte Etzel. »In einem Ort wie diesem wird eine Übernachtung nicht viel kosten. Außerdem habe ich ein wenig Silber.« Er lächelte beruhigend. »So Gott will, wird es bis Prag reichen.«