ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Die Überquerung war hart für Xian-Li gewesen, und Arthur fühlte sich deswegen schlecht. Er legte ihr tröstend die Hand auf den Rücken und murmelte Ermutigungen, als sie sich würgend nach vorne beugte. Es war erst ihre dritte Reise in eine andere Welt, und sie musste immer noch die körperliche Beherrschung entwickeln, durch die sich die unangenehmeren Auswirkungen stark reduzieren und Wanderungen zwischen den Dimensionen erträglich gestalten ließen - wenn nicht sogar vollkommen bequem.
Er erinnerte sich an seine eigenen ersten Male: Blind war er in das Unbekannte gesprungen und völlig desorientiert und entkräftet in einer fremden Welt angekommen. So hilflos an einem unbekannten Ort und in einer unvertrauten Zeit zu landen beschwor Gefahren jeglicher Art herauf, von denen einige tödlich sein mochten. Dass er jene frühen Großtaten überlebt hatte, schrieb er der Vorsehung zu: Sie hatte auf ihn Acht gegeben, als er nicht wusste, wie er auf sich selbst hätte Acht geben können. Dafür war er grenzenlos dankbar.
»Ganz ruhig, meine Liebling«, gurrte er. »Tief ein- und ausatmen. Das Schlimmste ist vorüber. Die Übelkeit wird bald vorbeigehen.«
Sie würgte erneut.
»Nun wirst du dich besser fühlen«, munterte Arthur sie auf.
»Es tut mir leid«, keuchte sie und wischte sich den Mund mit dem von ihrem Ehemann angebotenen Taschentuch ab.
»Das ist nichts, was man bereuen müsste, mein Liebes.« Er packte sie am Ellbogen und zog sie hoch. »So. Besser?« Als sie ohne Überzeugung nickte, fuhr er fort: »Das Wichtigste ist, sich daran zu erinnern, dass es nicht immer so sein wird. Deine Fertigkeiten werden sich verbessern, wie du sehen wirst. Und dein Körper wird bald darin geübt sein, den Wechsel zu überstehen.«
»Ich hoffe es um deinetwillen.« Xian-Li zeigte ein schwaches Lächeln. »Aber selbst wenn es niemals besser werden sollte, will ich immer noch mit dir kommen. Ich kann ein wenig Reisekrankheit freudig ertragen, wenn das der Preis ist, den ich zu bezahlen habe, um dich auf deinen Reisen zu begleiten.«
Ihre Entschlossenheit erfüllte Arthur mit Stolz. Seine junge Frau war eine Kämpferin, daran gab es keinerlei Zweifel. Wie sie es ja auch an jenem Tag in der finsteren Seitengasse so eindrücklich bewiesen hatte, als sie den abscheulichen Burleigh und seine Schläger mit nichts als Mut und bloßer Gewandtheit vertrieben hatte. Sie war eine tapfere Kriegerin, die mit kühlem Herzen handelte. Schon allein deswegen war er froh, sie an seiner Seite zu haben.
»Sind wir da?«, fragte sie und schaute sich zum ersten Mal um. Sie schienen mitten in einer riesigen Wüste zu stehen - mit nichts als braungelben, von zerbrochenen Felsen übersäten Hügeln in jeder Richtung. »Ich sehe den Tempel nicht.«
»Der alte Tempel ist in der Stadt, und der neue ist noch nicht gebaut worden«, erzählte er ihr. »Doch man wird ihn bauen, und zwar bald. Wir befinden uns jetzt zurzeit der 18. Dynastie, wie wir diese Periode nennen würden - wahrscheinlich irgendwann um das zwanzigste Regierungsjahr von Amenophis III. Ich werde es erst genau wissen, wenn wir mit meinem hiesigen Freund sprechen.« Er warf sich das kleine Bündel, das er mitgebracht hatte, über die Schulter. »Fertig? Die Stadt liegt direkt hinter diesen Hügeln.«
»Ach ja, der Priester«, sagte Xian-Li und begann, neben ihrem Mann im gleichen Tempo zu marschieren. »Ich erinnere mich.«
»Du wirst ihn mögen. Er ist ein weiser und freundlicher Mann - und er steht, wie es der Zufall will, sehr weit oben in der königlichen Familie. Seine Mutter war mit Juja verheiratet, dem Großwesir von Ägypten, dem zweiten Mann im Staate hinter dem Pharao. Und seine Schwester ist die ›Große königliche Gemahlin‹ des gegenwärtigen Pharao.«
»Er scheint sehr mächtig zu sein«, überlegte Xian-Li laut.
»Es ist nützlich, Freunde in hohen Positionen zu haben«, erklärte Arthur leichthin. »Ich wäre nicht überrascht, wenn er eines Tages Hoher Priester würde.«
Im Licht der Morgendämmerung gingen sie los. Das Land war so trocken wie ein von der Sonne verbrannter Knochen. Abgesehen von einem einzelnen verdorrten, staubbedeckten Akazienstrauch war nirgendwo auch nur ein einziges grünes Blatt zu sehen. Doch die frühmorgendliche Luft war voller Leben: Es gab Schwärme von Sperlingen und Staren, und hoch oben am Himmel sandten Lerchen ihr heiteres Lied nach unten.
»Insekten«, sagte Arthur - eine Antwort auf den verwunderten Blick seiner Frau. »Sie ziehen die Vögel an. Allerdings werden sie noch vor der Mittagszeit verschwinden und sich bis zum Sonnenuntergang am Abend nicht wieder sehen lassen. Die Vögel übrigens auch.«
»Woher kommen die Insekten«, wollte Xian-Li wissen.
»Man würde es nicht erraten, wenn man sich hier umsieht«, erwiderte Arthur und zeigte auf die öde Landschaft, die sie umgab. »Aber direkt jenseits dieser Linie von Hügeln vor uns gibt es einen der größten Flüsse der Welt, der eines der fruchtbarsten Täler der Welt mit Wasser versorgt.«
»Den Nil«, erklärte Xian-Li voller Stolz.
»Genau«, bestätigte Arthur. »Du hast dazugelernt.«
Als sie den Fuß des nächsten Hügels erreichten, fanden sie einen schmalen und stark gekrümmten Schafspfad, der sich den Hang hinaufwand.
»Unsere Leiter zu den Sternen«, meinte Arthur. »Nach dir, mein Liebling.«
Sie folgten dem Pfad, und als sie die Hügelspitze erreichten, legten sie eine Rast ein, um die Landschaft in Augenschein zu nehmen. Im Norden, am breiten Ausgang eines Tales, der zur Wüste hin führte, stand ungeordnet eine ganze Reihe von niedrigen Steingebäuden; an einigen von ihnen wurde offensichtlich noch gebaut. Gen Süden breitete sich im Glanz des frühen Sonnenlichts eine Stadt aus, die von den Ägyptern Niwet-Amun genannt wurde - die Stadt des Amun. Eingebettet zwischen den ausgedörrten Hügeln der Wüste und den frischen grünen Feldern des Niltals, leuchtete diese Stadt wie ein schimmernder Mondstein.
Xian-Li und Arthur starrten hinab auf die Ansammlungen weiß getünchter Häuser, die willkürlich verstreut im Tiefland errichtet worden waren, welches sich entlang des majestätischen Flusses erstreckte. Der Nil selbst war nur als eine blaue Linie zu sehen, die am fernen Horizont tanzte. Die Luft war rein und klar, und es wehte ein sanfter Wind. Von den Häusern unten drifteten die Geräusche bellender Hunde hinauf.
»Es scheint, dass unsere Ankunft bemerkt worden ist«, meinte Arthur. »Hunde sind immer die Ersten, die so etwas wissen.«
»Sie sind wachsam gegenüber jeder Veränderung in ihrer Welt«, merkte Xian-Li an. »In China sagen die Alten, dass ein Hund eine Veränderung hören und riechen kann, bevor sie überhaupt geschieht.«
Sie stiegen ins Tal hinab, wobei sie mit einem Auge die Häuser unten im Blick behielten. Obwohl die Hunde weiterhin kläfften, sah man keine Menschen, bis die beiden die Straße erreichten, die in die festgedrückte Erde eingekratzt war. Sobald sie auf dem Pfad waren, der in die Stadt führte, erspähten sie Gesichter, die flüchtig an den kleinen dunklen Fenstern und Eingängen der weiß getünchten Lehmhäuser auftauchten, während sie vorbeigingen.
»Jetzt werden wir beobachtet«, murmelte Arthur. »Hab keine Angst - nur lächeln und einfach weitergehen.«
Seine Frau blickte kurz nach hinten und sah zwei braune Männer, die mit verschränkten Armen vor ihren Häusern standen; Hunde schwänzelten um sie her, und hinter ihren nackten Beinen versteckten sich Kinder. Xian-Li war froh über ihr Leinengewand. Es war gar nicht einmal so verschieden von dem, was sie in China getragen hatte, doch mehr in Übereinstimmung mit der hiesigen Bekleidung. Arthur hatte es da schon schwerer. Selbst in seinem lose herabhängenden, bodenlangen Hemd würde er sich niemals äußerlich den Einheimischen angleichen: Er war zu groß und, auch das war nicht zu verkennen, zu weiß.
Je weiter sie in die Stadt vorstießen, desto gedrängter standen die Häuser beieinander; die Straßen und Pfade zwischen ihnen hatten immer verworrenere und kurvenreichere Verläufe. Sie kamen durch Bezirke voller Wohlstand und Annehmlichkeit, in deren unmittelbaren Nähe sich jedoch auch ärmliche Gebiete befanden. In den reicheren Vierteln waren die Wohnstätten aus behauenen Steinen errichtet, von Feigenbäumen und Dattelpalmen beschattet und von gepflegten Gärten umgeben. In den ärmlicheren Stadtteilen bestanden die Häuser aus Lehmziegeln und Verputz; Hühner und Schweine streiften zwischen Kohl- und Bohnenreihen umher, und die Höfe vor den Häusern wurden für handwerkliche Tätigkeiten genutzt: für Töpfer-, Schreiner- und Webarbeiten oder Ähnliches.
Xian-Li fand in allem, was sie sah, etwas Faszinierendes. Selbst der flüchtigste Blick brachte einen Schauer der Erregung, wenn sich etwas Neues und Überraschendes offenbarte: Junge Mädchen, die in himmelblaue Hemden gekleidet waren, trugen in Körben aus Schilfrohr nasse Wäsche vom Fluss; kleine Jungen trieben Schare von Gänsen mit Weidengerten und erzeugten dabei mehr Chaos als Ordnung; Frauen saßen an Webstühlen im Freien und spannen unbearbeiteten Flachs zu Fäden; in Gruben mit Farbbädern arbeiteten Jugendliche, die fast ganz nackt und deren Arme und Beine voller leuchtend blauer, grüner oder gelber Flecken waren; Steinmetze erstellten Schleifsteine für Handmühlen; ein Fleischer zerhackte mit einem Beil eine geschlachtete Kuh und hängte die blutigen Teile an der gesamten Front seines Hauses an Haken auf; ein Töpfer und seine Frau schleppten ihre Waren zum Ofen - auf Brettern, die sie auf ihren Köpfen balancierten. Das gesamte Leben einer geschäftigen Stadt wurde in der Öffentlichkeit ausgetragen.
»Es ist wundervoll«, flüsterte Xian-Li. »Die Menschen sind so ... so schön.«
Sie waren schlank und geschmeidig, hatten schwarze Augen und Haare. Die Haut dieser Menschen war dunkler als ihre eigene, bemerkte Xian-Li - so dunkel wie bei einigen Leuten auf den Inseln im Südchinesischen Meer. Sie gelangte rasch zu der Ansicht, dass sie hier die am besten aussehenden Menschen erblickte, denen sie jemals begegnet war.
»Es ist ein hübsches Volk«, stimmte Arthur ihr zu. »Und größtenteils sehr friedfertig. Zudem sind die Leute neugierig, wie der Tag lang ist. Nur wenig entgeht ihrer Aufmerksamkeit, und sie sind schreckliche Klatschtanten.«
»Genau wie in China.«
»Noch schlimmer«, erklärte Arthur lachend. »Sie alle haben sicherlich bemerkt, dass wir hier sind - doch dass sie uns bemerken, soll nicht gesehen werden. Ich kann dir sagen, dass sie alle gerade jetzt vor Neugierde brennen; aber sie ziehen es vor, genau das Gegenteil vorzutäuschen. Und so tun sie so, als würden sie uns ignorieren.«
Die Menschenmenge auf den Straßen und Pfaden nahm zu, als die beiden sich dem Stadtzentrum näherten. Auch hier hielten die Ägypter eine höfliche Distanz und ihre gleichgültigen Mienen gegenüber den offensichtlich Fremden in ihrer Mitte aufrecht.
Im Herzen von Niwet-Amun befand sich der ausgedehnte Tempel des Amun: ein viereckiges Gebäude auf einer niedrigen, dreistufigen Plattform, vor dessen Eingang ein seltsamer kegelförmiger Pfeiler aus Stein stand. Drei junge, mit Lendenschurzen bekleidete Priester rieben eifrig die Oberfläche des bleichen Steins ein; ihre Hände und Arme glitzerten vom Öl, und der Schweiß glänzte auf ihrer zimtbraunen Haut.
Arthur hielt an. »Hier ist unser Mann«, flüsterte er und beobachtete, wie die Priester die gerundete Säule mit Öl einschmierten, wobei sie langsam über die glatte Oberfläche rieben.
»Welcher ist es?«, fragte Xian-Li.
»Der mit den Blumen.«
Ein wenig entfernt stand ein vierter Priester, der von großer Statur und elegant gekleidet war. Er trug ein hellblaues, gefälteltes Gewand aus makellosem Leinen, eine Brustplatte und einen Gürtel aus goldenen Scheiben. Sein Kopf war frisch rasiert, abgesehen von einem dicken, geflochtenen Zopf, der den Rücken herabhing. Um seine ausgestreckten, mit vielen goldenen Ketten und Bändern geschmückten Arme war eine Girlande aus gelben Blumen geschlungen. Nun rief er seinen Priesterkollegen ein Wort zu, die daraufhin mit ihrer Arbeit aufhörten. Dann verbeugten sie sich, streckten ihre Arme aus - mit den Handflächen horizontal zum Boden - und gingen zurück.
Der Priester mit dem goldenen Gürtel schritt vor und legte die Girlande über den frisch eingeölten Stein. Er hob seine Hände bis zur Höhe der Schulter und skandierte mit lauter Stimme einen Gesang. Anschließend trat er zurück und verbeugte sich. Er drehte sich um und machte sich zusammen mit den anderen drei Priestern auf den Weg in den Tempel.
»Anen!«, rief Arthur.
Der Priester hielt inne und wandte sich um. Mit seinen Blicken überflog er die Menschen, die auf dem Tempelplatz herumschlenderten, um denjenigen zu finden, der seinen Namen gerufen hatte. Seine großen dunklen Augen strichen über die Menge, bis sie schließlich auf Arthur und Xian-Li fielen.
»Artus!«, schrie der Priester.
Einen Augenblick später stand er vor den beiden. »Artus«, sagte er und packte die Unterarme seines Freundes. Die beiden Männer streiften sich auf der linken und rechten Seite mit ihren Wangen, und dann wandte sich der große Priester Xian-Li zu. Lächelnd - die Augen selig vor Freude - nahm er ihre Hand. »Iaw«, sprach er. »Jjetj! Jjetj! Nefer hemet.«
Sie konnte zwar die Worte nicht verstehen, doch die Stimme des Mannes klang angenehm moduliert und sanft; und das Wohlwollen, das er mit seinem leuchtenden Gesichtsausdruck ausstrahlte, war unmissverständlich. Sogleich fühlte sie sich entspannt und wohl in seiner Gegenwart.
»Er sagt, du bist hier willkommen, schöne Dame«, übersetzte Arthur. »Er wünscht dir Frieden.«
»Du sprichst Ägyptisch?«, fragte sie mit großen, runden Augen.
»Vor ein paar Jahren habe ich mehrere Monate hier verbracht. Ich bin einem jungen Priester zugewiesen worden, der mir ihre Sprache beigebracht hat. In der kurzen Zeit, die ich hatte, habe ich so viel wie möglich gelernt.«
Die beiden Männer sprachen kurz miteinander, woraufhin Anen laut nach seinen Priesterkollegen rief, die mit ihm an dem Ritual teilgenommen hatten. Sogleich eilten die drei Männer, die inzwischen in einfache gelbe Gewänder gekleidet waren, zu ihrem Herrn. Der Priester erteilte ihnen eine Reihe von knappen Befehlen; dann wandte er sich seinen Besuchern zu und erklärte seine Anweisungen.
»Er hat angeordnet, das Gästehaus für uns vorzubereiten«, übersetzte Arthur für Xian-Li. »Wir sollen mit ihm im Tempelbezirk wohnen, während wir hier sind. Er hofft, dass wir die Absicht haben, längere Zeit hierzubleiben. Er hat uns eine Menge zu zeigen.«
Danach wandte er sich wieder Anen zu und übermittelte ihm ihren Dank und dass sie das Angebot annehmen würden. Daraufhin drückte der Priester seine Handflächen zusammen, drehte sich um und zeigte den beiden Zeitwanderern an, dass sie ihm folgen sollten.
Er führte sie am Tempeleingang vorbei zu einer Pforte in einer niedrigen Mauer. Sie schritten durch die Öffnung und betraten ein Gelände, das eine Ansammlung von gedrungen wirkenden Gebäuden umfasste. Es war mit weißen Steinen gepflastert, verfügte aber auch über zahlreiche Inseln mit prachtvollen Begrünungen. Entlang der äußeren Mauern hatte man größere Bäume gepflanzt, die den offenen Plätzen Schatten spendeten und dafür sorgten, dass der gesamte Bereich kühler blieb und auf diese Weise weit entfernt zu sein schien von den überfüllten, staubigen Straßen außerhalb des Anwesens. Schillernde blaue Pfauen stolzierten in der Sonne. Vier spindeldürre Jugendliche mit kahl geschorenen Köpfen, die bis auf einen kurzen, knielangen gelben Schurz nackt waren, fegten das makellose Pflaster, um es von verirrten Blättern und den Hinterlassenschaften der Pfauen zu säubern. Irgendwo in der Nähe war das Tröpfeln von Wasser in ein Brunnenbecken zu vernehmen und verlieh der Anlage eine wohltuende, beruhigende Atmosphäre.
»Das erinnert mich an den Prinzengarten beim Jade-Palast in Macao«, sagte Xian-Li. »Es ist wunderschön.«
Während sich die beiden Männer unterhielten, schlenderte sie auf dem Gelände herum und genoss es, die Sonne auf ihrem Haar und der Haut zu spüren. Nach dem kalten, verregneten Winter in England fühlte sich die Sonne wie eine lange fehlende und sehr vermisste Gefährtin an, und Xian-Li schwelgte in der Wärme. Selbst hier, während sie sich an dem Garten erfreute, erinnerte sie sich wieder einmal daran, wie völlig unvorstellbar ihr Leben geworden war.
Sie hatte damals Arthur geglaubt, als sie von ihm in das Geheimnis der Tattoos eingeweiht worden war - in der gleichen Weise wie ein Kind, das nichts von der Welt verstand, seinen Eltern glaubte, wenn sie ihm erzählten, dass Geld einen Wert besaß. Und wie ein solches Kind war Xian-Li nicht in der Lage gewesen, sich die unglaublichen Weiterungen dessen vorzustellen, was er ihr gesagt hatte.
Um auch nur die ersten unsicheren Schritte zu einem Verständnis hin zu machen, war es erforderlich, dass sie selbst eine Ley-Reise unternahm. Gleichwohl musste zugegeben werden, dass diese Erfahrung mehr Fragen hervorrief, als sie beantwortete. Dies hier war für Xian-Li das dritte Mal: Allerdings waren die beiden ersten nur kurze Hüpfer innerhalb von England und bloße Proben für diesen Trip gewesen. Jene ersten beiden bescheidenen Sprünge hatten sie freilich genug geschockt, dass sie danach alles sehr ernst nahm. Und was sie jetzt sah, überstieg einfach das, was sie zu glauben vermochte. Nichts in ihrem vorherigen Leben hatte sie auf die Dinge vorbereiten können, die sie nun unter Arthurs Anleitung lernte, erblickte und erlebte. Sie fand keine Worte, um das zu beschreiben - zumindest griff jede Beschreibung, die sie versuchte, viel zu kurz, um das atemberaubende Erstaunen auszudrücken, das sie empfand. Bezaubert, entzückt und taumelnd vor Staunen, liebte sie all das - fast so sehr wie sie den Mann liebte, der ihr dieses fantastische Universum eröffnet hatte.
Nach einer kleinen Weile hörte sie, dass Arthur sie zurückrief. »Das Gästehaus ist fertiggemacht worden«, teilte er ihr mit. »Wir können uns ein wenig ausruhen, wenn du möchtest. Später wird es etwas zu essen geben. Sie neigen hier dazu, die größte Mahlzeit gegen Mittag einzunehmen, doch Anen hat ein paar leichte Erfrischungen für uns bestellt.«
»Ich bin nicht müde«, erklärte Xian-Li. »Und direkt jetzt bekäme ich eh nicht den kleinsten Bissen hinunter. Ich möchte die Stadt sehen. Ich würde mir gerne alles anschauen.«
Arthur lachte. »Dann lass uns einen Spaziergang machen. Ich kann dich ein wenig herumführen. Anen hat angeboten, uns zum Palast des Pharao zu bringen und ein Treffen mit der Königsfamilie zu arrangieren. Morgen vielleicht. Der Pharao reist gerade flussaufwärts, doch jeden Tag erwartet man seine Rückkehr. Warte einen Augenblick; ich erzähle Anen, dass wir einen kleinen Spaziergang durch die Stadt unternehmen.«
Der Priester drang darauf, dass seinen Besuchern Kleidung gegeben wurde, die angemessener für ihren gesellschaftlichen Stand und für das Wetter war. Als die beiden ihre neuen leichten Gewänder angelegt hatten, stellte Anen einen der Akolythen des Tempels für sie ab, der sie als Führer und Dolmetscher begleiten sollte.
Die drei wagten sich aus dem Tempelgelände heraus und gingen um den öffentlichen Platz herum. Arthur hatte die Absicht, seine junge Frau sich zunächst ein wenig die Füße vertreten zu lassen, um sich dabei an Land und Leute zu gewöhnen. Sobald sie sich ein wenig eingelebt hatte, gedachte er ihr den Nil zeigen. Vielleicht würden sie ja mit den sanften ägyptischen Winden auf dem Fluss segeln.
Nachdem sie den Rundgang über den Platz abgeschlossen hatten, begannen sie, die einzige Hauptstraße der Stadt zu erkunden.
»Dies hier sind die Wohnsitze der reicheren Kaufleute«, wusste Arthur zu berichten und hielt vor einem Abschnitt mit großen Steinhäusern an, die zu beiden Seiten der breiten, von Palmen gesäumten Straße standen.
»Und was ist mit den kleinen Hütten?«, fragte Xian-Li. Im Schatten der ausgedehnten Häuser mit ihren gut bestellten Gärten kauerten sich einfache, mit Palmblättern gedeckte Schuppen aus Lehmziegeln.
»Dort wohnen die Sklaven«, antwortete Arthur. »Alle Ägypter aus den höheren Gesellschaftsklassen halten sich Sklaven - Nubier, Äthiopier und Angehörige anderer Völker. Alles in allem ist das nicht so schlecht für sie. Das Leben in Ägypten ist sehr gut.«
»Aha!«, rief plötzlich ihr Führer, als Arthur begann, die Straße weiter entlangzugehen.
Arthur hielt mitten im Schritt inne und streckte die Hand aus, damit Xian-Li stehen blieb. »Warte«, sagte er.
Sie drehten sich um, als der erste einer langen Reihe voll beladener Esel an ihnen vorbeischritt. Ihre Treiber spazierten mit Peitschen aus Stricken neben ihnen her. Auf den starken Rücken der Tiere stapelten sich die Bündel und Pakete. Darin befanden sich geschnittenes Schilfrohr, unbearbeiteter Flachs, Obst und Gemüse - Melonen, Lauchstangen sowie Netze mit Rettichen, Bohnen und Mangolden - sowie Stücke aromatischer Hölzer.
»Sie gehen zum Marktplatz«, erzählte Arthur seiner Frau, während sie den vorbeiziehenden Treck beobachteten. »Morgen ist Markttag, wie ich glaube. Würdest du dir so etwas gerne ansehen?«
»Oh ja! Ich möchte mir alles anschauen.«
»Dann werden wir morgen früh dorthingehen«, versprach Arthur.
Sie führten ihren Spaziergang durch die Stadt fort. Doch sie kamen nicht allzu weit, weil Xian-Li, die verwirrt von der Vielfalt dieser fremdartigen, exotischen Kultur und überwältigt von all den vielen Eindrücken war, rasch müde wurde.
»Es tut mir leid, mein Ehemann, aber ich glaube, ich muss mich ein wenig ausruhen«, gestand sie.
»Natürlich, mein Liebling. Es kann beängstigend sein - so vieles auf einmal. Wir gehen jetzt zurück, ruhen uns aus und nehmen dann eine kleine Mahlzeit zu uns. Du wirst anfangen, dich an alles zu gewöhnen. Du wirst sehen - morgen wird schon alles besser für dich sein.«
Aber die Versprechungen auf Morgen - so ernst sie auch gemeint sein mögen - sind zerbrechliche Papierboote, die an den Ufern eines ungeheuer großen und unsicheren Meeres vom Stapel gelassen werden: Sie werden selbst durch die kleinste, sich kräuselnde Welle oder Ozeanbrise schnell unter Wasser gesetzt.