In der Luft dräute schon der heraufziehende Regen, als Fegan von der gegenüberliegenden Bushaltestelle Patsy Toners Büro beobachtete. Der Anwalt unterhielt seine Praxis in gemieteten Räumlichkeiten über einem Zeitschriftenladen in der Springfield Road. Draußen parkte sein Jaguar. Es war sieben Uhr, der Himmel hatte eine graue Decke über die Stadt gelegt.

Die Kopfschmerzen kamen in Wellen, begleitet von immer wieder aufkeimenden Übelkeitsattacken. Zwei Häuser weiter schimmerten die Schaufenster eines Spirituosengeschäfts im trüben Abendlicht. Fegan blendete es aus. Er wusste, dass Toner bald kommen würde. Der Anwalt wollte bestimmt einen trinken gehen. Dann konnte Fegan herausfinden, warum seine Verfolger diesen Cop haben wollten. Sobald er wusste, wer er war, würde er den Bullen herauslocken und dafür sorgen, dass er ihn verfolgte.

Und dann würde er es tun.

Der RUC-Mann würde Fegan verlassen, genau wie die anderen es getan hatten. Dann morgen oder übermorgen noch Campbell und McGinty, danach war er frei. Er schloss die Augen und stellte es sich vor: einen dunklen, geräuschlosen Raum, wo er sich hinlegen konnte, ohne Angst vor den Schreien zu haben.

Allein.

Das Wort hatte einen bittersüßen Beigeschmack. Er würde in Frieden die Augen zumachen können, aber er würde allein sein. Er würde abhauen und Marie und Ellen zurücklassen müssen. Aber wenigstens würden sie in Sicherheit sein, und das war schließlich das Wichtigste.

Er öffnete die Augen, als die Kälte in seinen Leib kroch. Die Schatten versammelten sich um ihn.

In Toners Fenster ging das Licht aus.

»Er kommt«, sagte Fegan.

Er ging über die Straße und zwängte seine Hände in ein Paar OP-Handschuhe. Die Beifahrerseite des Jaguars wies zur Straße hin. Fegan hockte sich an der Hintertür hin und umklammerte den Türgriff. Von Toners Büro ging es über eine schmale Treppe hinunter zum Hauseingang. Fegan hörte, wie schnaufend die Tür auf und zu ging, dann Schlüsselgeklimper. Toner sprach gerade in sein Mobiltelefon.

»Und habt ihr ihn?«, fragte er. »Bin echt froh, das zu hören. Hauptsache, sie versauen es diesmal nicht.«

Fegan hielt den Atem an und machte sich bereit.

»Lasst mich wissen, wenn die Sache erledigt ist. Darauf will ich einen heben.«

Er hörte ein Piepsen, als Toner das Gespräch beendete, dann ein metallisches Klicken, als er den Jaguar aufschloss. Warte, ermahnte Fegan sich, warte noch…

In dem Moment, als er hörte, dass Toner die Fahrertür aufmachte, zog er den Türgriff und glitt leise auf den Rücksitz, als der Anwalt einstieg. Fegan wartete, bis Toner die Fahrertür schloss. Als sie zuschlug, zog auch er seine Tür zu.

»Himmel Herrgott!« Toner wirbelte auf seinem Sitz herum. Mit offenem Mund glotzte er zuerst in Fegans Gesicht, dann auf die Pistole in seiner Hand.

»Hallo, Patsy«, sagte Fegan.

Er ließ Toner zuerst nach Osten und dann nach Norden fahren. Auf dem Westlink wurde wild gehupt, als sich vor ihnen ein rostiger roter Lieferwagen durch den Verkehr schlängelte. Die Stockungen nahmen ab, als sie sich den ausladenden Bögen der M1 näherten. Fegan riskierte einen Blick über den Fluss hinweg zum Odyssey-Komplex, dessen Lichter gerade für einen geschäftigen Samstagabend erwachten. Vor weniger als einer Woche hatte er hier auf den Abzug gedrückt und Michaels McKennas Schuld beglichen. Jetzt wurde ihm klar, dass die Stelle kaum fünfzig Meter von diesem Straßenabschnitt entfernt lag. »Gib Gas!«, befahl er Toner.

Nach zwanzig Minuten hatten sie ein Industriegebiet nordwestlich der Stadt erreicht. Als der Himmel sich verdunkelte, befahl Fegan Toner, zwischen den niedrigen Gebäuden anzuhalten, außer Sichtweite der dröhnenden Autobahn. Er war schon einmal hier gewesen, vor neun Jahren, als die beiden Jungs von der UFF einen so hässlichen Tod gefunden hatten. Jetzt liefen eben diese beiden UFF-Burschen mit hass- und schmerzerfüllten Gesichtern im Nieselregen umher und berührten die Stellen an ihrem Körper, die Fegan durchlöchert hatte. Er konnte nicht hinsehen.

Das Gelände war inzwischen verlassen, nur noch Skelette aus Stahl und Beton auf einem Stück Brachland, die darauf warteten, dass man sie abriss und Platz schaffte für ein Wohnungsbauprojekt. Sie sahen aus wie Trauergäste an einem Grab.

»Gib mir die Schlüssel!«, verlangte Fegan.

Toner reichte sie nach hinten, seine Augen flatterten kurz zu Fegan herüber und wieder zurück. »Was willst du. Gerry? Du hast mir höllisch Angst gemacht.«

Fegan ließ die Schlüssel in seine Tasche gleiten. »Wer ist der Bulle?«

Toner blinzelte verwirrt. »Was für ein Bulle?«

»Der Typ, der da drinnen für euch arbeitet. Du hast mir an dem Tag von ihm erzählt, als ich eingebuchtet wurde. Ich meine den Kerl, der mich zusammengeschlagen hat.«

Toner hob die Hände. »Ich weiß es nicht, Gerry. Einfach nur irgendein Informant. Ich bin ihm nie begegnet.«

»Du lügst. Davy Campbell hat mir erzählt, dass du den Kontakt hergestellt hast.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich schwöre bei Gott, Gerry, ich weiß nicht, wer er ist.«

»Gib mir deine Hand.«

Toner schüttelte langsam den Kopf. »Nein.«

Fegan hob mit der rechten, jetzt ruhigen Hand die Pistole und streckte seine Linke aus.

»Nein«, wehrte sich Toner.

Fegan drückte ihm die Walther an die Schläfe. Der Anwalt kniff die Augen zusammen und hielt seine linke Hand hin.

»Ich frage dich ein letztes Mal«, sagte Fegan und umklammerte Toners kleinen Finger. »Wer ist der Bulle?«

»Großer Gott, Gerry. Bitte! Ich weiß nichts. Ich erledige nur hier und da etwas für McGinty, wenn er mich braucht. Ich übernehme seine Fälle. Mehr nicht. Mit diesem ganzen anderen Zeug will ich nichts zu tun haben.«

Fegan legte die Walther neben sich auf die Bank, weit außerhalb von Toners Reichweite, und nahm dessen Armgelenk in seine rechte Hand. Mit der Linken bog er den Finger auf und ab. Zuerst fühlte er noch die steife Elastizität des Gelenks, dann den Knack, als es brach und schließlich die Schlaffheir des gebrochenen Knochens.

Toner schrie auf.

»Du hättest es mir sagen können, Patsy. Das hier hätte nicht passieren müssen.«

»Ach, Scheiße!« Toner versuchte, seine Hand zurückzuziehen, aber Fegan packte zu, und der Anwalt schrie erneut auf.

Um die Bruchstelle herum wurde es heiß. Fegan konnte bereits die Schwellung in der Hand fühlen. Durch die dünne Membran seines OP-Handschuhs hindurch spürte er, wie es pulsierte. »Wer ist der Bulle?«, fragte er.

»Bitte, Gerry! O Gott, bitte!« Tränen rannen Toner die geröteten Wangen hinunter. »Ich kann es dir nicht sagen. Wegen McGinty. O mein Gott, der bringt mich doch um. Bitte, Gerry, hör auf!«

Fegan umklammerte Toners Ringfinger. »Wer ist der Bulle?«

»Gerry, bitte. Ich kann nicht.«

Toner schrie erneut auf und übertönte das Geräusch des brechenden Fingers.

Fegan seufzte. Toner überraschte ihn. Er hatte ihn immer für einen Schwächling gehalten, aber der Anwalt war alles andere als das. Fegan rieb die Knochen aneinander.

»Wer ist der Bulle?« Toners Schreie übertönten die Frage, deshalb stellte er sie noch einmal, diesmal lauter: »Wer ist der Bulle?«

»Aufhören! Um Gottes willen, hör auf!«

Fegan ließ die Finger los und packte stattdessen Toners Handgelenk. Die Hitze aus der Hand des Anwalts schien auf das ganze Wageninnere abzustrahlen, begleitet vom beißenden Geruch nach Schweiß und frischem Urin. Eine Übelkeitswelle rollte über Fegan hinweg, aber er kämpfte sie nieder.

»Wer ist der Bulle?«, fragte er.

»O mein Gott… mein Gott… Brian Anderson. Er ist Sergeant. Wir haben ihn schon seit Jahren. Seit den Achtzigern.«

»Was erledigt er für euch?«

Toner stieß die Luft aus, sein Gesicht war schmerzverzerrt. »In letzter Zeit nicht mehr viel. Hier und da gibt er uns noch einen Tipp, wenn eine Razzia geplant ist. McGinty zahlt ihm jede Woche ein paar Kröten, um ihn bei Laune zu halten.«

Fegan ließ seine Hand sinken, so dass Toners Handfläche jetzt darauf ruhte.

»Du hast gesagt, in letzter Zeit nicht mehr viel. Und davor, was habt ihr da von ihm bekommen?«

»Informationen«, keuchte Toner. »Über andere Bullen. Über ihre Autos, wo sie wohnten, was sie tranken, wo ihre Kinder zur Schule gingen. Er hat Informationen an McGinty verkauft.«

Fegan erinnerte sich. Er erinnerte sich an das Gesicht des RUC-Mannes, als er die Waffe in Fegans Hand gesehen hatte.

»Er wurde verletzt, kaum dass er einen Monat seinen Posten hatte«, fuhr Toner fort, nach jedem Wort hechelnd. »Eine selbstgebastelte Bombe hat ihn auf Patrouille erwischt. Die Hüfte war hinüber. Ein Krüppel, und das mit 23. Seitdem war er nur noch Schreibtischhengst. Verwaltung, Archiv, Telefondienst, solche Sachen. Er ist ein verbitterter armer Schlucker. Hat angefangen, seine eigenen Kameraden zu verkaufen. Ich habe mich immer ums Finanzielle gekümmert. Ihn bezahlt. O Gott, Gerry, McGinty wird mich umbringen.«

Toner winselte und bettelte weiter, aber Fegan bekam es gar nicht mit. Er hatte aufgehört, zuzuhören, und angefangen, sich zu erinnern.

 

Es war Fegans erster Mord. Weniger als eine Woche nach seinem zwanzigsten Geburtstag stand er im Schnee und sah zu, wie die Kinder aus der Grundschule kamen. Von dem schwarzen Ford Granada des RUC-Mannes keine Spur. McGinty hatte gesagt, dass er immer fünf Minuten früher da war, wenn er freitags seinen Sohn abholte.

Fegan blickte über die Straße. Ein Junge stand abseits von den anderen und sah die Straße hinauf und hinab. Neun Jahre alt, hatte McGinty erklärt. Er würde es nicht mitbekommen. Er würde noch nicht aus der Schule sein, wenn sein Vater ankam. So hatte McGinty es ihm gesagt. McGinty hatte sich geirrt. Der RUC-Mann kam zu spät, und der Junge würde alles miterleben.

Ein schneidender Wind fegte durch die Straße und rrieb Schnee vor sich her. Fegans Nase kitzelte von dem Kokain, das die Jungs ihm gegeben hatten, um ihm Mut zu machen. Das Summen in seinem Kopf vertrieb weder die Kälte noch das dringende Bedürfnis, die Beine in die Hand zu nehmen und abzuhauen. Ein paar von den Eltern musterten ihn, die Gesichter in Falten gelegt. Sie erkannten ihn nicht. So erklärten sie es dann später auch der Polizei. Er war nur irgendein Mann, irgendein Vater, den sie noch nie zuvor gesehen hatten. Vielleicht ein etwas seltsamer Anblick - wie er zum Beispiel seinen Hut aufhatte. Und dann dieses komisch strähnige Haar. Fegan hatte seinen Anblick selbst im Rückspiegel überprüft, und die Perücke hatte einigermaßen echt ausgesehen. Sie hatten ihn an der Kreuzung rausgelassen. Jetzt standen sie eine Ecke weiter und warteten auf die Schüsse.

Fegan hörte auf zu atmen, als sein Blick sich mit dem des Jungen traf. Der Kleine runzelte die Stirn und starrte ihn an. Fegan konnte den Blick nicht abwenden. Der Junge glotzte mit offenem Mund. Als er ausatmete, sah man seinen dampfenden Atem.

Er wusste es.

Das Geräusch eines Wagens lenkte die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich. Ein Ford Granada, der langsam ausrollte. Der Junge rannte auf die Straße, schrie seinem Vater zu und wedelte mit den Armen in Richtung Fegan. Der RUC-Mann stieg hart auf die Bremse, so dass der Wagen über den Schnee rutschte. Verwirrt starrte er seinen Sohn an. Als Fegan sich ihm näherte, die Waffe schon in der Hand, zeigte der Junge auf ihn.

Der RUC-Mann wandte den Kopf, und vor Überraschung fiel ihm der Unterkiefer herunter. In seinem Gesicht blitzte keinerlei Erkenntnis auf, dass er gleich sterben würde. Das änderte sich erst, als Fegan die Waffe hob. Der andere begriff. Seine Augen sahen das eigene Ende. Fegan drückte zweimal ab. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und blieb dann stehen, als der Fuß des RUC-Mannes vom Gaspedal rutschte.

Dann Stille. Noch vor ein paar Sekunden hatte man von der Schule her das Lärmen der Kinder gehört, das Hupen und die Rufe der Ekern. Jetzt war in Fegans Ohren nur noch ein Rauschen.

Der Junge stand stocksteif da. Schneeflocken glitzerten in seinem Haar. Er starrte Fegan an. Seine Augen waren kleine, tödliche Objekte, schwarze Löcher in einem weißen Gesicht.

Dann fing das Schreien an, und Fegan rannte. Die Jungs kamen am Ende der Straße schlitternd zum Stehen, und er sprang auf die Rückbank. Die anderen jubelten und schlugen sich auf die Schenkel und ihm auf die Schulter, während der Motor aufheulte.

Fegan trank, bis er sich im hohen Bogen auf den Boden des Pubs erbrach, dann heulte er und trank weiter. Michael McKenna umarmte ihn, und Paul McGinty schüttelte ihm die Hand. Vom den ganzen anerkennenden Schlägen tat ihm der Rücken weh, das Kokain und die Kotze stachen ihm in der Nase. Ein schwarzes Taxi brachte ihn zurück ins Haus seiner Mutter, wo er Mühe hatte, das Schlüsselloch zu finden.

Im dunklen Flur standen ein kleiner Koffer und ein Müllsack. Er schaute in den Sack. Er war bis obenhin voll mit seinen Kleidern. Da trat seine Mutter aus der Dunkelheit. Er konnte ihre Augen sehen, sie glühten und funkelten vor Wut.

»Ich habe es in den Nachrichten gesehen«, sagte sie.

Fegan wischte sich den Mund ab.

Ihre Stimme brach. »Ich habe gesehen, was du getan hast.« Fegan machte einen Schritt auf sie zu, aber sie hob nur eine Hand.

»Verschwinde hier und komm nie wieder«, sagte sie mit leiser, trauriger Stimme. Dann stieg sie die Treppe hinauf. Als sie schon fast nicht mehr zu sehen war, drehte sie sich noch einmal um: »Ich schäme mich, dass ich einen wie dich unter meinem Herzen getragen habe«, sagte sie. »Ich schäme mich, dass ich einen Mann großgezogen habe, der es fertigbringt, jemanden vor den Augen seines eigenen Kindes umzubringen. Möge Gott mir vergeben, dass ich dich zur Welt gebracht habe.«

 

Ein Windstoß ließ den Jaguar auf seiner Federung schaukeln und brachte Fegan in die Gegenwart zurück. Draußen wurde der Himmel immer dunkler, fette Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Seine Verfolger beobachteten alles und warteten ab.

»Ruf ihn an«, sagte Fegan.

Toner hörte auf zu wimmern. »Wen anrufen?«

»Den Bullen. Sag ihm, er soll herkommen.«

»Warum?«

Fegan quetschte Toners Hand und wartete, bis die Schreie wieder abgeebbt waren. »Mach es einfach. Sag ihm, er muss sofort kommen. Sag ihm, dass du etwas für ihn hast.«

Toner griff mit der rechten Hand in seine Tasche und holte sein Mobiltelefon hervor. Während er wählte, hielt er seine nassglänzenden Augen auf Fegan gerichtet.

»Hallo Brian?… Ich bin’s, Patsy …Ja, ich weiß … Ich weiß … Es ist wichtig. Sonst hätte ich dich ja wohl nicht angerufen, oder? … Eine Extrazulage … Aber du musst sofort kommen … Also, Brian … In einer Stunde … Alles klar …«

Während der Regen auf das Dach des Jaguars prasselte, hörte Fegan zu, wie Toner dem Cop den Weg beschrieb. Durch das bespritzte Fenster starrte ihn der RUC-Mann an. Ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen.