ELF

 

»Das ist er«, sagte McSorley und deutete auf ein verschwommenes Bild auf einem fleckigen Zeitungsbogen. Es zeigte einen älteren Mann, der gerade die Tür eines Postamts aufschloss.

Davy Campbell drehte die Seite auf der Tischplatte, damit er besser sah. Ein weiches Ziel, dachte er. Wieder mal typisch.

McSorley nippte an seinem Bier und wischte sich den Mund ab. Seine Jeans sah an ihm mindestens fünfzehn Jahre zu jung aus. Hughes und Comiskey fläzten sich auf der anderen Seite der Sitznische. Der Alkohol hatte ihnen bereits die Augen gerötet, dabei war es gerade erst Mittagszeit.

McSorley wandte sich an die beiden. »Ihr zwei bleibt bei seiner Frau. Davy und ich kümmern uns um ihn.«

Campbell verschloss das Fenster, das auf den kochend heißen Parkplatz mit zwei verrosteten Autos und die dahinterliegenden Berge wies. Auf der Straße am Rande von Dundalk herrschte kein Verkehr. Die Umleitungen für den Bau der neuen Autobahn hatten den Betrieb im Players Inn inzwischen dermaßen lahmgelegt, dass Eugene McSorley laut über seinen Plan reden konnte, ohne Lauscher befürchten zu müssen. In ein paar Monaten würde der Verkehr auf vier Spuren aus dem Herzen Dublins bis hoch nach Newry geleitet werden, das im Norden direkt hinter der Grenze lag, und von dort weiter bis nach Belfast. Die Hafenstadt Dundalk würde dann vollkommen abseits liegen und mit ihr der Players Inn.

Früher hatten die Gaelic-Football-Memorabilien an den Wänden noch die Touristen beeindruckt, die auf ihrem Weg nach Dublin in ganzen Busladungen hier angelandet waren. Sie wussten erst, wie schlecht das Essen war, wenn es auf den angeschlagenen Tellern serviert wurde, triefend vor Fett. Jetzt, wo die Kundschaft noch aus diesem Abschaum hier bestand, wirkten die um die Bar herum drapierten Football-Leibchen und Trophäen ein wenig traurig.

Der Vater des Wirts, Joe Gribben Senior, hatte zu der Mannschaft von Louth gehört, die 1957 den Sam Maguire Cup gewonnen hatte, und Joe Gribben Junior würde das nie in Vergessenheit geraten lassen. Campbell selbst war in Glasgow geboren und aufgewachsen und hatte an Gaelic Football keinerlei Interesse. Joe Gribben wiederum hatte klugerweise keinerlei Interesse an dieser Unterredung, also blieb er außer Hörweite am anderen Ende der Bar.

Comiskey lehnte sich vor und fuchtelte mit einem Finger vor Campbell herum. »Wieso darf der denn mit? Wieso muss ich bei der alten Schachtel bleiben?«

Campbell streckte die Hand aus und packte den Finger. »Nimm den aus meinem Gesicht, sonst breche ich ihn dir ab.«

»Hört auf«, fuhr McSorley sie an und riss die zwei Hände auseinander. »Davy kommt mit mir, weil er weiß, was er tut. Alles, was du kannst, ist rumsitzen und dich am Arsch kratzen, also halt die Klappe und tu das, was man dir sagt.«

»Du kannst mich mal«, maulte Comiskey. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Campbell starrte ihn an, bis der andere den Blick abwandte. Waren das wirklich die besten Männer, die McSorley auftreiben konnte? Wenn man ein Postamt überfiel, erbeutete man ja vielleicht genügend Bares, um vernünftige Waffen zu kaufen, aber was brachte das schon, wenn man sie dann Leuten wie Comiskey in die Finger gab? Der war imstande und schoss sich seine eigene Zehe ab.

Nicht zum ersten Mal fragte Campbell sich, was zum Teufel er eigentlich bei diesem Pack wollte. Sie sahen sich als Republikaner und waren der Sache mehr ergeben als diese Abtrünnigen aus dem Norden, dabei waren sie kaum in der Lage, eine Runde Bier zu bestellen. Mit einer vollkommen idiotischen Tat vor neun Jahren hatten die Dissidenten sich beinahe selbst erledigt. Der verheerende Bombenanschlag von Omagh hatte 1998 an einem Sommernachmittag 29 Zivilisten und einem ungeborenen Zwillingspärchen das Leben gekostet, und das nur wenige Monate nach dem Karfreitagsabkommen. Die geringe Unterstützung, die die abtrünnigen Republikanergruppen überhaupt je erfahren hatten, hatte sich über Nacht in Luft aufgelöst. Durch die Veränderungen im Norden allerdings füllten sich ihre Reihen inzwischen wieder, weil immer mehr Fußsoldaten den Dissidenten zugetrieben wurden. Jetzt, da die Bewegung keine Verwendung mehr für sie hatte, befürchteten sie, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der Friedensprozess hatte viele untätig zurückgelassen, und der Teufel verteilte fleißig neue Arbeit.

Als sie begriffen hatten, dass Campbell gar kein Ire war, hatten sich einige der Jungs gegen seine Aufnahme ausgesprochen. Aber sein Ruf war ihm aus Belfast vorausgeeilt. Nachdem er über die Grenze nach Dundalk gekommen war, hatte McSorley den Schotten aufgespürt und ihn zu seiner rechten Hand gemacht. Die Dissidenten bestanden aus lauter Banden wie der von McSorley, manche größer, manche kleiner und alle lose geeint durch ein gemeinsames Ziel. Sehr bald, vielleicht schon in diesem Jahr, vielleicht im nächsten, würden sie sich alle vereinen und wieder zu einer wirklichen Bedrohung werden. Bis dahin stritten sie sich weiter untereinander und überfielen derweil Postämter auf dem Land.

Ein Job ist ein Job, ermahnte Campbell sich. Er seufzte in sich hinein und ließ seinen Blick streunen, während McSorley zum zehnten Mal den Schlachtplan vortrug.

Seine Augen blieben an dem leise gestellten Fernseher über der Bar hängen. Erst erschien das Foto eines vertrauten Gesichts, dann ein Filmbeitrag mit Männern in weißen Papieroveralls und Mundschutzen, die einen Mercedes untersuchten.

»Guckt mal da«, sagte Campbell.

McSorley war zu beschäftigt mit seinem Plan, um etwas zu bemerken, deshalb schlug Campbell ihm auf die Schulter.

»Was ist?«

»Guck mal da.« Campbell nickte in Richtung Fernseher. »He, Joe. Mach mal laut, ja?«

Der Wirt tat ihm den Gefallen und die kultivierte Stimme eines RTE-Reporters sagte: »Ein Polizeisprecher wollte nicht darüber spekulieren, wer hinter dem Mord an Michael McKenna stecken könnte, aber Sicherheitsexperten haben angedeutet, dass die Hauptverdächtigen Loyalisten oder abtrünnige Republikaner sind.«

»Teufel noch mal, ich war’s jedenfalls nicht«, sagte McSorley.

Comiskey und Hughes lachten, Campbell nicht. In seinem Bauch machte sich mulmiges Gefühl breit.

Der Reporter fuhr fort. »Zwar gab es Gerüchte über ein Zerwürfnis zwischen McKenna und der Parteiführung, doch eine interne Fehde ist von allen Beobachtern ausgeschlossen worden. Sicherheitsexperten haben indessen über die weiteren politischen Folgen des Mordes an McKenna spekuliert. Als führendem Republikaner und Mitglied der nordirischen Selbstverwaltung im Stormont könnte seine Ermordung durchaus dazu führen, dass die hart erkämpfte Einigung im Norden genau in dem Moment destabilisiert wird, wo die neu gewählte Regierung ihre Arbeit beginnt.«

»Junge, Junge«, sagte McSorley. »Hat am Ende also doch noch einer Michael McKenna erwischt. Dem Himmel sei’s gedankt. Jetzt muss ich mir wenigstens nicht mehr die Fresse von diesem schleimigen Mistkerl auf der Mattscheibe angucken.«

Im Fernsehen wurde inzwischen Archivmaterial gezeigt, in dem McKenna vor seinem Büro in der Belfaster Springfield Road interviewt wurde. Hughes und Comiskey johlten, als die Kamera auf das Parteilogo zoomte. Zum Abschluss des Beitrags sagte der Korrespondent aus dem Norden: »Die Forensiker sind nach wie vor am Tatort.«

»Einen Scheiß werden die finden«, sagte Campbell. »Die haben doch keinen blassen Schimmer von Forensik. Bin schon überrascht, dass sie überhaupt den verdammten Wagen gefunden haben.« Er ließ die Hand in seine Tasche gleiten und tastete nach seinem Mobiltelefon. Hatte er womöglich einen Anruf verpasst?

McSorley schnaubte. »Wer auch immer es war, dem gebe ich gern einen aus. Sag mal, Davy, du hast McKenna doch gekannt, oder?«

»Ziemlich gut sogar«, sage Campbell. »Er war nicht gerade begeistert, als ich da oben meine Zelte abgebrochen habe und hier runtergekommen bin. Hat mir gedroht, er würde mir die Kniescheiben zertrümmern, wenn ich mich noch mal in Belfast blicken lasse.«

»Dann scheint dir ja jemand einen Gefallen getan zu haben.«

Campbell dachte einen Moment darüber nach. »Kann sein. Aber das wird Ärger geben. Die Jungs in Belfast werden das nicht einfach so hinnehmen. Irgendeiner muss dafür blechen, verlass dich drauf.«

McSorley kicherte, seine rotgeäderten Wangen leuchteten.

»Du machst ein Gesicht, als wärst du darüber kein bisschen traurig«, sagte Campbell.

»Traurig?« McSorley grinste und schob sich sein schon grau werdendes Haar aus der Stirn. »Ich bin so glücklich wie ein Hund mit zwei Schwänzen und zwei Straßenlampen zum Pissen. Wie heißt es doch so schön, Davy: tiocfaiflo dr Id. Unser Tag wird kommen.«

Er legte Campbell den Arm um die Schulter und lehnte sich dicht an ihn. Sein Atem ließ die Haare in Campbeils ungepflegten Bart flattern. »Diese Scheißkerle in Belfast geben schon viel zu lange den Ton an. Die haben abgesahnt und uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Weißt du was? Ich bestelle jetzt erst mal eine Runde, und dann trinken wir auf diesen Hurensohn, der Michael McKenna umgebracht hat.«

Campbell stand auf und ließ McSorley aus der Nische rutschen. Auf halbem Wege zur Bar blieb McSorley stehen und kam noch einmal zu Campbell zurück. Er reichte ihm die Hand. Campbell nahm sie.

»Kerle wie dich können wir gebrauchen, Davy«, sagte McSorley und quetschte Campbell beinahe die Finger. »Ich bin froh, dass du bei uns bist.«

Dann ließ er Campbells Hand los und drehte ab. Campbell wischte sich die Finger an seiner Jeans. Er rutschte wieder auf die Bank und bemerkte, dass Hughes und Comiskey ihn beobachteten.

»Was ist?«, fragte er.

Comiskey bedachte ihn mit einem schiefen Grinsen. »Den kannst du vielleicht an der Nase herumführen, Davy, aber mich nicht. Denk immer dran, dass ich dich im Auge behalte.«

»Ach ja?« Campbell hob die Augenbrauen und grinste zurück.

»Genau. Wenn du nur einen falschen Schritt machst, habe ich dich am Schlafittchen, Kleiner.« Comiskey setzte die Ellbogen auf den Tisch, formte mit den Fingern eine Pistole und spannte den imaginären Hahn. »Klick, klick, Davy.«

»Jederzeit, Kumpel«, gab Campbell zurück. Er hielt Comiskeys stierem Blick lange genug stand, bis er seinen Worten Nachdruck verliehen hatte, dann schaute er durchs Fenster auf die Berge. Er dachte an die Leiche von Michael McKenna in seinem Wagen in Belfast und verspürte ein Kribbeln im Bauch, das eine Mischung aus Vorfreude und kaltem Grauen war.