Die Jüngsten rannten als Erste und flohen, kaum dass der Angriff begonnen hatte. Sie schrien und lachten, während sie an Fegan vorbeihasteten. Die älteren Jungen hielten länger stand, johlten und warfen noch Ziegelsteine und Flaschen, als die Land Rover schon die Barrikade erreichten. Flammen leckten an den gepanzerten Fahrzeugen, als sie den Schutthaufen durchbrachen. Flammende Brocken stoben in alle Richtungen. Die Polizisten folgten brüllend und schwangen ihre Schlagstöcke.
»Komm«, sagte Caffola und zog Fegan am Ärmel.
Mit schmerzenden Arm- und Beinmuskeln rannten sie in die Seitenstraße und duckten sich in einen Hinterhof. Sie wichen Fahrrädern und Plastiktonnen aus, aus den Innenhöfen drang das Gebell der Hunde. Caffolas Lachen hallte von den engen Mauern wider.
Sie gelangten auf ein Stück Brachland und rannten weiter in Richtung der Straßen dahinter. Als sie auf der anderen Seite angekommen waren, wollte Caffola in eine hineinlaufen, aber Fegan zog ihn in eine Gasse. »Nein, hier lang«, keuchte er.
Caffola folgte ihm, und sie liefen weiter, bis sie ans Ende einer Sackgasse kamen. Als sie schließlich stehenblieben, beugte Caffola sich vor und ächzte tief. »Meine Güte«, japste er zwischen langen, schnaufenden Atemzügen, »für so was bin ich einfach nicht mehr fit genug.«
»Ich auch nicht«, keuchte Fegan, der heftige Seitenstiche hatte. Mit schwindelndem Kopf lehnte er sich an die Mauer. Der Schmerz hinter seinen Augäpfeln schwoll so sehr an, dass er dachte, sein Schädel würde platzen. Er presste sich die Hände an die Schläfen und biss beim Atmen die Zähne zusammen.
Caffola hielt sich mit der einen Hand den Bauch, mit der anderen stützte er sich an einer Mülltonne ab. »Ach du Scheiße«, presste er hervor. Er riss den Mund auf, und Fegan hörte ein Platschen. Dann roch er den sauren Gestank von Erbrochenem und hielt sich Mund und Nase zu.
Fegan kniff die Augenlider zusammen. Die Schmerzen kamen inzwischen wie Hammerschläge gegen seine Stirn. Selbst mit geschlossenen Augen konnte er die Verfolger spüren, wie sie sein Gewissen traktierten. Ohne selbst zu wissen, warum, atmete er noch einmal tief durch und ergab sich ihnen. Ein letzter Blitz durchzuckte seinen Kopf, dann hörte der Schmerz auf. Fegan hielt seine Augen noch einen Moment geschlossen, bis das plötzliche Schwindelgefühl vorbei war. Als er sie wieder aufmachte, wusste er nicht, was er sehen würde.
Seine Verfolger hatten sich im Halbdunkel der Gasse versammelt. Sie blieben auf Distanz und beobachteten. Die beiden UDR-Männer traten vor. Ihre Gesichter brannten vor Hass und wildem Rachedurst.
Fegan warf einen Blick auf Caffola. Die ersten kalten Regentropfen klatschten ihm auf Gesicht und Stirn, während er zusah, wie der andere würgte. Er blickte wieder die UDR-Männer an. In der Finsternis glühten ihre Augen. Die anderen Schattenwesen traten hinter sie. Die Lippen der beiden öffneten sich zu einem zahnlosen Grinsen, das Fetzen von blutrotem Fleisch offenbarte.
Fegan schloss wieder die Augen und wünschte sich, dass alles anders kam. So unsinnig es auch sein mochte, wünschte er sich doch ein anderes Leben, das mit diesem hier nichts mehr zu tun hatte. Er wünschte sich, friedlich schlafen zu können und Hände zu haben, an denen kein Blut klebte. Ein frommer Wunsch.
Seufzend machte Fegan die Augen wieder auf und griff in seine Tasche. Er zog ein Paar OP-Handschuhe hervor. Während er sie überstreifte, fragte er: »Erinnerst du dich noch an die zwei UDR-Männer damals in Lurgan?«
»Häh?« Caffola richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»In Lurgan«, wiederholte Fegan. »Es muss so um ’87, ’88 herum gewesen sein. Weißt du noch? Du hast sie so lange gefoltert, bis einer von ihnen sich gewehrt hat. Du bist auf den Arsch gefallen, und ich musste die Sache für dich zu Ende bringen.«
»Ja, jetzt fällt’s mir wieder ein«, sagte Caffola und grinste, obwohl er kaum bei Atem war. Er hustete und spuckte aus. »Die haben gebrüllt wie am Spieß.« Dann glotzte er auf Fegans Hände und runzelte die Stirn. »Wofür sollen die denn sein?«
Inzwischen regnete es richtig. Die beiden UDR-Männer kamen näher. Ihnen konnte der Guss nichts anhaben.
»Sie wollen dich«, sagte Fegan.
»Wovon redest du, Gerry?« Immer noch keuchend, lehnte sich Caffola mit dem Rücken an die Mauer.
»Die UDR-Männer.« Fegan hockte sich hin und suchte in der zunehmenden Dunkelheit den Boden ab. »Sie wollen dich.«
»Was ist hier eigentlich los?« Caffola drückte sich von der Wand ab.
Fegan fand, was er brauchte, und richtete sich auf. »Es tut mir leid«, sagte er. Er wusste selbst nicht, ob er sich bei den UDR-Männern oder bei Caffola entschuldigte. Vielleicht bei beiden. Er näherte sich dem anderen.
Caffola wich zurück und hob die Hände. »Was machst du da, Gerry?«
»Das, was einer schon Vor Jahren hätte machen sollen.«
Caffola war mittlerweile in die hinterste Ecke der Gasse gedrängt und konnte nicht mehr weiter. »Du warst es also doch, stimmt’s? Du hast McKenna erledigt.«
»Stimmt«, sagte Fegan und holte mit dem Ziegelstein aus. Im letzten noch verbliebenen Abendlicht sah er, wie Caffolas Augen die Erkenntnis aufblitzte. Noch bevor er mit dem Ziegel zuschlagen konnte, warf der andere sich auf ihn und rammte Fegan eine Schulter in den Brustkorb.
Beide schlugen hart auf dem Boden auf, und Caffolas Gewicht presste Fegan die Luft aus den Lungen. Der Ziegelstein schlug gegen die Mauer. Sie verhakten die Beine ineinander, Caffola kämpfte sich hoch und stürzte wieder hin, diesmal neben Fegan. Fegan riss an der Jacke des anderen und versuchte, festen Griff zu finden. Er hörte Stoff reißen. Caffola schlug mit dem Ellbogen zu und erwischte Fegan an der Wange. Einen Augenblick lang war er frei und kam auf die Füße, dann umklammerte Fegan seine Fußgelenke, und er fiel wieder hin.
Ein lautes, widerwärtiges Knacken war zu hören, als Caffola versuchte, seinen Sturz abzufedern und sich dabei das Handgelenk brach. Sein Schrei gellte durch die Gasse. Fegan machte den Oberkörper lang, erreichte den Ziegel und holte erneut aus. Caffola verdrehte den Hals und schrie noch ein letztes Mal, dann schlug ihm Fegan den Ziegel auf die Schläfe.
Er spürte, wie Caffolas Körper unter ihm erschlaffte, und warf mit dem Ziegel nach seinen Verfolgern. Sie traten beiseite, und der Stein kullerte in die Dunkelheit. Die zwei UDR-Männer kamen herbei und hockten sich hin, so dass sie mit Fegan auf einer Höhe waren. Sie zielten auf Caffolas zerschmetterten Kopf. Blut rann aus der Wunde auf die Stirn des kahlköpfigen Mannes und seine glasigen Augen flatterten. Er stöhnte.
»Also gut«, erklärte Fegan resignierend. Er beugte sich vor, hielt Caffola mit seinen behandschuhten Fingern die Nase zu und legte ihm gleichzeitig eine Hand auf den Mund. Dabei drückte er mit seinem ganzen Gewicht den Rücken des Mannes nieder. Als der Körper zu zucken begann, verstärkte er den Druck. Ein heißer, schleimiger Brei quoll gegen seine Hand, als Caffola sich wieder übergab. Fegan presste noch fester. Endlich spürte er, wie unter ihm das Leben aus Caffola wich.
Fegan schloss die Augen und tastete nach dem Herzen. Er versuchte, irgendeinen Sinn in dem zu erkennen, was er gerade getan hatte. Alles, was er fand, war die kalte Leere seiner Wünsche.
Er nahm die Hand von Caffolas Mund und ließ das Erbrochene auf den Boden laufen. Der ekelhafte Gestank und die Wärme auf seiner Hand drehten ihm den Magen um. Nicht drauf achten und ruhig bleiben, befahl er sich. Er sah zu seinen Verfolgern hoch. Die Frau trat vor, sie hielt ihr Baby, ihr geblümtes Kleid im Dämmerlicht sah hübsch aus. Sie nickte und schenkte Fegan ein kurzes, trauriges Lächeln.
Die beiden UDR-Männer waren verschwunden. Neun Verfolger blieben noch.
»Und wer jetzt?«, fragte Fegan.