6

 

Miss Connor hatte völlig recht gehabt. Es dämmerte schon, als Lee ihren Mann von der Tennisgesellschaft wegschleppte, viel zu spät, um noch Rettungsarbeiten am Auto vorzunehmen. Lawrence war kein Frühaufsteher und regte sich immer erst nach dem Frühstück, das Grant sorgfältig, aber nicht sehr gekonnt auf ihrem Spirituskocher zubereitete. Es war zehn Uhr, als er auftauchte, und Andrew, der den Verrat seines alten Freundes einfach nicht hinnehmen konnte, hatte schon gekurbelt, unter die Kühlerhaube geguckt und leise, aber ununterbrochen eine ganze Weile vor sich hingeflucht. Seine Laune hatte etwas gelitten, und Lee ihrerseits war beleidigt über die Art, wie er ihre zuversichtliche Behauptung aufnahm, daß sie sicher sei, der gute alte Wagen würde es sich heute morgen bestimmt überlegen.

»Den kann man nur noch abschleppen«, verkündete Lawrence, als die vereinten Bemühungen der drei Männer es nicht fertiggebracht hatten, die Maschine auch nur einen Zentimeter vorwärtszubewegen.

»Aber wird das bergauf nicht schwierig sein?« fragte Lee, und zur Antwort kam ein gönnerhaftes: »Bergauf? Überhaupt keine Schwierigkeit bei der Maschine. Massenhaft überschüssige Kraft. Jetzt brauchen wir nur noch ein Abschleppseil und jemanden, der das andere Auto lenkt, und schon ist es geschafft.«

Aber ganz so einfach war es nicht. Ohne daß es jemand gemerkt hatte, hatte sich der Himmel unheilvoll zugezogen und ließ nun einem heftigen halbstündigen Wolkenbruch freien Lauf. Nicht einmal überschüssige Kraft brachte auf diesem rutschigen Abhang etwas zustande, und die beiden Autos glitten lustig hin und her, immer in entgegengesetzter Richtung. Andrew kam hinter dem Steuer wieder hervor und sagte beleidigt und resignierend: »Ich werde wohl besser schieben helfen. Geh du rein, Lee, und tu dein Bestes. Du sollst das Seil möglichst nicht überspannen und auch nicht überbelasten.«

Lee, die noch nie zuvor gesehen hatte, wie ein Wagen abgeschleppt wurde, sagte, das könne doch jeder, und nichts sei einfacher als das, und in den ersten fünf Minuten hatte sie das Seil zweimal überspannt und dann schnappen lassen. »Und es nützt überhaupt nichts, wenn du so stöhnst, Lawrence«, sagte sie scherzhaft. »Wenn dein komisches Auto so gut wäre, wie du sagst, dann würde ihm das Hügelchen nichts ausmachen. Wir sind unzählige Male hier raufgefahren. Andrew, sollten wir nicht die Zugpferde holen, so wie die Dinge liegen?«

Lawrence entgegnete, nur ein Idiot könne erwarten, daß ein Auto auf einer Grasfläche ziehe, und Grant warf schnell ein, daß die Reifen natürlich fassen müßten, und daß Pferde vielleicht eine ganz gute Idee seien, und ob er helfen könne, sie einzufangen.

Sie hatten zwei Zugpferde von Alf Parsons gekauft, eines mit Namen Marilyn, ein geduldiges, altes, graues Pferd mit müdem Blick, und das andere hieß Happy, aus irgendeinem unerfindlichen Grund, den Andrew, der das Tier noch nie richtig hatte arbeiten sehen, sich nicht erklären konnte. Bald merkten sie jedoch, daß Alf einen ausgesprochen eigenartigen Sinn für Humor besessen hatte, denn Happy, ein Pferd mit düsterem Gesichtsausdruck und hängender Unterlippe, hatte einen Haß auf die ganze Welt, vor allem aber auf Autos. Weil Happy das stärkere Pferd war, hatten sie versucht, es das Auto abschleppen zu lassen, aber kaum waren die Ketten befestigt, da schnaubte es beängstigend, trat nach allem, was sich in seiner Reichweite befand, und bäumte sich dann so gefährlich auf, daß Lee wie rasend schrie: »Paß doch um Himmelswillen auf. Wenn es das Gleichgewicht verliert, landet es auf dem Kühler, und als Kühlerfigur ist es viel zu groß.«

Diese unsinnige Bemerkung brachte Andrew fast um den Verstand. Es reiche, murmelte er Grant zu, daß er ein nutzloses, schlecht gelauntes Mistvieh von Pferd gekauft habe, eine Frau aber, die unter allen Umständen witzig sein wolle, sei fast ein bißchen zu viel.

Behutsam lösten sie Happy aus den Ketten und ersetzten sie durch Marilyn, der es gemeinsam mit den drei Männern, die hinten schoben, gelang, das Auto den Abhang hinauf bis auf den Vorplatz zu ziehen. »Das genügt bestimmt«, kommentierte Lee, aber noch immer kam kein Lebenszeichen aus dem Motor, und Andrew sagte wütend: »Wir ziehen das verdammte Ding den langen Abhang hinauf und lassen es herunterrollen. Wenn überhaupt, dann sollte das den Motor zum Laufen bringen. Tut mir leid, aber wir werden der Stute helfen müssen.«

Es war ein langer Abhang, und das viergespannige Team keuchte schwer, bis es oben war. Andrew befreite die schwitzende Marilyn und setzte seine aufgeregte Frau auf den Fahrersitz. »Wir werden dir einen kräftigen Schubs geben. Dann legst du den dritten Gang ein, gibst soviel Gas wie möglich und braust los. Bevor das Auto unten ist, sollte es anspringen.«

Lee setzte sich fest in den Sitz, stellte ihren Fuß auf das Gaspedal und machte sich auf eine atemberaubende Abfahrt gefaßt. Die Männer schoben kräftig an und beobachteten die zunehmende Geschwindigkeit äußerst befriedigt. Zu ihrer Bestürzung gab der Motor jedoch keinen Ton von sich. Der Wagen begann langsamer zu werden. Sie nahmen die Verfolgungsjagd auf und erreichten ihn gerade, als er erneut zum Stillstand kommen wollte. Lee war bitter enttäuscht. »Dabei habe ich die Starterklappe so weit rausgezogen und soviel Gas gegeben. Er hätte einfach runterrasen müssen, aber-« und plötzlich ganz verzagt: »Ach du meine Güte.«

Andrew schaute zum Fenster hinein und sagte dann mit verhaltener Stimme zu allen: »Es wäre besser gewesen, wenn du den Zündschlüssel umgedreht hättest.«

In der gespannten Stille hatte Lee Zeit nachzudenken: »Gräßlich, diese Autos. Ich bin sicher, sie haben massenhaft Scheidungen verursacht.« Lawrence lachte, aber Grant, der so umsichtig gewesen war, Marilyn mitzubringen, bückte sich nur und machte die Ketten wieder fest. »Das kann jedem mal passieren«, sagte er und war dann äußerst erstaunt, als Lee aus dem Auto sprang, ihn kurz umarmte und erklärte, daß einige Männer einfach zum perfekten Ehemann geboren seien. Andrew guckte etwas mürrisch, begnügte sich aber mit der Feststellung, daß er diesmal die Vorsichtsmaßnahme getroffen habe, den Zündschlüssel vor dem Start umzudrehen.

»Ja, jetzt läuft er«, sagte Lee außer Atem, als sie zehn Minuten später ins Haus stürmte. »Grant hält ihn in Gang, während ich mich umziehe. Kommst du auch, Tante Hester? Stell dir vor«, sagte sie, als sie mit unterdrückter Wut ihre alten Schuhe in eine Ecke des Zimmers warf, »wir haben beinahe schrecklich Krach bekommen. Andrew war so böse«, und plötzlich bekam sie einen Lachanfall, als sie ihrer Tante von der ersten mißlungenen Fahrt den Berg hinunter erzählte, und dann schloß sie beleidigt: »Ich hätte nie gedacht, daß Andrew mich so anstarren würde.«

»Das würde ich mir nicht zu Herzen nehmen, meine Liebe«, antwortete Tante Hester gelassen. »Ich war schon lange der festen Überzeugung, daß beim menschlichen Wesen Maschinen nur Schlechtes wecken, so wie andererseits Tiere das Beste zutage treten lassen. Aber nein, ich werde euch wohl nicht begleiten. Ich glaube, ich werde heute morgen lieber einen langen Spaziergang machen und die Straße bis weiter in den Wald hinein auskundschaften.«

»Du wirst dich doch nicht verirren? Da ist meilenweit nur Gebüsch, genau wie im Dschungel. Andrew sagt, daß es dort Wildschweine gibt, und die können ziemlich gefährlich werden.«

»Ich werde mich nicht verirren«, erwiderte ihre Tante würdevoll. »Was die Schweine anbetrifft, so jagen sie jemandem, der in manch tropischer Nacht bei Löwengebrüll gezeltet hat, nur wenig Angst ein. Ich glaube, ihr werdet schon zurechtkommen, meine Liebe, aber ich meine, ich kann dabei nicht von großem Nutzen sein. Wahrscheinlich wäre es am besten, den Wagen überhaupt nicht mehr zu stoppen, auch wenn ihr zufällig jemanden überfahren solltet.« Nach diesem unsittlichen Rat nahm Miss Connor den dicken Stock, den Andrew benutzte, um die Kühe zusammenzutreiben, und brach zu ihrem Spaziergang auf.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Lee wirklich nervös. Der Gedanke daran, daß der Wagen auf einer einsamen Straße möglicherweise stehenbliebe und nicht mehr anspringen könnte, war erschreckend. Sie hörte daher mit großer Erleichterung, daß Grant Lawrence bei den Macgregors absetzen und ihr dann nach Ruru folgen würde. Wenn der Wagen dann dableiben mußte, konnte er sie nach Hause bringen.

Ganz entgegen ihrer Gewohnheit fuhr Lee langsam, nahm die Kurven auf der richtigen Seite und hupte an den schlimmsten Ecken. Außer einem haarsträubenden Zusammtreffen mit einer Sau und einem Dutzend Ferkel außerhalb des pa, gab es keine Zwischenfälle, und wenige Minuten vor Grant traf sie bei der Garage ein.

Der Maori-Besitzer, dessen Name, wie sie nun erfuhr, Eru war, saß gemütlich beim Mittagessen, versprach aber, sobald er fertig sei, sich den Schaden anzusehen. Grant sagte eifrig: »Komm, geh mit mir essen. Gastgeber sein ist für mich einmal etwas anderes. Einverstanden? Dann probieren wir es mit dem Privathotel.«

Die hübsche Bedienung, ein Mischling, sagte, sie könnten ein Mittagessen haben, aber »Doppelzimmer sind nicht mehr frei, Alle besetzt«. Lee geriet in Versuchung herauszuplatzen, und Grant wurde verlegen, aber demütig stimmten beide der Mahlzeit zu. Die meisten Pensionsgäste hatten gegessen und waren gegangen. Der große Raum war fast leer. Lee lehnte sich genüßlich in ihrem Sessel zurück und erklärte ihrem Gastgeber, wie herrlich es sein würde, eine Mahlzeit zu essen, die sie nicht selbst hatte kochen müssen, »denn schließlich überlege ich mir nun schon seit Ewigkeiten ständig, was ich zum Abendessen brauche und wie ich Reste am besten zum Mittagessen verwende, und das wird man einmal leid.«

»Eine schreckliche Belastung, und uns hast du auch noch vierzehn Tage lang am Hals gehabt. Ich weiß auch nicht, wie Andrew es aushält, aber Lawrence kann man jetzt nur noch mit einer Ladung Dynamit los werden.«

»Du bist uns überhaupt nicht zur Last gefallen, und du hilfst Andrew doch so viel. Er kann es nicht oft genug betonen. Ich glaube, er hätte dich gerne für immer hier.«

»Das ist nett von euch, aber wenn zwei Menschen erst wenige Monate verheiratet sind...«

»Macht nichts, es kommen noch so viele Monate und Jahre, und wer weiß, was uns noch bevorsteht. Oh, Grant, sieh mal, wer da ist!« denn in diesem Augenblick war ein großer Mann mit einem ausdrucksvollen Kopf und der gebeugten Haltung eines Gelehrten eingetreten und hatte sich in ihrer Nähe an einen Tisch gesetzt. Zu der Bedienung, die eilends zu ihm kam, sagte er: »Ich fürchte, ich habe mich verspätet. Es war weiter, als ich erwartet hatte«, und dann lächelte er auf eine Weise, daß sein ganzes Gesicht leuchtete.

»Ist schon gut«, sagte sie mit einem Blick, wie er Lieblingsgästen vorbehalten ist. »Es sind noch andere da«, und sie zeigte auf das Paar, das sich in überraschtem Erkennen halb erhoben hatte. Der Gast drehte sich um, Lee schob ihren Stuhl zurück, ging zu ihm hinüber und streckte schüchtern ihre Hand aus.

»Professor, wie nett, Sie hier zu treffen. Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern — wie sollten Sie auch? Ich habe keine Geologie gehört, und wir haben uns nur bei Feiern gesehen. Ich bin Lee Connor — zumindest war ich das. Ich bin jetzt Lee Marsden, und das ist Grant Lawton. An ihn erinnern Sie sich aber bestimmt, denn er hat Geologie gehört. Er hatte was dafür übrig, obwohl er Kunststudent war.«

Professor Meredith lächelte. »Ich erinnere mich an Sie beide, aber natürlich besser an Mr. Lawton. Aber was hat Sie an diesen ebenso abgelegenen wie herrlichen Ort gebracht?«

»Kommen Sie doch an unseren Tisch, und ich kann Ihnen alles erzählen, ohne schreien zu müssen«, antwortete Lee, ließ sich dann ausführlich über alles vernehmen und schloß: »Kommen Sie und sehen Sie sich mein komisches altes Haus nebst meinem Mann an. Nicht, daß er auch komisch oder alt wäre, Sie wissen ja, wie ich es meine«, und schon war sie bei einem neuen Thema, indem sie sich bei dem Professor erkundigte, ob er selbst fahre und was ihn hierher gebracht habe.

»Ja, ich habe einen alten, aber verläßlichen Wagen, und in ein oder zwei Tagen fahre ich weiter. Ich habe mich für eine Woche hierher zurückgezogen, um mir interessante Steine anzusehen«, und nun erzählte er seinem früheren Studenten einiges über seine Forschungen.

»Ganz in der Nähe, wo wir zelten, gibt es tatsächlich solche Steine. Natürlich verstehe ich nichts davon, aber sie sehen mir so aus, als wären es...« und nun begann Grant schüchtern mit der fachmännischen Beschreibung einer Gesteinsschicht auf dem Hügel über der Farm, während Lee die Gelegenheit nutzte, um noch mehr Eis zu bestellen.

»Sehr interessant. Das würde ich mir gerne ansehen«, sagte der Professor und nickte mit seiner Löwenmähne, die für manch liebevolle Karikatur in der Universitätszeitschrift Material geliefert hatte. Jetzt riß Lee sich von ihrer gefräßigen Beschäftigung los, um ihn etwas schüchtern für den nächsten Tag zum Mittagessen einzuladen.

»Ich würde mich sehr über Ihren Besuch freuen«, sagte sie, wobei sie so süß lächelte, daß Professor Meredith sich wunderte, nie gemerkt zu haben, was für ein attraktives Mädchen sie war.

»Es ist eigentlich ein bißchen anmaßend von mir, denn wir sind noch nicht fertig eingerichtet, und ich bin keine sehr gute Hausfrau, und außerdem«, sagte sie, wie so oft plötzlich ganz vertrauensselig, »habe ich immer große Ehrfurcht vor Ihnen gehabt — aber vielleicht ist das jetzt, wo ich verheiratet bin, anders.«

Darüber lachten beide Männer, und der Professor meinte, dazu könne er nichts sagen, weil er nie verheiratet gewesen sei.

Lee staunte, wie die meisten Studentinnen, die sich jahrelang gewundert hatten, daß ein so herrlicher Mensch auf das Pensionsalter zuging, ohne von einer unternehmungslustigen Assistentin eingefangen worden zu sein.

»Ich hoffe, das Gestein dort ist wirklich interessant für Sie«, brachte Grant etwas nervös vor. »Es wäre mir schrecklich, wenn Sie die Reise umsonst machten und Ihre Zeit verschwendeten«, eine Bemerkung, die, wie sein Gegenüber meinte, wohl kaum dazu angetan sei, ihn bei seiner Gastgeberin beliebt zu machen. Darüber lachten alle und dann verabschiedete man sich, jedoch erst, nachdem Meredith in seinem Notizbuch genau den Weg bis zur Farm aufgeschrieben hatte. Er würde sehr gerne kommen, sagte er, allerdings nicht für mehrere Tage, und er würde vorher morgens bei ihnen anrufen.

Mit Erleichterung hörten sie, daß der Wagen keinen ernsthaften Schaden hatte. »Der Anlasser ist nicht ganz in Ordnung, und die Batterie ist ziemlich alt«, erklärte Eru. Lee dachte bekümmert, daß der ganze Wagen ziemlich alt war, und überlegte einen Augenblick, was passieren würde, wenn er ersetzt werden müßte. Da sie so lange unbekümmert mit Bernards Reichtum gelebt hatte, waren ihr alte Autos ebenso selten über den Weg gelaufen wie leere Bankkontos.

Aber sie schob den Gedanken weit von sich und fuhr fröhlich und mit ihrer gewohnten Fahrlässigkeit, doch ohne Zwischenfall zurück. Andrew erwartete sie mit wohlweislich überspielter Angst und, wenn er an seine Gereiztheit vom Morgen dachte, leichten Gewissensbissen. Als sie vorfuhr, kam Tante Hester ihr mit einem sonderbaren Bündel auf dem Arm entgegen.

»Lieber Himmel, was ist das denn?« rief Lee und hielt mit einem Ruck. »Eine gelbe Katze? Nein, ich glaube, es ist ein Hund. Tante Hester, wo hast du ihn nur her?«

Jetzt sah Miss Connor zum ersten Mal etwas stolz aus. Sie antwortete nicht sofort, sondern setzte das kleine Tierchen ab. Es kauerte zu ihren Füßen, und Lee wurde von tiefem Mitleid erfaßt. Noch nie hatte sie etwas so Kleines, etwas so Häßliches und etwas so Klägliches gesehen. »Armes Kerlchen«, sagte sie, als sie sich bückte, um es sanft zu streicheln. »Wie schrecklich hungrig du armes Ding bist — und zu welcher Rasse du wohl gehörst?«

Andrew lachte. »Bring ihn nicht in Verlegenheit. Ich würde sagen, mindestens zu einem Dutzend. Tante Hester fand ihn heute morgen halb verhungert im Busch und brachte ihn zurück.«

Eine leichte Röte stieg Miss Connor ins Gesicht. »Ich hoffe, ich habe nicht zu eigenwillig gehandelt; ich nehme alle Schuld auf mich. Ich wanderte durch den Busch, als ich ein ganz schwaches Wimmern hörte. Ich wußte, daß es irgendein Tier in Not war, und da ging ich von der Straße ab, um zu suchen.«

»Oh, Tante Hester, du hättest dich verirren können. Der Busch ist dort schrecklich dicht.«

»Meine liebe Lee, ich habe dir schon gesagt, daß ich mich nicht zu verirren pflege, obwohl mir mein Nomadenleben in Wüsten und Wäldern genug Gelegenheit dazu gegeben hat. — Na ja, ich ging dem Geräusch nach und fand einen kleinen Hund, der sich hoffnungslos in seltsamen, bösartigen Ranken verfangen hatte.«

»Wir nennen sie Richter«, erklärte Andrew.

»Eine Bezeichnung, der es nicht an makabrem Humor fehlt«, stimmte Hester zu, »obwohl er den Angehörigen eines ehrenwerten Berufsstandes wohl kaum gerecht wird. Das arme Wesen war schon so lange gefangen, daß es in seiner Verzweiflung die weiche Erde ganz zerwühlt, sich aber nur noch mehr in die Ranken verstrickte. Es schien fast am Ende zu sein, aber zum Glück hat mich mein lieber Vater immer angehalten, auf Spaziergängen ein kleines Taschenmesser mitzunehmen, und damit konnte ich dann den armen kleinen Hund befreien. Ich muß gestehen, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihn im Stich zu lassen, als er mir in offensichtlicher Dankbarkeit die Hand leckte. So trug ich ihn nach Hause und erzählte deinem lieben Mann die ganze Geschichte. Wie du weißt«, schloß sie zu ihrer Verteidigung, »bin ich einfach ein Tiernarr.«

»Natürlich konntest du ihn nicht sterben lassen«, rief Lee und nahm Tante Hester zu deren sichtlicher Freude schnell in die Arme. »Armes Ding, ich habe nie gedacht, daß es so etwas Dünnes gibt. Ein kleiner Hund mehr macht doch gar nichts weiter aus, wo du sowieso Schafe schlachten mußt, um deine eigenen zu füttern, nicht wahr, Andrew?«

»Völlig richtig«, erklärte Andrew heldenhaft und gab den sehnsüchtigen Wunsch auf, dem Elend des Hündchens mit einer Kugel ein Ende zu machen. »Du hättest nicht anders handeln können. Wir können ihn leicht füttern. Aber seid nur vorsichtig am Anfang, er hat eine ganze Weile gefastet.«

Hester strahlte ihn an. »Du bist so menschlich, Andrew. Ich freue mich, das festzustellen — und, darf ich das zugeben? — ein bißchen erstaunt. Ich habe gehört, daß Farmer manchmal ziemlich abgebrüht seien, wenn es um leidende Tiere geht. Ich bin dir sehr dankbar, denn ich muß zugeben, der Gedanke an dieses kleine Wesen hätte mich verfolgt, selbst wenn jemand so umsichtig gewesen wäre, seinem Elend ein Ende zu machen. Aber ein Heim und Liebe sind soviel besser als eine barmherzige Kugel. Gefüttert habe ich ihn schon mit etwas Milch. Ich dachte, um langsam anzufangen. Es ist mir nicht völlig fremd, Verhungerten zu helfen. Zu Lebzeiten deines lieben Großvaters hatten wir unter den Eingeborenen viel gegen Unterernährung zu kämpfen. Später vielleicht etwas mehr Milch, ein Stückchen Fleisch — aber nach und nach.«

Als sie gegangen war, den armen kleinen Hund vorsichtig im Arm haltend, sagte Lee zu Andrew: »Du bist wirklich ein Schatz. Ich weiß, wie sehr Farmer streunende Hunde hassen, weil es immer Ärger gibt, aber ein kleines Ding von dieser Größe kann nicht viel Schaden anrichten. Bist du sehr ungehalten deswegen?«

»Nicht wegen Tante Hester. Ich mag sie gerne. Findest du es nicht auch außergewöhnlich, wie sie sich hier zurechtgefunden hat? Schließlich ist das hier doch ganz anders als ihr gewohntes Leben.«

»Als ihr Leben, seitdem Großvater starb, aber ich glaube, sie genießt das Außergewöhnliche, weil sie an das Leben erinnert wird, das sie vorher führte. Und du weißt, daß sie eine ziemliche Schwäche für Tiere hat.«

»Ich weiß — davon kenne ich zwei. Das ist das einzige, was ich gegen sie habe.«

»Aber wie ist es überhaupt möglich, daß der Hund so verlassen im Busch lag?«

»Ich vermute, daß er mit ein paar Wildschweinjägern und ihren Leuten hinauskam — sie haben manchmal die komischsten Bastarde, und es macht ihnen nichts aus, wenn sie verloren gehen. Tja, es bleibt uns nichts anderes übrig, als dem armen kleinen Ding ein Heim zu geben — zumindest vorläufig...«

Lee wurde klar, daß diese ziemlich unheilvollen Worte bedeuteten »solange deine Tante hier ist«. Aber sie lächelte nur und sagte sanft: »Liebling, ich weiß, daß uns dieser kleine Hund Glück bringen wird. In Tante Hesters Horoskop stand heute morgen: >Heute ist Ihr Glückstag. Sie werden etwas sehr Wertvolles finden<.«

Andrew schluckte merklich und dachte daran, was er der Frau in dem flammenden Kleid, die ihnen das verdammte Buch geschenkt hatte, gern antun würde.

Später erinnerte sich Lee erst wieder an das aufregende Treffen in Ruru. »Du wirst nie erraten, wen ich ausgerechnet in Ruru getroffen habe«, begann sie und merkte, wie Andrew das Schlimmste befürchtend den Atem anhielt.

»Ist ja schon gut, Liebling, er wird nicht hier wohnen — nur hier Mittag essen. Der gute alte Professor Meredith. Er ist Geologe und so gutmütig. Alle verehren ihn. Er hat in dem Hotel zu Mittag gegessen — habe ich dir erzählt, daß Grant mich dorthin eingeladen hat?«

»Allerdings — und du hast mir ganz genau berichtet, was du gegessen hast; wie du es fertiggebracht hast, das alles in dich hineinzustopfen, ist mir allerdings ein Rätsel.«

»Sei nicht neidisch. Ich wollte, du wärst dabeigewesen — es war ein himmlisches Essen. Also, Grant war einer seiner Studenten, und er erzählte ihm von dem Gestein hier, deshalb kommt er, um es sich anzusehen. Ist das nicht fürchterlich aufregend, es könnte sich ja auf der Farm wirklich etwas finden — Öl oder Uranium oder sowas Ähnliches — und er wird für uns danach suchen.«

Andrew lächelte über diesen Optimismus und fühlte sich erleichtert, daß wenigstens der Professor nicht die Absicht hatte, bei ihnen Aufenthalt zu nehmen. Er versicherte lebhaft, daß er sich natürlich immer freue, ihre Freunde von der Universität kennenzulernen, vor allem, wenn sie wie Grant seien, und ob der Professor auch zu denen gehöre, die sie auf ihrer Hochzeit eingeladen habe?

»Natürlich nicht. Er war nicht da, und außerdem hätte ich es nie gewagt. Er ist eine Respektsperson und sehr würdevoll, außerdem habe ich keine Vorlesung bei ihm gehört.« In diesem Augenblick kam ihre Tante herein und wurde über den erwarteten Besucher unterrichtet. »Du wirst ihn gerne mögen, Tante Hester. Er ist ganz genau dein Typ.«

»Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich, aber ich bin natürlich trotzdem hocherfreut, deinen berühmten Freund kennenzulernen. Dein lieber Großvater interessierte sich sehr für Geologie, und ein Professor aus Oxford hat einige Zeit mit uns im Orient verbracht. Das erinnert mich übrigens gerade daran, daß ich nach einem Namen für den kleinen Hund gesucht habe; wenn du damit einverstanden bist, werde ich ihn Parsival nennen.«

Lee seufzte: »Parsival — aber warum, Tante Hester?«

»Ein sehr unglücklicher junger Mann dieses Namens wurde einmal zu uns geschickt. Er war sehr klein und heiratete eine sehr herrische Frau. Natürlich hatte er einen Stammbaum — er besaß sogar einen Titel —, aber die Ähnlichkeit ist unverkennbar.«

Als sie allein waren, meinte Andrew mürrisch: »Glaub nur nicht, ich sei ein ungastlicher Mensch, aber unser Haushalt scheint etwas aus den Fugen zu geraten. Zwei Dauergäste, abgesehen von Tante Hester — die ich natürlich sehr gerne hier habe —, und jetzt noch eine Promenadenmischung und einen Professor.«

Lee brach in ein unbarmherziges Gelächter aus. »Du armer Mann, wie schwer du es hast, und dann bringst du den kleinen gelben Hund auch noch mit dem Professor zusammen. Zwei unterschiedlichere Wesen kann man sich kaum vorstellen — obwohl Parsival einfach ein Schatz ist und ganz glücklich in einer Schachtel in Tante Hesters Zimmer schläft. Und der Professor kommt ja nur zum Mittagessen — nicht zum Wohnen.«

»Vielleicht«, sagte Andrew. »Unter diesen Umständen würden es nur ein paar Stunden sein, aber ich glaube noch nicht daran.«

Später erklärte Lee, Andrew und Jean Macgregor sollten sich zusammentun: »>Macgregor und Marsden, Wahrsager und Kleine Propheten<. Damit würdet ihr viel Geld verdienen, viel mehr als mit der Landwirtschaft.«