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Vierzehn Tage später fuhren sie an einem sonnigen Nachmittag im späten Frühling durch endlose Haarnadelkurven, steile Hügel hinauf und hinunter, in Richtung Westküste und dem neuen Zuhause.

»Zu Hause«, murmelte Lee. »Wie phantastisch das klingt. Ich kann es kaum abwarten, bis ich es sehe. Schließlich ist es mein erstes Zuhause«, und dabei bebte ihre Stimme.

»Aber Liebling«, protestierte ihr Mann sanft, denn er war erfreut über diese Gefühlsregung, erinnerte sich aber an das große, eindrucksvolle Haus in dem modernen Vorort, wo Lee völlig zu Hause gewesen zu sein schien. »Da tust du Mr. Lovett unrecht. Er hat mir ein dutzendmal gesagt, daß du für ihn wie seine eigene Tochter seist.«

»Der gute alte Bernard, das sieht ihm gleich. Er war immer unheimlich lieb zu mir, aber trotzdem, eigentlich war es sein Zuhause, seines und Mutters. Es war kein bißchen so, als hätte man sein eigenes Haus. Das habe ich noch nie gehabt.«

Insgeheim dachte Andrew, daß nur selten unverheiratete zweiundzwanzigjährige Mädchen ein wirklich eigenes Zuhause hatten, aber er hatte schon entdeckt, daß mit Logik bei seiner Frau nichts zu machen war, und so sah er sie nur liebevoll an und sagte: »Ich wünschte nur, es wäre ein besseres Haus. Es wird dir einen Schock versetzen.«

»Wird es nicht. Es gehört uns, und wir werden es bald verschönern«, sagte Lee mit einem Optimismus, den ihr Stiefvater mißbilligt hätte. Dann lachte sie. »Das heißt, wenn wir jemals dort ankommen. Andrew, wieviele hundert Meilen haben wir jetzt schon von der Stadt aus zurückgelegt?«

»Nur fünfunddreißig, und wir haben noch ungefähr zehn vor uns. Müde?«

»Natürlich nicht. Ich bin nie müde. Es sieht nur alles so gleich aus, daß ich schon gedacht habe, du hättest vielleicht die falsche Richtung erwischt, und wir drehten uns im Kreis. Meilenweit Wald und nur hier und da eine Farm. Ich wußte gar nicht, daß es im ganzen Land noch soviel Wald gibt.«

In Wirklichkeit waren es nur ungefähr fünfzehn Meilen nicht eingezäunter Wald gewesen, und auch er wurde ab und an von einer Lichtung und einer Farm unterbrochen, aber Andrew führte das nicht weiter aus, denn er gewöhnte sich langsam an die Eigenschaft seiner Frau, unglaublich zu übertreiben. Es war nur ein Segen, daß der Wald sie nicht traurig machte, wie so viele Mädchen aus der Stadt, sondern daß sie immer wieder die Schönheit der Bäume pries.

Jetzt sagte er: »Hier müssen wir abbiegen. Diese Straße führt zu unserer Farm. Halt dich ordentlich fest. Sie ist nicht ganz ungefährlich.«

Das schien Lee eine Untertreibung zu sein. Es war eine beängstigende Straße, äußerst schmal, sogar schmaler als die eben verlassene, und sie fiel ganz steil zur Bucht hinunter ab. Aber sie vergaß alle Ängste, als das Meer in Sicht kam und brach in Freudenschreie aus. Offenbar lagen Haus und Farm an einer Bucht, denn die Straße führte daran entlang, und das Wasser war, so weit sie sehen konnte, still und blau. Vor sich erblickte sie in der Ferne eine Ansammlung von Häusern; es war Ruru, ihr nächstes Dorf, wie Andrew sagte.

»Ganz herrlich. Wunderbar stilles Wasser, und der Wald wächst fast bis hinein.«

»Jetzt ist Flut«, fühlte Andrew sich als ehrlicher Mensch verpflichtet zu erklären. »Viele Schlammpfützen, wenn sie zurückgeht.«

»Auch Schlammpfützen können schön sein«, erklärte Lee tapfer, und bald führte die Straße einen Hang hinauf auf einen niedrigen Hügel, und da lag vor ihnen die Farm und ihr Haus.

Der Wald hatte nun plötzlich aufgehört, und freies, rauhes, mit Gras bewachsenes Land bedeckte den Hügel, so weit sie sehen konnte. An der sanft abfallenden Hangseite lehnte sich ein niedriges sonderbar geformtes Haus, das von Schlingpflanzengewirr überwuchert war. Dieses, so sagte Andrew, sei wesentlich, weil es das Haus zusammenhalte. Rings herum Reste eines Gartens, den vor sehr langer Zeit irgend jemand einmal angelegt und geliebt hatte. Da waren einige Sträucher, die mutig um ihr Leben kämpften, eine verwilderte Grasfläche, früher wohl einmal Rasen, die sich vom Haus bis zur Straße erstreckte und die Aussicht auf das Binnenmeer freigab.

Lee sprang schnell aus dem alten Wagen, stand mit gefalteten Händen da, blickte begeistert um sich und sog tief den Geruch des Meeres und des großen Trompetenlilienbaums ein, der am Ende des verkommenen Rasens wuchs. Dann drehte sie sich mit leuchtenden Augen zu Andrew um und sagte: »Was für einen herrlichen Spaß wir beide hier allein haben werden.«

»Wirst du auch bestimmt nicht einsam sein? Natürlich haben wir Nachbarn.«

»Nachbarn? Wer will denn Nachbarn? Und wie könnte ich einsam sein, wenn ich mit dir alleine bin?«

Lange Zeit sollte sie wenig Gelegenheit haben, diese Frage zu beantworten. Später schlenderten sie langsam um das Haus, Hand in Hand, wie Kinder, und Andrew wartete heimlich auf ein Zeichen von Bestürzung, wie er sie empfunden hatte, als er zum ersten Mal diese planlos angelegten Zimmer betrat, von denen eines ins andere führte. Aber er konnte nichts entdecken. Lee war voll fröhlicher Pläne.

»Was für ein herrlich großes Wohnzimmer. Die Aussicht ist wunderbar. Wir werden alle diese scheußlichen Tapeten abreißen — sie fallen sowieso schon ab — und etwas Neutrales nehmen, und das Gebälk streichen wir in einem warmen Weiß, und…«

Der Grundriß des Hauses war verhältnismäßig einfach. An der Vorderseite führte eine lange Veranda vorbei, und von dort aus ging es in das Wohnzimmer, dieses führte wiederum in drei Schlafzimmer, ein großes auf einer Seite, zwei kleinere auf der anderen. Hinter dem Wohnzimmer lag eine geräumige Küche, die in ein Badezimmer und in einen Waschraum mit einem Schlafzimmer auf der anderen Seite mündete.

Lee hatte mit jedem Zimmer etwas vor. Da Andrew ihre Angewohnheit, ehrgeizige Pläne zu schmieden und sie dann völlig zu vergessen, noch nicht kannte, sah er etwas beunruhigt aus. Als sie das jetzt gewahr wurde, blickte sie ihn ziemlich schuldbewußt an und sagte: »Wir haben noch die ganzen Schecks von der Hochzeit. Diese irische Tante, Vaters Schwester, hat eine Riesensumme geschickt — vermutlich, weil ich ihre einzige Nichte und ihr Patenkind bin und sie noch nie gesehen habe. Gott sei Dank hat Bernard sich auch zu Geld entschlossen. Ich war entsetzt, als er große Teppiche vorschlug, habe aber nur gesagt: >Lieber, stell’ dir nur einmal Schlamm und Gummistiefel vor<, und da hat er uns stattdessen einen Scheck geschenkt. Hier gehören gebeizte Böden und kleine Vorleger rein, und dann können wir fast das ganze Geld zum Instandsetzen der Zimmer verwenden. Weißt du — Farbe und Tapeten und so.«

Andrew stimmte ohne übermäßige Begeisterung zu. Er konnte sich schon denken, wer anstreichen und tapezieren würde, und schließlich mußte man sich auch noch um die Farm kümmern.

»Ich mag einfach viel Zimmer, auch wenn sie eine komische Form haben und ineinander verschachtelt sind. Es gibt nichts Schöneres als Bewegungsfreiheit.«

»Da wir gerade bei Bewegungsfreiheit sind, komm und sieh dir das Badezimmer an.«

Sogar Lee schreckte ein bißchen zurück. Der Raum war groß genug für ein Eßzimmer, offensichtlich handelte es sich um ein weiteres Schlafzimmer, in dessen einer Ecke man einfach eine Badewanne aufgestellt und für ein Rohr ein Loch durch die Außenwand gebrochen hatte. Die Zinkwanne war leicht verrostet, ohne Emaille und Anstrich, und erhob sich schwer auf dicken Eisenfüßen. In einer anderen Ecke befand sich eine Waschgelegenheit, die in finsterem Schwarz gestrichen und mit buntem Porzellan ausgekleidet war. An einem großen, mit purpurnen Iris und roten Schmetterlingen verzierten Becken waren ein Seifenhalter und ein hoher vasenartiger Gegenstand, der offensichtlich Zahnbürsten beherbergen sollte, angebracht. Aber Lees besondere Aufmerksamkeit gehörte den Porzellanteilen, die ganz bescheiden auf dem unteren Regal lagen.

»Ich habe einmal etwas darüber gelesen, aber ich wußte nicht, daß es noch welche auf der Welt gibt. Oh guck mal, da ist ein Kärtchen im Becken.« Es war mit einer verschnörkelten Schrift beschrieben: »Ein Hochzeitsgeschenk. Die besten Wünsche von Mr. Alf Parsons.«

»Der gute alte Mann. Ich frage mich, ob er das extra gekauft hat. Wo hat er das nur aufgetrieben? Und alles passend. Aber wir werden es lassen, wie es ist. Das ist ein Museumsstück, und außerdem können wir uns sonst nirgends die Hände waschen.«

Es gab wirklich nur einen Wasserhahn, und zwar über dem Bad. Offensichtlich war kein heißes Wasser vorgesehen. Lee war völlig ungerührt und sagte, man könne jederzeit einen Petroleumbehälter auf den Ofen setzen, und außerdem sei es das richtige Klima für kalte Bäder. Andrew lachte.

»Ich wette, du hast vielleicht im Sommer nach dem Tennis einmal kalt gebadet, mehr weißt du nicht darüber, und bestimmt bist du noch nie in deinem Leben ohne ein heißes Bad ins Bett gegangen.«

»Liebling, du mußt dir wirklich nicht den Kopf über Kleinigkeiten zerbrechen. Das tun abgehärtete Abenteurer nicht.«

Die Küche war groß, aber ziemlich dunkel. »Das ist dieser gräßliche Anstrich. Warum sind alleinstehende Männer immer für dunkelbraun? Das ist wie ein Warenzeichen. Ein weißer Anstrich wird ganz anders aussehen.«

Sie entschieden sich für das große Schlafzimmer mit Blick auf das Meer. Durch seine altmodischen Flügelfenster, die nicht ganz schlossen, steckten die Jasminranken, welche die Vorderfront des Hauses überzogen, ihre Sternenköpfchen. Das entzückte Lee so, daß sie über die unebene Wand und die sich ablösenden Tapeten nur lachte.

Der Fuhrmann hatte ihre Sachen am Tag zuvor gebracht, und das ganze Haus war mit Paketen und Koffern übersät. Sie wußten, daß sie daraus jetzt die notwendigsten Sachen heraussuchen sollten, denn die Dämmerung brach schon herein, aber sie blieben noch am Fenster und beobachteten die von der untergehenden Sonne rot gefärbten Wolken, berauschten sich am Jasminduft und am Geruch des angeschwemmten Tangs.

Plötzlich schreckte Lee mit einem überraschenden Aufschrei zurück, als etwas Großes, Weißes an ihrem Gesicht vorüberschoß. »So eine große Möwe, und daß sie so spät noch hier herumfliegt?«

Andrew, der über ihre Schulter geschaut hatte, lachte. »Das ist keine Möwe. Es ist eine von Parsons alten Hennen. Sie schlafen in den Bäumen. Guck mal, da ist sie, sie sitzt auf dem Zweig da. Er konnte sie nicht mit in die Stadt nehmen, deshalb hat er sie uns dagelassen.«

»Noch ein Hochzeitsgeschenk. Wie nett von ihm. Wir werden unsere eigenen Eier haben.«

»Ich glaube kaum, daß sie viel legen werden. Sie sahen genauso alt aus wie Alf. Aber wahrscheinlich geben sie eine anständige Suppe ab.«

»Suppe? Du willst sie doch nicht etwa schlachten? O Andrew, wie kannst du nur? Die armen alten Tiere. Wir wollen sie als Haustiere halten. Ich hoffe, sie sind nicht halb verhungert.«

»Wohl kaum. Alf ist erst heute morgen abgereist. Er sagte auch irgendwas von seiner Katze.«

»Hurra. Ich möchte eine Katze. Ich habe mich mein Leben lang so nach Tieren gesehnt. Es macht dir doch nichts, wenn das meine Haustiere werden, oder, Andrew? Weißt du, du hast ja deine Arbeitshunde.«

Andrew, der zwar ein sehr gütiger Mensch war, aber doch die Meinung eines Farmers über unnütze Haustiere vertrat, gab in diesem Punkt großzügig nach.

Plötzlich sagte Lee: »Was ist das für ein ständiges Geräusch im Hintergrund? Wie leises Löwengebrüll.«

»Das ist die Brandung an der Küste. Weißt du, wir sind hier auf einem breiten Kamm, der die Binnenbucht vom Ozean trennt. Du brauchst nur den Hügel hinaufzuklettern und auf der anderen Seite hinunterzulaufen, dann siehst du die Brandung.«

»Oh, das ist ja ganz phantastisch. Wir können an diesem stillen Strand Flundern aufspießen bei Ebbe und in der Brandung baden. Ich liebe hohe Wellen.«

»Da ist auch noch eine Farm, die bewirtschaftet werden will. Es gibt viel Arbeit. Kaputte Zäune, schreckliche Stacheldrahtdurchgänge, Farn muß ausgerissen werden, und die zweite Saat kommt.«

»Macht nichts. Ich werde dir helfen. Natürlich steht die Farm an erster Stelle. Nichts ist besser, als ein sehr praktischer Mensch zu sein, du siehst die Dinge richtig. Als erstes gehen wir morgen früh hinaus. Ganze siebenhundert Morgen für uns allein.«

Nur ungern ließen sie das Fenster und die Aussicht im Stich und begannen, in dem Durcheinander von Gepäck nach dem Notwendigsten für die Nacht zu suchen, nach dem Bettzeug, etwas Geschirr und der unerläßlichen Pfanne.

Lee betrachtete sie skeptisch.

»Müssen wir heute abend kochen? Was hältst du von Brot und Käse? Der Ofen sieht so finster aus«, und dabei schielte sie mißtrauisch nach dem großen schwarzen Ungeheuer, das am Kamin lauerte.

»Hast du schon mal einen gesehen?« fragte Andrew.

»Ich meine, mich daran zu erinnern, als ich noch klein war und wir ein Haus am Meer hatten. Mutter hatte Ruß im Haar, und das Essen war immer angebrannt oder halb roh. Aber ich werde mich schnell daran gewöhnen.«

Aber sie war doch erleichtert, als Andrew einen Spirituskocher hervorholte und sagte, er würde heute abend Eier mit Schinken braten. Lee beäugte die technische Neuheit skeptisch und fragte sich insgeheim, wie sie ohne Strom zurechtkommen sollte. Schon im Dämmerlicht hatte sie gemerkt, wie sie nach einem Lichtschalter tastete.

Aber Andrew stellte stolz eine Reihe Lampen auf den Tisch und sagte: »Ich habe das Ganze spottbillig vom alten Parsons gekauft, weil er in die Stadt zieht. Zwei Karbidlampen für die Wohnzimmer und vier Petroleumlampen für die Schlafzimmer. Ob ich damit umgehen kann? Aber sicher. Ich habe auf einem Hof im Hinterland gearbeitet, wo es nichts anderes gab. Sobald wir richtig eingerichtet sind, installieren wir unsere eigene Dynamomaschine. Sinnlos, sich um öffentlichen Strom zu bemühen. Der wird doch ständig abgestellt. Am besten, man ist unabhängig.«

Lee sah ihn mit bewundernden Blicken an. Was für ein Glück, daß sie einen Mann geheiratet hatte, der echten Pioniergeist besaß.

 

Lee wurde früh wach und fühlte sich von fremden Augen beobachtet. Sie setzte sich auf und schaute sich in dem nackten Zimmer mit den vorhanglosen Fenstern und den halbausgepackten Koffern um und atmete fröhlich auf. Während der letzten vierzehn Tage hatte sie in vielen fremden Betten geschlafen. Jetzt war sie zu Hause.

Dann sah sie einen großen gelben Kater, der sie auf der Schwelle unverwandt anstarrte. Behutsam schlug sie das Bettzeug zurück. Andrew schlief noch, er ließ sich von dem forschenden Blick nicht stören. Sie schlüpfte aus dem Bett, ging ganz vorsichtig auf ihn zu und flüsterte mit angehaltenem Atem etwas kindisch: »Pussy, arme Pussy.« Zu ihrer Freude rannte der Kater nicht weg; er kam auch nicht auf sie zu. Er saß nur einfach da und starrte verwirrt in die Gegend.

Lee streckte sanft die Hand aus und streichelte den dicken viereckigen Kopf. Einen Augenblick lang saß der Kater reglos da, dann stand er langsam auf, machte einen Buckel, und mit einem lauten heiseren Schnurren rieb er sich an Lees Beinen. Er hatte sie akzeptiert.

Als Andrew aufwachte, fand er seine junge Frau friedlich schlafend, ein großer gelber Kopf neben dem ihren auf dem Kopfkissen. Der Kater, der sich an einem für ihr Mittagessen gedachten Steak reichlich gelabt hatte, hatte beschlossen, daß er mit diesen neuen Verhältnissen sehr zufrieden war.

Andrew seufzte. Eigentlich mochte er eine Katze nicht gerne in seinem Bett, aber er merkte schon jetzt, daß nichts dagegen zu tun war. Er hatte eine Tierfanatikerin geheiratet, die um so vernarrter war, weil man ihre Leidenschaft so viele Jahre lang unterdrückt hatte. Er stand leise auf und ging hinaus, um den Kampf mit dem Ofen aufzunehmen.

Zwanzig Minuten später wurde Lee von einem lauten Knurren an ihrem Ohr geweckt. Der Kater saß auf ihrem Kopfkissen und starrte auf die Fensterbank, wo eine zerzauste Henne herumspazierte und der Bedrohung aus dem Bett kreischend Trotz bot. Es handelte sich sicher um eine alte Fehde.

Als Andrew mit einer Tasse Tee hereinkam, bestand sie darauf, etwas Butter und Brot auf die Fensterbank zu streuen. Mit einem dankbaren Gackern nahm die betagte Henne ihre Mahlzeit an, und Lee rief fröhlich:

»Ist sie nicht süß? Jag sie nicht fort, bevor sie fertig ist. Sie sucht sicher nach Mr. Parsons. Ich finde das richtig rührend.«

Das, so erkannte Andrew später im Rückblick, war der Beginn seiner Leiden. Nicht, daß er Tiere haßte, aber er war dafür, sie an ihrem Platz zu halten, und der Platz einer Katze war nicht in seinem Bett und der einer Henne nicht auf der Fensterbank. Lee streichelte den Kater und sagte: »Ist er nicht herrlich?«

»Großes häßliches Ungetüm. Sieh dir nur seinen knochigen kahlen Schwanz an.«

»Er ist genau wie der Kater in Frühstück bei Tiffany. Wir wollen ihm nicht irgendeinen albernen Namen geben. Wir werden ihn >Kater< nennen, wie in dem Film«, und dabei blieb es dann auch.

Das Frühstück wurde von Kisten als Picknick auf der Veranda eingenommen, damit sie die Aussicht genießen konnten. Lee sagte: »Das Beste am Leben auf einer Farm ist, daß man so viele Tiere haben kann. Erzähl mir mal, was wir eigentlich alles besitzen.«

Es war nicht gerade wenig, aber Andrew war beruhigt, weil er wußte, daß die meisten sicher draußen auf den Weiden bleiben würden. Er begann gewissenhaft: »Ich habe tausend Schafe von Parsons übernommen, siebenhundert davon sind Mutterschafe, der Rest einjährige Schafe. Dann fünfzig Rinder und fünf Pferde — zwei schwere, weil Parsons immer einen Schlitten benutzte und keinen Traktor besaß, und ich kann mir auch noch keinen leisten. Die anderen drei sind normale Reitpferde, sehr nützlich für die Hügel.«

»Schafe und Rinder und Pferde und Geflügel und deine zwei Hunde«, in den Ohren ihres Mannes klang Lees Aufzählung beunruhigend wie ein Triumphgesang. »Dann bekommen wir bestimmt Kälber und hunderte von Lämmern und...«

»Gott sei Dank keine Kätzchen. Und jetzt ist’s höchste Zeit, daß ich hinausgehe und nach dem Rechten sehe. Die Schafe haben wahrscheinlich noch nicht alle geworfen. Deshalb helfe ich dir nur schnell, die Möbel an Ort und Stelle zu bringen, und dann fange ich mir ein Pferd ein.«

»Zwei Pferde«, verbesserte Lee bestimmt. »Liebling, ich muß dagegen kämpfen, nur Hausfrau zu sein. Ich würde so gräßlich langweilig werden.«

Andrew stimmte ihr ernst zu, obwohl er nicht glaubte, daß Lee sehr zu kämpfen haben würde, und sie fuhr lebhaft fort: »Übrigens, in meinem Horoskop für heute steht: >Scheuen Sie sich nicht, mit der gewohnten Routine zu brechen. Beweisen Sie Einfallsreichtum, und Sie werden neue Freunde gewinnen<.«

»Willst du damit sagen, daß du in dem Buch dieser Frau nachgeguckt hast?«

»Natürlich! Du wirst also nichts dagegen haben, wenn ich heute nicht viel Hausarbeit erledige, oder?«

»Was dagegen haben? Ich fände es schrecklich, wenn du ein Hausmütterchen würdest. Diese Sorte Frauen kann ich nicht ausstehen. Zum Henker mit dem Haus. Wir werden ein paar Sachen in die richtigen Zimmer feuern, und dann zeige ich dir die Farm.«

Sie waren gerade dabei, einen schweren Tisch hochzuheben, als Lee plötzlich sagte: »Was passiert, wenn ein armes kleines Lämmchen seine Mutter verliert? Ich habe gehört, Schafe sollen so dumm sein, daß ein Mutterschaf, wenn es Zwillinge hat, sich manchmal nur um eines kümmert. Und was geschieht mit dem anderen?«

Da Andrew Gefahr witterte, antwortete er ausweichend:

»Oh, normalerweise gibt man es einem anderen Mutterschaf.«

Lee setzte ihr Tischende ab und fragte ganz direkt: »Und wenn man das nicht tut? Was hat man mit den Lämmern auf dem Hof gemacht, wo du gearbeitet hast?«

»Na ja, auf einem Hof haben die Schäfer keine Zeit, sich mit jedem mutterlosen Schaf zu beschäftigen«, begann er abwehrend. »Man hat eben sein Bestes getan, oder aber...«

Die Vorsicht gebot ihm, innezuhalten, aber Lee hatte nicht die geringste Absicht, es auf sich beruhen zu lassen. »Oder aber?« wiederholte sie in anklagendem Ton.

»Na ja, man konnte sie ja nicht verhungern lassen. Es war besser, mit ihnen Schluß zu machen.«

»Das habe ich mir gedacht. Wie kann man nur so grausam sein?« wetterte sie, und dann plötzlich mit zuckersüßer Stimme: »Aber so etwas werden wir mit hilflosen kleinen Lämmchen nie tun, nicht wahr?«

Andrew sah gereizt aus und murmelte etwas über süße kleine Lämmchen, die nichts als eine Plage seien. »Sie bringen keinen Gewinn. Du verschwendest Zeit und Milch an sie, und sie gehen in deinen Garten und fressen deine ganzen Sämlinge. Wenn wir eine Milchfarm hätten und viel Milch, dann wäre es nicht so schlimm, aber ich melke nur eine Kuh, und das ist nicht genug für uns und kleine Lämmchen.«

Lee nahm ihr Tischende wieder hoch und bemerkte nur, Andrew habe gestern abend gesagt, daß es auf der Farm mehrere Milchkühe gebe, und außerdem könne man ja noch immer Büchsenmilch nehmen, aber Andrew fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Jetzt sagte sie: »So, das ist schon mal prima. Wir haben einen Durchgang bis zur Küche, lassen wir es also heute morgen dabei. Du holst die Pferde, Liebling, und ich werde im Gepäck nach meinen Reithosen wühlen.«

Als Andrew mit dem Zaumzeug den Hügel hinaufstieg, dachte er, daß sie voller Überraschungen steckte. Wer hätte erwartet, daß ihr soviel an der Farm und so wenig am Haus liegen würde? Aber er fürchtete, daß es ihr bald langweilig würde, über die Hügel zu reiten. Er wußte, daß sie viel geritten war, aber sicher auf guttrainierten Reitpferden auf einer guten Straße oder vielleicht auf einem Mietpferd im Reitclub. Reiten über holpriges Land würde sehr ungewohnt für sie sein.

Aber auch hier hatte er seine Frau unterschätzt. Zu seiner Überraschung schwang sie sich behende in den Sattel, und sie hatten noch nicht die erste Koppel durchquert, da merkte er, daß Lee nicht nur die geborene Reiterin war, sondern auch viel mehr Erfahrung besaß, als er vermutet hatte.

»Aber natürlich. Ich habe meine Freundinnen immer sorgfältig unter Mädchen vom Lande ausgesucht, die gerne ritten. Sie haben mich in den Ferien eingeladen, und den größten Teil der Zeit verbrachten wir auf den Pferden.«

Hier war sie ausgesprochen in ihrem Element, viel mehr, gestand er sich ein, als in der Küche. Das Leben mit diesem Mädchen würde nicht aus geregelten Mahlzeiten bestehen, aber das war um so besser.

In einem Punkt wollte er jedoch fest bleiben. Es gab keine Hauslämmchen. Er würde keine zweite Kuh melken, um sie aufzuziehen oder Lee bei jedem Unwetter nach ihnen suchen lassen. Sie verstand überhaupt nichts von Schafen. Man konnte ihr leicht verheimlichen, daß bei Parsons Art die Farm zu führen sehr wahrscheinlich ein paar mutterlose Lämmer herumliefen.

So ist es denn bedauerlich, berichten zu müssen, daß drei Stunden später jeder mit einem Lämmchen vorne auf dem Sattel nach Hause ritt und daß Lee schon vor Ablauf einer Woche fünf Hauslämmchen pflegte, so daß er sich gezwungen sah, eine zweite Kuh hereinzuholen, um in Zukunft auch diese zu melken.

An diesem Morgen jedoch begann er zum ersten Mal das Hochzeitsgeschenk von der dünnen dunklen Frau mit dem hungrigen Blick zu hassen. Denn Lee lächelte ihn an, als sie ihr Lämmchen in eine Heukiste im Stall legte und sagte:

»So, beweist das nun nicht, daß an Horoskopen doch etwas dran ist? Wäre ich der Routine gefolgt und im Haus geblieben, hätten wir nie diese süßen Lämmchen bekommen.«