Der Junge war ganz sicher, daß Akka und die andern Wildgänse alles dies gehört hatten, aber trotzdem verging der ganze Freitag, ohne daß ihm gesagt worden wäre, er dürfe jetzt bei ihnen bleiben.
Bis zum Samstag durften die Wildgänse auf den Äckern bei Öved weiden, ohne von Smirre gestört zu werden. Aber als sie am Samstag früh auf das Feld hinüberkamen, lag er da im Hinterhalt und verfolgte sie von einem Acker zum andern. Als nun Akka sah, daß er sie durchaus nicht in Ruhe lassen wollte, faßte sie einen raschen Entschluß, sie erhob sich hoch in die Luft und flog mit ihrer Schar mehrere Meilen weit über die Ebenen von Färs und dem Linderöder Bergrücken hin. Dort ließen sie sich in der Gegend von Vittskövle nieder. Dann wurde es wieder Sonntag. Eine ganze Woche war nun vergangen, seit der Junge verzaubert worden war, und noch immer war er ebenso klein wie am ersten Tage.
Aber es sah nicht aus, als ob ihm das großen Kummer machte. Am Sonntagnachmittag saß er auf einem großen, dichten Weidenbusch am Seeufer und blies auf einer Weidenpfeife. Ringsumher saßen so viele Meisen und Buchfinken und Stare, als auf dem Gebüsch Platz hatten, und zwitscherten ihre Weisen, die der Junge nachzublasen versuchte. Aber der Junge verstand sich nicht besonders auf diese Kunst; er blies so falsch, daß sich den kleinen Lehrmeistern alle Federn sträubten und sie in hellem Entsetzen schrien und mit den Flügeln schlugen. Der Junge aber lachte so herzlich über ihren Eifer, daß ihm die Pfeife entfiel.
Wieder begann er zu blasen, aber auch diesmal ging es nicht besser, und die ganze Vogelschar jammerte: „Heute spielst du noch schlechter als sonst, Däumling! Du bringst keinen reinen Ton heraus. Wo hast du nur deine Gedanken, Däumling?“
„Die sind anderswo,“ antwortete der Junge. Und das war ganz wahr. Er mußte immerfort daran denken, wie lange er wohl noch bei den Wildgänsen bleiben dürfte, und ob er am Ende schon an diesem Tage noch fortgeschickt werde.
Doch plötzlich warf der Junge die Pfeife weg und sprang von dem Weidenbusch herunter, denn er sah Akka und alle Gänse in einer langen Reihe auf sich zukommen. Sie schritten ungewöhnlich langsam und feierlich daher, und dem Jungen wurde sogleich klar, daß er jetzt erfahren werde, was sie mit ihm zu tun gedächten.
Als die Gänse schließlich vor ihm stehen blieben, sagte Akka:
„Du hast allen Grund, dich über mich zu verwundern, weil ich mich noch nicht bei dir bedankt habe, daß du mich aus Smirres Klauen errettet hast. Aber ich gehöre zu denen, die lieber mit Taten als mit Worten danken. Und ich glaube, lieber Däumling, daß es mir gelungen ist, dir einen großen Dienst zu erweisen. Ich habe nämlich an das Wichtelmännchen, das dich verzaubert hat, Botschaft geschickt. Zuerst wollte es nichts davon hören, dich wieder in deine alte Gestalt zu verwandeln, aber ich habe eine Botschaft um die andre geschickt und ihm mitteilen lassen, wie gut du dich hier bei uns aufgeführt hast. Jetzt läßt es dich grüßen und dir sagen, daß du, sobald du wieder nach Hause zurückgekehrt seiest, wieder ein Mensch werden würdest.“
Aber wie merkwürdig! Ebenso vergnügt wie der Junge gewesen war, als Akka zu sprechen angefangen hatte, ebenso betrübt war er, als sie zu sprechen aufhörte. Er sagte kein Wort, sondern wendete sich nur ab und weinte.
„Was soll denn aber das bedeuten?“ fragte Akka. „Es sieht aus, als habest du mehr von mir erwartet, als ich dir jetzt geboten habe.“
Aber der Junge dachte an sorgenfreie Tage und lustige Neckereien, an Abenteuer und Freiheit und an die Reisen hoch über der Erde hin, deren er nun verlustig gehen würde, und er weinte laut vor Kummer und Betrübnis. „Ich mache mir nichts daraus, wieder ein Mensch zu werden!“ schluchzte er. „Ich will mit euch nach Lappland!“
„Ich will dir etwas sagen,“ erwiderte Akka. „Das Wichtelmännchen ist sehr leicht verletzt, und ich fürchte, es werde dir schwer werden, es ein andres Mal zu deinen Gunsten zu stimmen, wenn du sein Anerbieten jetzt ausschlägst.“
Es war von jeher merkwürdig gewesen, daß dieser Junge noch niemals jemand eigentlich lieb gehabt hatte, weder Vater noch Mutter, noch den Schullehrer, noch die Schulkameraden, noch die Jungen auf den Nachbarhöfen. Alles, was sie je von ihm verlangt hatten, einerlei, ob es sich um Spiel oder Arbeit handelte, war ihm langweilig vorgekommen. Deshalb gab es jetzt auch keinen Menschen, nach dem er sich gesehnt oder den er vermißt hätte.
Die einzigen, mit denen er sich einigermaßen vertragen hatte, waren das Gänsemädchen Åsa und ihr Bruder Klein-Mats gewesen, ein paar Kinder, die wie er auch Gänse hüteten. Aber auch mit ihnen verband ihn keine richtige Freundschaft. O nein, ganz und gar nicht!
„Ich will nicht wieder ein Mensch werden!“ schluchzte der Junge. „Ich will euch nach Lappland begleiten! Deshalb bin ich eine ganze Woche lang artig gewesen.“
„Es soll dir nicht verweigert werden, uns zu begleiten, so lange du Lust hast,“ sagte Akka. „Aber überlege dir nun zuerst, ob du nicht lieber nach Hause zurückkehren möchtest. Es könnte ein Tag kommen, wo du es bereutest.“
„Nein,“ sagte der Junge, „da ist nichts zu bereuen. Es ist mir noch nie so gut gegangen, wie hier bei euch.“
„Nun, dann sei es also, wie du willst,“ sagte Akka.
„Danke, danke!“ rief der Junge. Und er fühlte sich so glücklich, daß er jetzt ebenso vor Freude weinen mußte, wie er vorher vor Kummer geweint hatte.