49
Ein kleiner Herrenhof
Donnerstag, 6. Oktober
Die Wildgänse folgten dem Lauf des Klarälf bis zu den großen Fabriken bei Munkefors. Dann wendeten sie sich nach Westen dem Fryksdal zu. Aber bevor sie den Frykensee erreicht hatten, begann es zu dunkeln, und so ließen sie sich auf einem flachen Moor in einem Bergwald nieder. Das Moor war nun freilich ein ganz gutes Nachtquartier für die Wildgänse; aber Nils Holgersson fand es kalt und unbehaglich, und er hätte gerne einen besseren Platz zum Schlafen gehabt. Während sie noch in den Lüften droben gewesen waren, hatte er am Fuß des Berges einige Höfe gesehen, und nun eilte er rasch dorthin, um eines von diesen Häusern zu erreichen. Der Weg war länger, als er geglaubt hatte, und er fühlte sich wiederholt versucht, wieder umzukehren. Aber endlich lichtete sich der Wald, und er gelangte auf eine Landstraße, die am Waldessaum hinlief. Von der Straße führte eine schöne Birkenallee nach einem Herrenhofe, und der Junge richtete sogleich seine Schritte dahin.
Er gelangte zuerst auf einen von roten Gebäuden umgebenen Platz, der so groß wie ein Marktplatz war. Als der Junge diesen Hof durchschritten hatte, kam er in einen zweiten Hof, und da sah er das Wohnhaus mit seinen Seitenflügeln, mit einem Kiesweg und einem großen Rasenplatz davor und einem großen Garten mit vielen Bäumen dahinter. Das Hauptgebäude selbst war nur klein und unansehnlich; aber der Rasen war von einer Reihe mächtiger Ebereschen eingefaßt, die so dicht standen, daß sie eine ganze Allee bildeten, und dem Jungen war es, als sei er in einen prächtigen hochgewölbten Saal hineingekommen. Oben darüber schimmerte ein blaßblauer Himmel, die Ebereschen hatten gelbe Blätter und große, rote Beerenbüschel; der Rasen war zwar noch grün, aber an jenem Abend goß der Mond einen so strahlend hellen Glanz vom Himmel herab, daß das Gras wie Silber glänzte.
Kein Mensch war zu sehen, der Junge konnte also frei umhergehen, wo er wollte, und als er in den Garten kam, entdeckte er etwas, das ihn sofort in gute Laune versetzte. Er war auf eine kleine Eberesche geklettert, um einige Vogelbeeren zu essen; aber ehe er einen von den roten Büscheln abgebrochen hatte, fiel sein Blick auf einen Ahlkirschenbaum, der auch voller Früchte stand. Rasch ließ er sich von der Eberesche hinabgleiten und kletterte auf den Ahlkirschenbaum; aber kaum saß er da droben, als er einen Johannisbeerstrauch erblickte, an dem noch lange rote Träubchen hingen. Ach, und jetzt sah er, daß der ganze Garten voller Stachelbeeren, Himbeeren und Hagebutten war! Im Gemüsegarten standen Rüben und Kohlraben, an allen Sträuchern hingen Beeren, alle Pflanzen hatten reifen Samen und die Grashalme kleine, dicke Ähren. Und dort auf dem Gange – nein, er täuschte sich doch wohl nicht – da lag wirklich vom Mondschein hell erleuchtet ein prächtiger großer Apfel!
Der Junge setzte sich hinter seinen großen Apfel auf den Wegrand und schnitt sich mit seinem Taschenmesser kleine Stückchen davon ab. Wie das schmeckte! „Ja wenn man nur immer so leicht zu einer guten Mahlzeit käme wie hier in diesem Hofe, dann könnte man schließlich schon sein Leben lang ein Wichtelmännchen bleiben,“ dachte der Junge.
Während er aß, kamen ihm allerlei Gedanken, und schließlich meinte er, ob es nicht vielleicht ebensogut wäre, wenn er gleich hier bliebe und die Wildgänse allein weiter ziehen ließe.
„Ich weiß eben gar nicht, wie ich dem Gänserich begreiflich machen soll, daß ich nicht heimkehren kann,“ dachte er. „Da wäre es gewiß besser, ich trennte mich vollständig von ihm. Ich könnte es ja dann wie die Eichhörnchen machen: mir einen Wintervorrat sammeln, damit ich nicht zu verhungern brauchte; und im Kuh- oder Pferdestall fände sich wohl auch ein warmes Winkelchen für mich, dann brauchte ich auch nicht zu erfrieren.“
Während er noch darüber nachdachte, hörte er ein leichtes Rauschen über seinem Kopfe; und gleich darauf stand neben ihm auf dem Boden etwas, was einem kleinen Birkenstumpfe glich. Der Stumpf wendete und drehte sich, zwei helle Punkte oben auf dem Gipfel glühten wie zwei Kohlen. Es sah wie ein schrecklicher Zauberspuk aus; aber nach ein paar Augenblicken entdeckte der Junge, daß der Stumpf einen gekrümmten Schnabel und um die glühenden Augen einen großen Federkranz hatte, und da beruhigte er sich wieder.
„Ei wie angenehm, daß ich ein lebendes Wesen hier antreffe,“ begann er. „Vielleicht könnt Ihr, Frau Nachteule, mir mitteilen, wie dieses Gut hier heißt, und was für Leute hier wohnen?“
Die Nachteule hatte wie alle Abend, so auch heute auf der Stufe einer großen Leiter gesessen, die am Dach lehnte, und von da auf dem Kiesweg und dem Rasen nach Mäusen ausgespäht. Aber zu ihrer großen Verwunderung hatte sie nicht ein einziges langgeschwänztes Mäuschen entdecken können. Statt dessen gewahrte sie plötzlich, daß sich drunten im Garten etwas bewegte, das einem Menschen glich, aber viel kleiner war als jedes menschliche Wesen.
„Da haben wir wohl den, der die Mäuse verscheucht,“ dachte die Nachteule. „Was mag aber das nur für ein Wesen sein?“
„Es ist kein Eichhörnchen und ist auch kein junges Kätzchen und ebensowenig ein Wiesel,“ dachte die Eule weiter. „Nun hätte man doch geglaubt, ein Vogel, der so lange auf einem alten Herrenhofe gewohnt hat wie ich, sollte nachgerade wissen, was für Geschöpfe es auf der Welt gibt, aber dies hier geht über meinen Verstand.“
Sie starrte das Ding, das sich drunten auf dem Kiesweg bewegte, unverwandt an, und ihre Augen glühten. Schließlich aber gewann die Neugierde die Oberhand; sie flog auf den Boden hinunter, um sich das fremde Geschöpf in der Nähe zu betrachten.

Als Nils Holgersson zu sprechen anfing, beugte sich die Eule vor und sah ihn genau an. „Er hat weder Krallen noch einen Stachel,“ dachte sie; „aber wer weiß, ob er nicht einen Giftzahn oder sonst eine Waffe hat, die noch gefährlicher sein könnte. Es ist gewiß am besten, ich verschaffe mir zuerst etwas nähere Auskunft über ihn, ehe ich mich mit ihm einlasse.“
„Der Hof heißt Mårbacka,“ sagte sie dann; „und in früheren Zeiten haben ausgezeichnete Menschen hier gewohnt. Aber wer bist denn du?“
„Ich habe die Absicht, mich hier niederzulassen,“ sagte der Junge, ohne eine direkte Antwort auf die Frage der Nachteule zu geben. „Meint Ihr, das ließe sich einrichten?“
„O ja, obgleich der Hof jetzt nichts Besonderes mehr ist, im Vergleich zu dem, was er früher war,“ antwortete die Eule. „Aber man kann immerhin hier leben; es kommt ja auch hauptsächlich darauf an, wovon du hier leben willst. Hast du im Sinn, dich auf die Mäusejagd zu legen?“
„Nein, Gott soll mich davor bewahren!“ rief der Junge. „Es ist wohl mehr Gefahr vorhanden, daß die Mäuse mich auffressen, als daß ich ihnen ein Leid antue.“
„Ob er wirklich so wenig gefährlich ist, wie er sagt? Das ist doch wohl nicht möglich,“ dachte die Eule; „aber ich glaube, ich will doch einen Versuch machen.“ Sie flog auf, und im nächsten Augenblick hatte sie ihre Krallen in Nils Holgerssons Schultern geschlagen und hackte nun nach seinen Augen. Nils hielt die eine Hand zum Schutz vor die Augen, während er sich mit der andern zu befreien suchte und zugleich aus Leibeskräften um Hilfe schrie. Er fühlte, daß er in wirklicher Lebensgefahr schwebte, und sagte sich, diesmal werde es ganz gewiß aus mit ihm sein.
Aber nun muß ich erzählen, wie wunderbar es sich traf, daß gerade in diesem Jahre, wo Nils Holgersson mit den Wildgänsen umherzog, in Schweden eine Schriftstellerin war, die ein Buch über Schweden schreiben sollte, das den Kindern als Lesebuch in der Schule dienen könnte. Von Weihnachten bis zum Herbst hatte sie sich über ihre Aufgabe besonnen; aber bis jetzt war noch nicht eine einzige Zeile an dem Buche geschrieben, und schließlich war sie der ganzen Aufgabe so überdrüssig geworden, daß sie sich sagte: „Auf diese Weise bringst du nichts zustande, setz dich lieber hin und dichte Geschichten und Märchen wie sonst, und laß jemand anders dieses Buch schreiben, das lehrreich und ernst sein soll und in dem kein unwahres Wort stehen darf.“
Sie war so gut wie entschlossen, ihr Vorhaben aufzugeben; aber sie hätte eben doch gar zu gerne etwas Schönes über Schweden geschrieben, und es wurde ihr sehr schwer, die Arbeit ungetan zu lassen. Schließlich kam ihr der Gedanke, ob sie nicht am Ende deshalb mit dem Buche nicht zustande komme, weil sie in einer Stadt sitze und nichts als Straßen und Mauern vor sich sehe. „Vielleicht geht es besser, wenn ich aufs Land reise und Felder und Wälder betrachten kann,“ dachte sie.
Sie stammte aus Wärmland, und sie war fest entschlossen, das Buch mit dieser Landschaft beginnen zu lassen. Und vor allem wollte sie von dem Hof erzählen, auf dem sie aufgewachsen war. Es war ein kleiner Herrenhof, der ganz einsam und weltabgeschieden dalag und auf dem sich noch viele altertümliche Sitten und Bräuche erhalten hatten. Sie dachte, den Kindern würde es gewiß gefallen, wenn sie von allen den Beschäftigungen hörten, die im Laufe des Jahres einander ablösten. Sie wollte erzählen, wie bei ihr daheim Weihnachten und Neujahr, Ostern und das Johannisfest gefeiert worden wären; was für Möbel und Hausgeräte sie gehabt hätten, wie es in der Küche und in der Vorratskammer, in Kuh- und Pferdestall, in Brauhaus und in der Badestube ausgesehen hätte. Aber als sie sich nun daran machte, dies zu beschreiben, wollte die Feder gar nicht übers Papier hingleiten. Die Schriftstellerin konnte durchaus nicht begreifen, woher das kam; aber es war jedenfalls so.
Sie sah aber doch alles miteinander so deutlich und lebendig vor sich, wie wenn sie noch immer mitten darin gelebt hätte! Trotzdem kam sie nicht vorwärts, und schließlich dachte sie, da sie nun doch einmal aufs Land reisen wolle, wäre es vielleicht am besten, sie stattete dem alten Hofe einen Besuch ab und besähe sich ihn noch einmal genau, ehe sie an dessen Beschreibung ginge. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr dagewesen, und der Gedanke, daß sie nun hier eine Veranlassung zum Hinreisen habe, machte ihr das Herz warm. Eigentlich trug sie immer eine Art Heimweh nach dem alten Hofe mit sich herum, sie mochte sein, wo sie wollte. Sie sah ja wohl, daß andre Orte schöner und besser waren; aber nirgends überkam sie jenes Gefühl der Sicherheit und des Wohlbehagens, wie sie es in ihrer Kinderheimat immer gehabt hatte.
Diese Reise in die alte Heimat war indes gar nicht so einfach für sie, wie man meinen könnte, denn der Hof war an eine ihr ganz fremde Familie verkauft worden. Sie dachte freilich, man würde sie gewiß freundlich aufnehmen; aber sie wollte ja nicht in die alte Heimat kommen, um mit fremden Menschen zu plaudern, sondern um sich alles so recht deutlich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie es früher da gewesen war. Deshalb richtete sie es so ein, daß sie spät am Abend auf Mårbacka eintraf, zu einer Zeit, wo schon Feierabend gemacht worden war und das Gesinde sich im Hause befand.
Sie hätte nie gedacht, daß es so seltsam sei, in die alte Heimat zurückzukehren. Während sie im Wagen saß und nach dem alten Hofe fuhr, war es ihr, als werde sie mit jeder Minute jünger und immer jünger, und bald war sie nicht mehr eine, deren Haar sich schon grau zu färben begann, sondern ein kleines Mädchen mit kurzen Röcken und einem langen flachsblonden Zopf. Während sie so dahinfuhr und jeden Hof am Wege wieder erkannte, konnte sie es nicht lassen, sich vorzustellen, daß daheim auch alles ganz genau wie in früheren Zeiten sein müsse. Wenn sie ankam, standen Vater und Mutter und die Geschwister auf der Treppe und hießen sie willkommen. Die alte Haushälterin lief ans Küchenfenster, um zu sehen, wer käme, und Nero und Freya und noch ein paar andre Hunde kamen dahergerannt und sprangen an ihr hinauf!
Je mehr sie sich dem Hofe näherte, desto glücklicher fühlte sie sich. Es war Herbst, und eine emsige Zeit mit einer Menge Arbeit stand bevor. Aber gerade diese verschiedenen Arbeiten waren es, warum einem das Leben daheim nie langweilig und einförmig geworden war. Unterwegs hatte sie gesehen, daß die Leute bei der Kartoffelernte waren, und diese war natürlich jetzt auch daheim im Gange. Nun mußten zuerst Kartoffeln gerieben und Kartoffelmehl gemacht werden. Es war ein milder Herbst gewesen, und sie hätte so gerne gewußt, ob wohl der Garten schon ganz eingeheimst sei? Nun, der Kohl stand doch jedenfalls noch draußen; aber ob wohl der Hopfen schon gepflückt und die Äpfel heruntergenommen waren?
Wenn sie nur nicht am Ende gerade die Herbstputzerei hatten, denn es war nicht mehr lang bis zum Herbstmarkt! Zu diesem Jahrmarkt mußte das ganze Haus wie ausgeblasen sein. Er wurde als ein großes Fest angesehen, vor allem vom Gesinde. Und es war auch wirklich ein Vergnügen, wenn man am Vorabend des Marktes in die Küche hinauskam und sah, wie blitzblank alles war: der reingewaschene, mit Wacholderzweigen bestreute Fußboden, die frischgeweißten Wände und das blankgescheuerte Kupfergeschirr auf den Wandbrettern.
Aber wenn das Marktfest vorüber war, kehrte doch nicht lange Ruhe ein. Dann mußte der Flachs gehechelt werden. Der Flachs war während der Hundstage auf einer Wiese zum Trocknen ausgebreitet worden. Jetzt brachte man ihn in die alte Badestube hinein, und in dem großen Badestubenofen wurde ein tüchtiges Feuer gemacht und der Flachs gedörrt. Und wenn er dürr genug war, wurden an einem Tage alle Nachbarsfrauen zusammengerufen. Diese setzten sich vor die Badestube; und nun wurde der Flachs gebrochen und hierauf gehechelt, damit sich die feinen weißen Fasern aus den dürren Halmen herauslösten. Während dieser Arbeit wurden die Weiber ganz grau vor Staub. Ihr Haar und ihre Kleider waren über und über mit Spleißen bedeckt, aber sie waren trotzdem seelenvergnügt. Den ganzen Tag hindurch klapperten die Brechstühle, und die Weiber schwatzten ununterbrochen darauf los. Wer in die Nähe der Badestube kam, hätte meinen können, ein Sturm jage mit lautem Sausen daher.
Nach dem Flachshecheln kam das Backen des Hartbrotes, die Schafschur und der Wandertag der Mägde an die Reihe. Im November standen dann die arbeitsreichen Schlachttage bevor; das Fleisch wurde eingepökelt, Würste gestopft, Blutpudding gekocht und Lichter gegossen. In dieser Zeit kam dann wohl auch das Nähmädchen, das die eigengewobenen wollenen Kleider verfertigte; und das waren einige fröhliche Wochen, wo alle Frauen des Hauses eifrig nähend beisammen saßen. Meistens saß dann auch der Schuhmacher zu derselben Zeit drüben in der Knechtstube an seiner Arbeit; und man wurde es nie müde, immer und immer wieder zuzusehen, wie er Leder zuschnitt, Stiefel sohlte, Absätze aufbaute und die Ringe in die Schnürlöcher einschlug. Aber die größte Geschäftigkeit entfaltete sich doch gegen Weihnachten. Der Lucietag, wo morgens um fünf Uhr das Stubenmädchen in einem weißen Kleide mit brennenden Kerzen im Haar das ganze Haus zum Kaffee einlud, war das Zeichen, daß man in den nächsten Wochen nicht viel auf Schlaf rechnen durfte.
Jetzt mußte das Weihnachtsbier gebraut, die Stockfische gelaugt, das Weihnachtsbackwerk verfertigt und die Weihnachtsputzerei vorgenommen werden – – –
Die Schriftstellerin stand im Geiste mitten zwischen Pfeffernüssen und Honigkuchen, als der Kutscher, wie sie ihn gebeten hatte, am Eingang in die Allee seine Pferde anhielt. Sie fuhr jäh aus ihren Träumen auf, und es war ihr ganz unheimlich zumute, als sie nun am späten Abend so ganz allein im Wagen saß, nachdem sie sich eben noch von allen ihren Lieben umgeben geglaubt hatte. Als sie ausstieg und die Allee hinaufwanderte, um unbemerkt in ihre alte Heimat hineinzukommen, fühlte sie mit bitterer Wehmut den Unterschied zwischen früher und jetzt, und sie wäre am liebsten wieder umgekehrt. „Was hat es für einen Wert, daß ich hierher komme? Die alten Zeiten kehren ja doch nicht wieder!“ dachte sie.
Aber nachdem sie nun soweit gekommen war, meinte sie, es wäre doch nicht recht, wenn sie sich den Hof nicht wenigstens ansähe. Und so schritt sie weiter, obgleich ihr das Herz mit jedem Schritt schwerer wurde.
Sie hatte gehört, der Hof sei sehr verfallen und verändert, und das war wohl auch so; aber jetzt am Abend konnte sie das nicht wahrnehmen. Es war ihr eher, als sei alles ganz wie früher. Dort war der Teich, der in ihren jungen Tagen voller Karauschen gewesen war, die niemand fischen durfte, weil der Vater wollte, daß die Fische hier eine vollständige Freistatt haben sollten. Dort waren die Seitenflügel mit der Gesindestube, der Vorratskammer und dem Stall, mit der Vesperglocke auf dem einen Giebel und der Wetterfahne auf dem andern. Und der Hofplatz vor dem Wohnhause war noch immer wie ein eingeschlossener Raum ohne Aussicht nach irgendeiner Seite, ganz wie zu Zeiten des Vaters, weil er es nicht übers Herz brachte, irgend einen Busch weghauen zu lassen.
Sie war im Schatten eines großen Ahorns bei der Einfahrt stehen geblieben und schaute sich nun aufmerksam um, und während sie so dastand, geschah etwas Merkwürdiges: eine Schar Tauben kam dahergeflogen und ließ sich neben ihr nieder.
Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel seien, denn Tauben pflegen sonst nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle Mondschein mußte sie geweckt haben, daß sie geglaubt hatten, es sei schon Tag, und so waren sie aus dem Taubenschlag herausgeflogen; aber da waren sie wohl verwirrt geworden und hatten den Weg nicht mehr zurückgefunden, und als sie einen Menschen gewahrten, flogen sie zu ihm, ihn um seine Hilfe zu bitten.
Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hofe gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört, die der Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur jemand davon sprach, daß eine Taube geschlachtet werden sollte, so verdarb ihm das die gute Laune. Jetzt war es ihr eine wahre Herzensfreude, daß die schönen Vögel sie an der Schwelle des alten Hauses begrüßten. Wer konnte wissen, ob nicht die Tauben gerade deshalb zur Nachtzeit ausgeflogen waren, um ihr zu zeigen, daß sie nicht vergessen hätten, welch eine gute Heimat sie einst hier gehabt hatten!
Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruße zu ihr geschickt, damit sie sich nicht gar so verlassen und einsam fühlen sollte, wenn sie nun wieder in die alte Heimat kam?
Während ihr diese Gedanken durch den Kopf flogen, regte sich eine so heiße Sehnsucht nach den alten Zeiten in ihrem Herzen, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten saure Wochen gehabt, aber auch frohe Feste; sie hatten den Tag über fleißig sein müssen, aber am Abend hatte man sich um die Lampe versammelt und Tegnér und Runeberg, Frau Lenngren und Friedericke Bremer gelesen. Sie hatten Getreide gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gezogen; sie hatten Flachs gesponnen, aber beim Spinnen waren Volkslieder gesungen worden. Sie hatten sich mit der Grammatik und der Weltgeschichte abgequält; aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet. Sie hatten am Herd gestanden und das Essen gekocht; aber sie hatten auch musizieren dürfen, hatten Klavier, Gitarre und Geige gespielt und Flöte geblasen. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben, Erbsen und Bohnen gepflanzt; aber es war noch ein zweiter Garten da, wo es Äpfel und Birnen und allerlei Beeren in Hülle und Fülle gab. Sie hatten ein ziemlich einsames Leben geführt, aber gerade deshalb hatten sie sich in eine Märchen- und Sagenwelt hineingelebt. Ihre Kleider waren aus eigengewobenen Stoffen verfertigt gewesen; aber sie hatten auch unabhängig und sorgenfrei leben können.
„Nirgends auf der weiten Welt verstehen es die Menschen so gut, sich das Leben schön einzurichten, als sie das zu meiner Zeit auf einem solchen kleinen Herrenhofe verstanden haben,“ dachte die Dichterin. „Da hatte die Arbeit ihre Zeit und das Vergnügen seine Zeit, aber die Freude herrschte jeden Tag. Wie gern möchte ich hierher zurückkehren!“ dachte sie weiter. „Seit ich den Hof wiedergesehen habe, fällt mir das Fortgehen fast zu schwer.“
Und dann wendete sie sich an die Taubenschar und sagte zu ihr, während sie doch zugleich über sich selbst lächelte: „Fliegt zurück zu meinem Vater und sagt ihm, daß ich Heimweh habe. Nun bin ich lange genug an fremden Orten gewesen; fragt ihn, ob er es nicht einrichten könne, daß ich bald wieder in die Heimat meiner Kindheit zurückkehren dürfe?“
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die ganze Taubenschar auch schon auf und davon flog; sie versuchte, den Vögeln mit den Augen zu folgen, aber sie verschwanden rasch; es war, als habe die ganze weiße Schar sich in der mondhellen Luft aufgelöst.
Aber kaum waren die Tauben verschwunden, als aus dem Garten laute Schreie an ihr Ohr drangen, und als sie rasch dahineilte, woher die Rufe kamen, bot sich ihr ein merkwürdiger Anblick dar. Ein winzig kleiner Knirps, kaum eine Spanne lang, wehrte sich verzweiflungsvoll gegen eine Nachteule.
Zuerst war die Schriftstellerin so überrascht, daß sie sich nicht rühren konnte. Aber als der Kleine immer jämmerlicher schrie, legte sie sich rasch dazwischen und trennte die beiden Kämpfenden. Die Eule schwang sich auf einen Baum, aber das Männlein blieb auf dem Gartenweg stehen, ohne sich zu verstecken oder davonzulaufen.
„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe,“ sagte es, „aber Sie hätten die Eule nicht fortfliegen lassen sollen. Nun kann ich nicht von hier weggehen, denn sie sitzt dort auf dem Baum und lauert mir auf.“
„Ja, es war recht gedankenlos von mir, daß ich sie entwischen ließ. Aber kann ich dich nicht dahin begleiten, wo du zu Hause bist?“ fragte sie, die so gerne Märchen ersann; und sie war nicht wenig erstaunt, daß sie hier so ganz unvermutet mit einem Wichtelmännchen zusammengetroffen war. Aber eigentlich war sie nicht einmal so sehr erstaunt; es war, als habe sie, während sie da im Mondschein vor ihrer alten Heimat gestanden hatte, immerfort darauf gewartet, daß sich etwas Wunderbares zutrage.
„Ich hatte mir eigentlich vorgenommen gehabt, hier auf dem Hofe zu übernachten,“ sagte der Knirps. „Wenn Sie mir einen sicheren Platz zum Schlafen anweisen könnten, würde ich erst morgen früh in den Wald zurückkehren.“
„Soll ich dir ein Nachtlager anweisen? Wohnst du denn nicht hier?“
„Ach, ich verstehe, Sie halten mich für ein Wichtelmännchen,“ sagte der Knirps jetzt. „Aber ich bin ein Mensch, gerade wie Sie, und bin nur in ein Wichtelmännchen verwandelt worden.“
„Das ist das Wunderbarste, was ich je gehört habe! Kannst du mir nicht erzählen, wie sich das zugetragen hat?“
Der Junge hatte nichts dagegen, seine Abenteuer zu erzählen, und je weiter er in seinem Bericht kam, desto erstaunter und verwunderter, aber auch desto vergnügter wurde die Zuhörerin.
„Ach, welch ein Glück, daß ich jemand treffe, der durch ganz Schweden auf einem Gänserücken gereist ist!“ dachte sie. „Alles, was er mir da erzählt, kann ich ja in mein Buch schreiben! Jetzt brauche ich mir deswegen keine Sorgen mehr zu machen. Wie gut ist es, daß ich nach Hause gereist bin! Wie merkwürdig, daß die Hilfe gekommen ist, sobald ich den alten Hof betreten habe!“
In demselben Augenblick zuckte ein Gedanke, den sie kaum auszudenken wagte, durch ihr Gehirn. Sie hatte ihrem Vater durch die Tauben Botschaft geschickt, daß sie sich nach Hause sehne, und sogleich war ihr bei der Aufgabe, über die sie schon so lange nachgegrübelt hatte, Hilfe zuteil geworden! Konnte das die Antwort ihres Vaters auf ihre Bitte sein?
