26
Die Teilung

Donnerstag, 28. April

Nachdem die Wildgänse dem Gänsemädchen Åsa und Klein-Mats über den Hjälmarsee hinübergeholfen hatten, flogen sie gen Norden, bis sie Westmanland erreichten. Hier ließen sie sich auf den großen Getreidefeldern im Fellingsbroer Kirchspiel nieder, um auszuruhen und zu weiden.

Der Junge war auch hungrig, schaute sich aber vergeblich nach etwas Eßbarem um. Während er nun nach allen Seiten umherspähte, sah er auf dem nächsten Feld zwei Männer hinter dem Pflug hergehen. Jetzt gerade ließen sie ihre Pflüge stehen und setzten sich nieder, um ihren mitgenommenen Imbiß zu verzehren. Rasch eilte der Junge hinter ihnen her und schlich sich ganz nahe zu den beiden Männern hin. Wenn diese mit ihrer Mahlzeit fertig seien, dachte er, fänden sich für so einen kleinen Knirps doch vielleicht noch ein paar Brosamen oder eine Brotrinde.

An dem Feld lief ein Pfad hin, und auf diesem kam ein alter Mann dahergegangen. Als er die beiden Arbeiter erblickte, hielt er an, kletterte über das Steinmäuerchen und trat zu ihnen.

„Für mich ist es auch Zeit zum Frühstücken,“ sagte er, nahm seinen Ranzen ab und holte sein Butterbrot heraus. „Ich freue mich, daß ich mein Frühstück nicht allein essen muß,“ fuhr er fort.

Bald war unter den dreien eine Unterhaltung im Gange, und die beiden Pflüger erfuhren, daß der Fremde ein Grubenarbeiter aus dem Norberger Bezirk war. Er arbeite jetzt nicht mehr, denn er sei zu alt, die Grubenleitern herauf und hinunter zu klettern, aber er wohne noch in der Nähe der Grube in einem kleinen Häuschen. Seine Tochter sei in Fellingsbro verheiratet, und er sei eben zu Besuch bei ihr gewesen. Sie wolle, er solle ganz zu ihr ziehen, aber dazu könne er sich nicht entschließen.

„Es gefällt Euch also hier nicht so gut wie in Norberg?“ fragte der eine der Bauern mit einem leisen Lächeln, denn er wußte wohl, daß Fellingsbro eines der größten und reichsten Kirchspiele in der ganzen Umgegend war.

„Meint ihr, ich könnte es in so einer flachen Gegend aushalten?“ erwiderte der Alte mit einer abweisenden Handbewegung, wie wenn so etwas gar nicht denkbar wäre.

Und nun begannen die drei in aller Freundschaft sich darüber zu streiten, wo es in Westmanland am schönsten sei. Der eine der Bauern war in Fellingsbro geboren und lobte die Ebene sehr, der andre aber stammte aus dem Weståser Bezirk, und er hielt die Ufer des Mälar mit seinen bewaldeten Holmen und schönen Landzungen für den besten Teil dieses Landes. Aber der Alte wollte sich durchaus nicht überzeugen lassen, und um den andern zu beweisen, daß er recht habe, fragte er, ob er ihnen eine Geschichte erzählen dürfe, die er in seiner eigenen Jugend von ganz alten Leuten gehört hatte.

„Hier in Westmanland,“ so begann er, „wohnte in alten Zeiten eine betagte Frau aus dem Riesengeschlecht, die sehr reich war, denn ihr gehörte das ganze Land. Sie hatte natürlich alles, was sie sich nur wünschen konnte, und doch drückte sie ein schwerer Kummer, denn sie wußte nicht, wie sie ihr Besitztum zwischen ihre drei Söhne verteilen sollte.

Das kam aber daher, daß sie die beiden ältesten Söhne nicht so lieb hatte wie den jüngsten, der ihr Augapfel war. Diesem jüngsten wollte sie den Löwenanteil an der Erbschaft zuwenden; zugleich aber hatte sie Angst, es würde Streit und Zank zwischen den Brüdern entstehen, wenn sie die Erbschaft nicht gleichmäßig unter sie verteilte.

Eines Tages fühlte sich die alte Frau dem Tode nahe, und jetzt war keine Zeit mehr zum Überlegen. Sie rief alle drei Söhne an ihr Lager und sprach mit ihnen wegen der Erbschaft.

‚Ich habe mein Besitztum in drei Teile geteilt, zwischen denen ihr wählen müßt,‘ sagte sie. ‚Zu dem ersten gehören die mit Eichen bestandenen Hügel und bewaldeten Holme und blühenden Wiesen, und das alles habe ich um den Mälar herum zusammengetan. Wer von euch diesen Teil erwählt, wird an den Ufern eine gute Weide für Schafe und Kühe haben, und auf den Holmen findet er Laub zum Winterfutter, wenn er nicht etwa Gartenbau dort treiben will. An den Ufern ziehen sich eine Menge Buchten und Landzungen hin; es ist da also reichlich Gelegenheit zur Beförderung der Erzeugnisse des Landes und jeglicher Art von Verkehr. Wo sich die Flüsse in den See ergießen, lassen sich gute Hafenplätze anlegen, und ich glaube, daß dort bald Dörfer und Städte heranwachsen werden. Und an gutem Ackerboden wird es ihm auch nicht fehlen, obgleich das Land so zerrissen daliegt. Es kann nur von Vorteil sein, wenn die Söhne von Anfang an lernen, von einer Insel zur andern zu ziehen; denn dadurch werden sie gute Seefahrer, die in fremde Länder reisen können und von da große Reichtümer heimbringen. Ja, das ist also der erste Teil. Was sagt ihr dazu?‘

Nun, alle Söhne stimmten miteinander überein, daß dies ein ausgezeichneter Teil sei, und wer ihn bekomme, dürfe sich glücklich preisen.

‚Nein, an ihm ist nichts auszusetzen,‘ sagte die alte Frau aus dem Riesengeschlecht, ‚und der zweite Teil ist nicht minder gut. Zu diesem hab ich alles getan, was ich an ebenem Land und freiem Feld besitze. Da liegt nun ein Acker neben dem andern, vom Mälar bis hinauf nach Dalarna. Wer diesen Teil wählt, wird es sicher nicht bereuen. Er kann so viel Getreide bauen, als er will, und große Güter anlegen, und weder er noch seine Nachkommen brauchen sich wegen ihres Unterhalts graue Haare wachsen zu lassen. Damit die Ebene nicht sumpfig wird, habe ich große Wasserläufe durchgezogen, die bilden öfters Wasserfälle, wo Mühlen und Schmieden errichtet werden können. Den Gräben entlang habe ich den Schutt hoch aufgehäuft, da können leicht Wälder angepflanzt werden, aus denen Brennholz gewonnen wird. Dies ist nun also der zweite Teil, und ich meine, wer den bekommt, hätte alle Ursache, zufrieden zu sein.‘

Auch darin stimmten alle drei Söhne überein, und sie dankten der Mutter sehr, weil sie alles so gut für sie eingerichtet habe.

‚Ja, ich habe mir alle Mühe gegeben, es so gut wie möglich zu machen,‘ fuhr diese fort. ‚Aber jetzt komme ich zu dem Teil, der mir am meisten Kopfzerbrechen gemacht hat. Denn seht, nachdem ich alle meine Haine und meine Weiden und Waldhügel zu dem einen Teil, meine Äcker und fruchtbaren Landstrecken aber zu dem andern getan hatte, merkte ich, daß mir von meinem Besitztum nichts andres mehr übrig blieb, als die bergigen Fichten- und Tannenwälder, die Berggipfel, die Gebirgsschluchten, die kahlen Felswände und mageren Wacholdergebüsche, die ärmlichen Birkengruppen und kleinen Seen. Dies alles zusammen wird nun natürlich keiner von euch haben wollen. Trotzdem habe ich all dies kleine Zeug gesammelt und es im Norden und Westen von dem ebenen Land aufgestellt; aber ich fürchte, wer diesen Teil wählt, hat nichts als Armut in Aussicht. Er wird nichts als Schafe und Geißen halten können, und um sich seinen Unterhalt zu verschaffen, wird er auf den Seen dem Fischfang, im Wald der Jagd obliegen müssen. Wasserfälle und Stromschnellen sind freilich in Menge vorhanden, so daß er so viele Mühlen bauen könnte, als er nur Lust hat; aber leider wird er nichts andres zu mahlen haben, als die Rinde von seinen Bäumen. Und mit Bären und Wölfen wird er wohl auch seine liebe Not haben, denn in dieser Wildnis werden sie sich sicherlich heimisch fühlen.

Ja, dies ist nun der dritte Teil. Ich weiß ja wohl, er läßt sich mit den beiden andern nicht vergleichen, und wenn ich nicht schon so alt wäre, hätte ich die Teilung noch einmal gemacht, aber das ist mir nicht möglich. Und jetzt hab ich in meinem letzten Stündlein keine Ruhe, weil ich nicht weiß, welchem von euch ich diesen schlechtesten Teil geben soll. Ihr seid mir alle drei gute Söhne gewesen, und es bedrückt mich, daß ich gegen einen von euch ungerecht sein soll.‘

Nachdem die alte Frau aus dem Riesengeschlecht ihren Söhnen die Sache also dargelegt hatte, sah sie alle drei bekümmert an. Jetzt sagten sie nicht mehr, wie bei den beiden ersten Malen, sie habe richtig geteilt und gut für sie gesorgt. Schweigend standen sie da, und man konnte wohl merken, daß der, so den letzten Teil erhielt, sehr unzufrieden sein würde.

Ja, da lag nun die alte Mutter mit bangem Herzen, und die Söhne sahen, daß sie schon im voraus Todesqualen erlitt, weil sie die Teile bestimmen mußte und doch nicht wußte, welchen von den Söhnen sie unglücklich machen sollte, indem sie ihm den schlechtesten Teil gab.

Doch der jüngste von den dreien, der liebte seine Mutter am meisten, und er konnte es nicht mit ansehen, wie sie sich abquälte. Deshalb sagte er: ‚Du brauchst dir keinen Kummer über diese Sache zu machen, Mutter, leg dich beruhigt nieder und scheide in Ruhe und Frieden aus diesem Leben. Gib den schlechten Teil mir; ich werde mich schon durchschlagen, und wie es auch gehen mag, ich werde mich nicht darüber grämen, wenn die andern es besser haben als ich.‘

Sobald der jüngste Sohn dies gesagt hatte, beruhigte sich die Mutter; sie dankte ihm innig und lobte ihn. Das Bestimmen der beiden andern Teile machte ihr keinen Kummer, denn diese waren fast ganz gleich gut.

Als nun alles geordnet war, dankte die Mutter dem Sohne noch einmal und sagte, sie habe erwartet gehabt, daß gerade er ihr aus der Not helfen werde. Zugleich sagte sie noch, wenn er nun in seine Einöde hinaufkomme, solle er sich an die große Liebe erinnern, die sie immer für ihn gehabt habe.

Damit schloß sie die Augen und starb; und nachdem sie begraben war, ging jeder von den Brüdern auf sein Erbteil, es in Augenschein zu nehmen. Jawohl, die beiden ältesten konnten nicht anders, als höchst zufrieden mit dem ihrigen sein.

Der dritte aber wanderte hinauf in die Einöde, und da sah er, daß die Mutter die Wahrheit gesprochen hatte: sein Teil bestand hauptsächlich aus Felswänden und kleinen Seen. Aber er erkannte doch, mit welcher Liebe sie dieses Erbteil für ihn hergerichtet hatte, denn es waren zwar nur ärmliche Überreste, aber sie waren so gut zusammengestellt, daß das allerschönste Land daraus geworden war. An vielen Stellen war es wild und unheimlich, aber schön war es trotzdem. Dieser Anblick tat dem Sohne ordentlich wohl; aber froh war er darum doch nicht.

Allmählich jedoch machte er eine Entdeckung: er sah, daß der Felsengrund da und dort ein merkwürdiges Aussehen hatte. Und als er genauer hinsah, war er überall mit Erzadern durchzogen. Eisen war vorherrschend, außerdem fand sich auch noch viel Silber und Kupfer auf seinem Eigentum. Jetzt ahnte der Sohn, daß er größern Reichtum erhalten hatte als seine beiden Brüder, und jetzt dämmerte ihm die Erkenntnis auf, was für eine Absicht seine Mutter mit ihrer Erbteilung gehabt hatte.“


Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
Section0001.htm
Section0100.htm
Section0002.htm
Section0003.htm
Section0004.htm
Section0005.htm
Section0006.htm
Section0007.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-1.htm
Section0008.htm
Section0009.htm
Section0010.htm
Section0011.htm
Section0012.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-2.htm
Section0013.htm
Section0014.htm
Section0015.htm
Section0016.htm
Section0017.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-3.htm
Section0018.htm
Section0019.htm
Section0020.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-4.htm
Section0021.htm
Section0022.htm
Section0101.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-5.htm
Section0023.htm
Section0024.htm
Section0025.htm
Section0026.htm
Section0027.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-6.htm
Section0028.htm
Section0029.htm
Section0030.htm
Section0031.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-7.htm
Section0032.htm
Section0033.htm
Section0034.htm
Section0035.htm
Section0036.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-8.htm
Section0037.htm
Section0038.htm
Section0039.htm
Section0040.htm
Section0041.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-9.htm
Section0042.htm
Section0043.htm
Section0044.htm
Section0045.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-10.htm
Section0046.htm
Section0047.htm
Section0048.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-11.htm
Section0049.htm
Section0050.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-12.htm
Section0051.htm
Section0052.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-13.htm
Section0053.htm
Section0054.htm
Section0055.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-14.htm
Section0056.htm
Section0057.htm
Section0058.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-15.htm
Section0059.htm
Section0060.htm
Section0061.htm
Section0062.htm
Section0063.htm
Section0064.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-16.htm
Section0066.htm
Section0067.htm
Section0065.htm
Section0068.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-17.htm
Section0069.htm
Section0070.htm
Section0071.htm
Section0072.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-18.htm
Section0073.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-19.htm
Section0074.htm
Section0075.htm
Section0076.htm
Section0077.htm
Section0078.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-20.htm
Section0079.htm
Section0080.htm
Section0081.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-21.htm
Section0082.htm
Section0083.htm
Section0084.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-22.htm
Section0085.htm
Section0086.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-23.htm
Section0087.htm
Section0088.htm
Section0089.htm
Section0090.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-24.htm
Section0091.htm
Section0092.htm
Section0093.htm
Section0094.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-25.htm
Section0095.htm
Section0096.htm
Section0097.htm
Section0098.htm
Section0099.htm
www.gutenberg.org@dirs@3@1@1@1@31114@31114-h@31114-h-26.htm