Notarzt

Unter Wasser

Haben Sie sich schon einmal gefragt, was Sie am letzten Tag Ihres Lebens täten? Würden Sie sich mit einer Tüte Popcorn vor den Fernseher knallen und dem seichten Fernsehprogramm folgen? Oder würden Sie sich von Ihren Liebsten verabschieden und all das auf den Weg bringen, was noch zu erledigen ist? Als Rettungsassistenten werden wir häufig mit Fragen wie dieser konfrontiert – ob wir wollen oder nicht. Von Zeit zu Zeit werden wir Patienten gegenübergestellt, die die schwarz-weiß karierte Zielflagge bereits in Sichtweite haben.

Und was wäre gewesen, wenn Bernd Merten gewusst hätte, was ihm an diesem Tag blühen würde? Hätte er trotzdem den Schlüssel seines blauen Oldtimers genommen und mit dem Wagen den Weg in die nahe gelegene Stadt eingeschlagen? Ich denke, nicht. Aber Unfälle passieren, weil die Menschen ihr Schicksal eben nicht kennen. Und vielleicht ist das auch besser so.

Die beiden zivilen Cops des mobilen Einsatzkommandos rüsteten sich in der Dienststelle der Polizei für den Einsatz im Hinterland der Stadt, in der sie lebten. Eine Observation stand auf der Agenda dieses hochsommerlichen Dienstags. Der Blick in das Innere ihres Wagens mit Warnemünder Wechselkennzeichen und Kojak-Light war versperrt durch die getönten Scheiben. Um zehn Uhr war es so tropisch heiß, dass sich der in Jeans verpackte Cop-Hintern anfühlen musste wie ein schmelzendes Eis in der Sahara.

Weshalb glauben wir, in bestimmten Ereignissen ein Muster erkennen zu können? Weil sie vorbestimmt sind? Weil das Schicksal es so besiegelt hat? Oder ist einfach alles völliger Zufall? Manche Menschen glauben, sie könnten das Schicksal überlisten, indem sie vertikale Linien beim Laufen auf dem Bürgersteig einfach nicht überqueren oder nur in die quadratischen Steine und nicht auf den Rand treten. Sie meinen, dass ihnen Böses widerfährt, wenn sie nur daran denken. So glauben sie auch, dass manche Menschen sich Krebs »herbeidenken« können. Bernd Merten lagen derartige Überlegungen wahrscheinlich fern. Sein Tag hatte schon miserabel begonnen, und das hatte seinen Höhepunkt gegen 13 Uhr gefunden, als er per SMS erfahren hatte, dass er ab jetzt Single sei. Er konnte nicht damit umgehen. Seine Kompensationsstrategie: Bleifuß am Steuer. Sein Auto brummte willig, als er den Zündschlüssel drehte und seinem Schicksal entgegensteuerte. Rockantenne 93,4 – »No Leaf Clover« von Metallica hämmerte aus den Boxen. Nomen est omen.

Um genau 14.15 Uhr begegneten sie sich auf der Allee­straße in der Nähe des Baches. Bernd fuhr viel zu schnell und war nicht in der Lage, seine Spur zu halten. Die Cops sahen, wie der blaue Wagen auf die scharfe Kurve zusteuerte. Bernd hatte fast keine Chance, einen Unfall zu vermeiden, obwohl er sein ganzes Gewicht in das Lenkrad hängte. Dann ein Schrei, der in dem Überschlag des Autos erstickte, das auf dem Dach entlangschlitterte und in den Bach rutschte. Bernd Merten befand sich mit dem Kopf unter Wasser. Ich hätte mir in diesem Moment an Bernds Stelle gewünscht, mein Haus an diesem Morgen nicht verlassen zu haben.

Sekunde 70.

Düstere Schlieren, vermischt mit bleierner Schwere und der Kälte des Wassers, konsolidieren sich zu einem nassen Mantel, der Bernd wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Hustenreiz lässt gütiges Adrenalin in die Blutbahn fließen, das die Qual portioniert.

Sekunde 60.

Die Muskulatur am Hals und in der Brust verhärtet. Die Orientierung wird wattig und zäh. Bernd tastet nach dem Gurtschnapper, der für ihn verborgen bleibt. Er wird sich gegen den Drang des Einatmens nicht mehr lange wehren können.

Sekunde 50.

Die Bewegungen werden hektischer und unkontrollierter. Bernd reißt den Kopf herum und schlägt ihn gegen die Seitenscheibe, die unerträglich intakt ist. Er kann sich dem Kommenden nicht mehr lange entgegenstemmen. Ständig verbraucht er damit mehr Sauerstoff und erreicht immer weniger.

Sekunde 40.

Die Bewegungen werden langsamer, Kälte schwindet aus den Gliedern. Die finstere Umgebung verliert sich in der Unschärfe des Baches, die letzten Luftblasen entsteigen Bernds Lunge.

Sekunde 30.

Die Impulsübertragung der elektrischen Signale am Herzen verliert an Geschwindigkeit. Die Herzfrequenz sinkt stetig.

Sekunde 20.

Bewegungen werden nur noch durch den zarten Fluss des Wassers erzeugt. Die Muskelspannung ist lediglich im Bereich der Atemmuskulatur vorhanden. Im Hirn startet das bunte Bilderkino. Kindheit, Kindergarten, Jugend. Der erste handfeste Streit mit den Eltern, weil diese Bernd einen Ausflug verweigert hatten. Er hatte sie damals dafür gehasst, jetzt tut ihm das unendlich leid. Und die SMS einer winkenden, langsam verblassenden Frau.

Sekunde 10.

Bernd betritt einen weißen Raum, der immer heller zu werden scheint. Graue erlösende Bewusstlosigkeit blendet den Raum aus, der zu einem immer winziger werdenden Punkt im Schwarz zusammenschrumpft. Bernd bekommt nicht mehr mit, wie das Wasser seine Atemwege und die Lunge flutet.

Sekunde 0.

Herzstillstand. Ab diesem Zeitpunkt läuft die Zeit gegen Bernd Merten, dessen Chancen sekündlich sinken, das Bewusstsein je wiederzuerlangen.

Die Reifen des Polizeifahrzeugs hinterließen schwarze Bremsspuren auf dem Asphalt. Das Fahrzeug kam ruckartig zum Stehen. Ein Cop sprang in das eiskalte Wasser und versuchte, sich einen Weg in das Fahrzeuginnere zu bahnen, was ihm jedoch nicht gelang.

Der andere Polizist lief in ein nahe gelegenes Waldstück auf den Gabelstapler zu, dessen Besitzer es sich kurz zuvor mit seinem Kaffee und einer Brotzeit gemütlich gemacht hatte. Auch er hatte den Unfall mitbekommen.

»Polizei. Ich brauche Ihren Stapler«, rief der Cop und winkte mit seinem Ausweis. Der Staplerbesitzer hatte keine Zeit, irgendetwas dazu zu sagen.

Keine zwei Minuten später setzte er den Gabelstapler an der Karosserie des blauen Wagens an und versuchte, das Fahrzeug aus dem Bach zu wuchten. Immer wieder rutschte er von den Gabelträgern ab und fiel zurück in den Bach. Irgendwann hielt der Wagen endlich an den Trägern. Die Polizisten konnten die Tür öffnen und Bernd befreien.

Kein Puls. Keine Atmung. Keinerlei Bewusstsein. Bernd lag nass auf der Wiese neben dem Bach und seinem Auto. Ein Cop zerriss Bernds Hemd und suchte den Druckpunkt.

Lenny hatte seine Klamotten bereits zum zweiten Mal gewechselt. Dank des grottigen Wellblechs kochten wir in der Wache bei Innentemperaturen von mehr als 30 Grad im eigenen Saft. Kein Lüftchen ließ sich dazu herab, durch unsere Wache zu ziehen und unsere erhitzten Körper abzukühlen. Über die Frage der Kühlung mussten wir uns jedoch nicht mehr lange Gedanken machen. Der Alarm der Leitstelle verhinderte jede weitere Überlegung. »Verkehrsunfall, Person unter Wasser«, rauschte es über den Äther. Ich bestätigte den Alarmempfänger, Lenny startete den Motor und drückte beim Hinausfahren aus der Garage auf den Funksender, der das Tor wieder hinunterließ.

Noch bevor wir am Ort des Geschehens eintrafen, sahen wir die Wiederbelebung im Gras neben dem Wagen, der auf dem Dach lag. Wasser lief heraus. Auf- und abschwellende Sirenen waren zu hören. Vermutlich ein Feuerwehralarm.

Unser Ablauf in dieser Situation war klar geregelt. »ACLS« hieß die Zauber-Abkürzung und das Tor zur erfolgreichen Lebensrettung. »Advanced Cardiac Life Support«. Ein Wiederbelebungsalgorithmus, in dessen Rahmen jeder einzelne Handgriff vorgeschrieben ist. Algorithmen vereinfachen einen Einsatzablauf, weil jeder Retter genau weiß, was in welchem Moment zu tun ist – unabhängig davon, aus welchem Land er kommt. Theoretisch könnte so ein Retter aus Hamburg mit einem Retter aus Zürich zusammenarbeiten. Und zwar ohne, dass die beiden sich je vorher begegnet wären.

Beim Ertrinken kommt es nach dem willkürlichen Anhalten der Luft durch den Anstieg der Kohlendioxidkonzentration im Blut zunächst durch den einsetzenden Atemreflex zu ein bis zwei tiefen Atemzügen. Das einströmende Wasser führt zu starkem Hustenreiz und reflexartigem Verschluss der Stimmritzen. Der Sauerstoffmangel bewirkt Streckkrämpfe. Irgendwann tritt dann der Herzstillstand durch Sauerstoffmangel ein.

Der Notarzt hatte Bernd bereits einen Beatmungsschlauch in den Hals geschoben, als ich die Defibrillationselektroden auf den abgetrockneten Oberkörper aufklebte. Der Monitor zeigte eine Nulllinie. Wir machten weiter, legten einen venösen Zugang und gaben Bernd darüber Adrenalin, während der elektronische Absauger im Hintergrund brummte.

»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte der Notarzt einen der Polizisten.

»Der kam uns viel zu schnell entgegen und flog in der Kurve aus der Spur.«

»Und dann?«

»Er rutschte mit seiner Karre in den Bach. Wir haben ihn mit ’nem Gabelstapler rausgewuchtet.«

»Wie lange war er unter Wasser?«

»Keine Ahnung«, antwortete der erste Cop.

»Ich schätze einige Minuten«, sagte der Zweite.

Zeitschätzungen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Wer selbst einmal in eine akute Notfallsituation gekommen ist, wird das wissen. Selbst Minuten kommen einem da vor wie eine Ewigkeit. Ich kam selbst einmal 30 Sekunden nach einem Verkehrsunfall an die Einsatzstelle – privat, ohne Dienstkleidung und ohne meinen großen mächtigen Rettungswagen mit all seinen medizinischen Finessen. Im Protokoll der Leitstelle hatte ich mir später den Zeitverlauf angesehen. Vom Eingang meines Notrufes bis zum heiß ersehnten Eintreffen des Rettungswagens waren lediglich 16 Minuten vergangen. Wenn man Hilfe erwartet, treten eine seltsame Leere und das Gefühl des Nichtweiterkommens auf. Wie in Freddys New Nightmare tritt man wie mit Kaugummi festgeklebt auf der Stelle, kommt nicht voran und sieht die Felle des polytraumatisierten Opfers davonschwimmen. Man sucht ständig mit Blicken die Umgebung nach Hilfe ab. Es kommt aber niemand.

Nach einer dreiviertelstündigen Reanimation hatte Bernd Merten wieder einen Puls. Wir brachten ihn daraufhin ins nahe gelegene Krankenhaus, wo er noch einige Wochen in Narkose lag. Lange Zeit wusste niemand, ob er überhaupt je wieder aufwachen würde. Die Geräte in dieser Zeit nicht abzuschalten und die Behandlung einzustellen war die Entscheidung der Ärzte, die keinen Angehörigen dazu befragen konnten. Man stellte zudem den Bruch eines Halswirbels fest, der beim Überschlag des Wagens passiert sein musste.

Einige Monate später bekamen Lenny und ich während des Mittagessens in der Kantine unseres Krankenhauses ein Gespräch zweier Mediziner mit. Es ging offenbar um Bernd. Der Wirbelbruch war anscheinend gut verheilt. Und Bernd hatte durch den Sauerstoffmangel nur ein geringes neurologisches Defizit entwickelt. Das hieß, dass er seitdem Wortfindungsstörungen hatte und sein rechtes Bein beim Gehen nachzog. Trotzdem konnte er an diesem Tag seinen zweiten Geburtstag feiern. Hätten die Polizisten diesen Unfall nicht beobachtet, hätte ihn niemand mit diesem Gabelstapler aus dem Bach ziehen können. Und niemand hätte Bernd wiederbelebt. Er wäre jämmerlich im Bach ertrunken. Aber manchmal muss man auch einfach Glück haben.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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