Notarzt

Retter »Zufall«

Es gibt Tage, an denen nur die anderen gewinnen und man selbst grundsätzlich verliert. Wenn man an solch einem Tag frei hat, ist das grundsätzlich kein Problem. Man kann einfach im Bett liegen bleiben, ausschlafen und den Tag abhaken. Man kann sich sozusagen dem Unglück entziehen. Es kann einem dann höchstens passieren, dass der Kaffee ausgegangen oder die Milch sauer geworden ist, wenn man frühstücken möchte. Wenn man aber arbeiten muss, sieht die Sache ganz anders aus.

Im Juni war so ein Tag. Warum ich an dem Morgen nicht einfach im Bett liegen geblieben bin, weiß ich nicht. Schon als mein nagelneuer Toaster durchbrannte, hätte ich stutzig werden müssen. Während ich meine Wohnung verließ und dabei den Hausschlüssel vergaß, dachte ich noch immer an nichts Böses. Mein Nachbar gab mir trotz der unfreundlichen Uhrzeit am frühen Morgen Starthilfe, da meine Batterie versagt hatte. Punkt sechs Uhr kam ich in der Wache an – gerade noch rechtzeitig. Lenny witzelte, denn normalerweise ist er derjenige, der immer zu knapp ankommt.

Die Außenwache liegt direkt an einer Autobahn, auf welcher Verkehrsunfälle normalerweise an der Tagesordnung sind. Die schweren Unfälle haben etwas nachgelassen, seitdem die Autobahn von einer Baustelle mit Fahrstreifenbegrenzung und einem Geschwindigkeitslimit von 60 Kilometern pro Stunde dekoriert ist. Vom Hof der Wache aus blickt man auf eine leuchtend blaue Tankstelle gegenüber. Sie bietet die Möglichkeit, sich 24 Stunden pro Tag mit ungesundem Futter zu versorgen. Für einige meiner Kollegen fatal – sie haben dank dieser unversiegbaren Futterquelle die kritische Body-Mass-Index-Grenze von 35 schon längst überschritten.

Im Laufe des Vormittags wich die Morgenröte der Sonne, die strahlte, als ob sie ihr ganzes Licht auf einmal ausgeben wollte. Es war jetzt zehn Uhr.

Zu genau dieser Zeit stand Ärger auf dem Hof der Völk­ners an. Einige Orte von unserer Wache entfernt besaß die Familie ein Gut mit einem Gestüt. Großvater Völkner machte sich auf den Weg zu seinen Lieblingen, den Pferden. Es kam von Zeit zu Zeit vor, dass irgendjemand das Gatter der Pferdekoppeln offen stehen ließ. Pferde sind zwar nicht auffallend schlau, aber auch nicht so dumm, eine Chance wie diese ungenutzt zu lassen. Die Herde entschloss sich dann immer zu einem ländlichen Ausflug in die Freiheit. Seit Jahren war es stets Großvater Völkner, der die Pferde dann wieder einfing. Er war schwer herzkrank und nahm mehr Medikamente am Tag, als sich Schokolinsen in einer Packung Smarties befinden. Schon Tausende Male hatte seine Tochter ihm gepredigt, er solle sich nicht immer so aufregen, da ihm das so aufs Herz schlage. Großvater Völkner kannte die Meinung des Arztes genau, aber er hatte noch nie auch nur einen Cent darauf gegeben. Der dürre alte Mann wusste alles besser und schimpfte auch diesmal auf den Mistkerl, der das Gatter offen gelassen hatte. Dann machte er sich auf die Jagd nach seinen Lieblingen. Als er eine Stunde später immer noch nicht zurück war, machten sich die Tochter und der Schwiegersohn auf die Suche.

»1/83/1, fahren Sie: Neumünster, Kapellenweg Nummer 15 bei Petermann – ein Sturz aus dem Bett.«

Ich wiederholte den Einsatz. Während Lenny den Straßennamen in das Navi eingab, setzte ich den Rettungswagen in Bewegung. Für uns war dies ein Standardeinsatz: ankommen, Patienten befragen, untersuchen, Halskrause anlegen, Wunden verbinden. Hat der Patient etwas gebrochen, wird das geschient. Für Verletzungen an der Wirbelsäule stehen uns eine starre Schaufeltrage aus Aluminium und eine Vakuummatratze zur Verfügung. Letztere enthält etliche tausend winzige Kügelchen. Wenn wir die Luft daraus absaugen, entsteht eine perfekt an den Patientenkörper angepasste Transportmöglichkeit. Anschließend ab in die chirurgische Abteilung der nächstgelegenen Klinik. Und nach einer Stunde sind wir in so einem Fall meist zurück in der Wache, sitzen auf der Couch und trinken Kaffee – normalerweise.

Der Anfahrtsweg war diesmal lang. Der Zielort lag 25 Kilometer von unserer Wache entfernt. Wir fuhren also übers Land und erfreuten uns an dem guten Wetter, den saftigen Gräsern und dem ganzen Getier, das auf den Wiesen so herumstand. Nach der Hälfte des Anfahrtsweges bogen wir in der Ortsmitte von Markstein ab und blickten auf eine schnurgerade Landstraße. Linker Hand begann das Gut der Familie Völkner.

Es ist ein komisches Gefühl, wenn sich das Zeitkontinuum ändert. Die Zeit bleibt plötzlich stehen oder läuft langsamer ab als vorher. Farben und Atmosphäre verdichten sich, es wird kälter oder wärmer. Das kommt vermutlich daher, dass sich das eigene Gehirn in kurzer Zeit auf eine völlig neue Situation und Umgebung einstellen muss. Statt dem erwarteten Wohnzimmer gab es für uns nämlich zunächst einen Grasstreifen an der Straße. Und anstatt eines Sturzes aus dem Bett die Reanimation auf heißem Asphalt.

Auf der Wiese vor dem Gut liefen Menschen durcheinander. Es waren die Völkners. Sie schrien und winkten uns zu, nachdem sie uns bemerkt hatten. Es war, als hätte uns der Himmel genau hier abgesetzt. Hinter den Völkners hatte sich die Pferdegemeinschaft in der Herde zusammengetan. 20 muskulöse Tiere bewegten sich wie zusammengekettet in gestrecktem Galopp über die Wiese genau auf uns zu. Nur um im richtigen Moment abzudrehen und das Spiel zu wiederholen.

Die Tochter schrie um Hilfe, denn sie hatte den alten Mann kurz zuvor gefunden.

»Ach du Scheiße, da liegt einer«, sagte Lenny und deutete auf den rechten Straßenrand, »halt an!«

Ich konnte einen Hut und eine blaue Latzhose erkennen. Großvater Völkner lag neben der Straße, das Gesicht in den Rasen gedrückt. Zehn bis zwölf Sekunden nach Einsetzen des Kammerflimmerns hatten wohl Schwindel und eine kurze Atemnot bei ihm eingesetzt. Dann war sein Bewusstsein erloschen. Kammerflimmern stellt einen funktionellen Herzstillstand dar, bei dem die Herzmuskelzellen unkoordiniert arbeiten. Da dann kein Blut mehr durch den Organismus gepumpt wird, kommt es zur Bewusstlosigkeit. Die Arme lagen seitlich am Körper, offenbar hatte Großvater Völkner keine Zeit mehr gehabt, sich während des Fallens abzustützen.

Ich hielt an. Lenny sprang aus dem Rettungswagen, checkte die Situation und drehte Großvater Völkner auf den Rücken. Puls? Atmung? Nichts da. »Reanimation!«, rief er mir zu, zückte die Kleiderschere und durchtrennte Latzhose und Hemd. Großvater Völkner lag nun mit nacktem Oberkörper da. Die Haut sah aus wie die hellgraue schmutzige Asphaltfläche einer Straße. Die Lippen erinnerten an eine fleischige Blutorange, die seit zehn Tagen geöffnet in der Sonne lag.

Ab und zu gilt es, Flexibilität zu beweisen und umzudenken. Dass wir unterwegs auf einen viel schlimmeren Notfall treffen würden, hatte niemand von uns wissen können. Nun musste der ursprüngliche Einsatz auf jeden Fall von irgendjemand anderem bedient werden. Daher meldete ich mich bei der Einsatzstelle.

»Leitstelle vom RTW 1/83/1.«

»Sprechen Sie, 1/83/1.« Eine weibliche Stimme.

»Eigenfeststellung. Markstein in Richtung Pleef – Reanimation auf der Straße. Wir können den anderen Notfalleinsatz nicht anfahren.«

»1/83/1 – verstanden.« Kurzes Zögern. »Benötigen Sie dafür einen Notarzt?«

Jeder, der sich ein wenig mit deutscher Gesetzgebung befasst hat – und bei einem Leitstellenmitarbeiter sollte das der Fall sein –, würde diese Frage entbehrlich finden. Denn eine akute Lebensgefahr zwingt eine Leitstelle dazu, einen Notarzt an die Einsatzstelle zu senden. Hier gibt es keinerlei Wahlmöglichkeit. Kurzzeitig hatte ich auf der Zunge liegen, dass der Notarzt natürlich überflüssig wäre. Aber ich hatte Angst, dass die Disponentin die Ironie nicht verstehen und uns dann tatsächlich keinen Notarzt schicken würde. Meine Antwort war deshalb ein knappes Ja.

Lenny beatmete, ich führte die Herzdruckmassage durch. Die Intubation – Routine. Den Tubus fix durch die Stimmritzen geschoben und in der Luftröhre platziert – die Beatmung war gesichert. Durch Gabe von Adrenalin in die Vene versuchten wir, das Herz anzutreiben. Mit Erfolg, der EKG-Monitor zeigte kurze Zeit später ein Herzkammerflimmern. Ich griff mir die Paddels, drückte zum Hochladen den gummierten Knopf am Defibrillator.

»Vorsicht, Defibrillation. Weg vom Patienten!«, warnte ich Lenny und alle umstehenden Menschen. Der Stromstoß kann einen Menschen mit Kammerflimmern zwar retten, aber er kann jemanden mit einem normalen Herzrhythmus auch töten. Deshalb darf niemand den Patienten während der Defibrillation berühren. Das hätte sonst schlimmere Folgen, als wenn man in eine Steckdose fassen würde.

Die »Schock«-Taste feuerte 200 Joule lebensrettende Energie durch Großvater Völkners Körper, dessen Muskulatur beim Schock zusammenzuckte.

Im Einsatz rede ich normalerweise mit Lenny nicht viel. Wir sind ein perfekt eingespieltes Team. Jeder von uns kennt seine Aufgabe und weiß, was zu tun ist. Auch diesmal liefen alle Handgriffe zügig und stressfrei ab, während die Tochter neben uns stand und weinte.

Plötzlich hielt eine orangefarbene Betonmischmaschine hinter unserem Rettungswagen. Der Fahrer war ein circa 60-jähriges Pummelchen in Baustellenkleidung. Der Mann verließ sein Fahrzeug, schmiss die Fahrertür zu und kam zügig auf uns zu. Als er sein Gefährt passiert hatte, merkte er, dass er die Handbremse nicht angezogen hatte. Zwölf Tonnen setzten sich daher langsam in Bewegung. Die Reaktion des Mannes war schneller, als dessen Körper es koordinieren konnte. Sein Oberkörper drehte sich im Vorwärtslaufen. Der linke Unterschenkel fädelte hinter dem rechten ein. Geschätzte 120 Kilogramm Körpermasse klatschten daraufhin vorwärts auf den Asphalt, was sich wie eine schallende Backpfeife anhörte. Einen kurzen Moment lang sah es aus, als würde der Mann von seinem eigenen Lkw überrollt werden.

In Zeitlupe steuerte der Lkw führerlos auf das Heck unseres Rettungswagens zu, als könnte ihn nichts aufhalten. Während ich den Patienten wiederbelebte, erlebte ich die Kollision einer Mücke und eines Elefanten. Unsere Mücke stellte kein großes Hindernis für den Elefanten dar – der Lkw tauchte in das Heck unseres Rettungswagens ein und schob diesen gemächlich vor sich her. Offenbar hatte ich die Handbremse nicht fest genug angezogen.

»Du entschuldigst mich kurz?«, meinte ich grinsend zu Lenny und sprintete zum Rettungswagen, bevor dieser vom Betonmischer in den nächsten Ort geschoben werden konnte. Türe auf, hineingesprungen, Handbremse bis zum Anschlag hochgerissen. Beide Gefährte kamen mit einem Ruck zum Stehen. Zehn Sekunden später kniete ich wieder am Kopfende von Großvater Völkner, den Beatmungsbeutel in den Händen. Der dicke Fahrer des Betonmischers hatte bei seinem Sturz Glück gehabt und lediglich Schürfwunden davongetragen. Er hatte übrigens gedacht, dass wir ein wenig Hilfe gebrauchen könnten. Und in der Eile hatte er dann das kleine Detail »Handbremse« vergessen. Aber egal, eine verbeulte Hecktür zahlt ja die Versicherung.

Die dritte Defibrillation zeigte endlich Erfolg. Die Wiederbelebung endete schließlich gut für Großvater Völkner, dessen Zeit wohl doch noch nicht abgelaufen war. Bei einer Herzkatheteruntersuchung stellte man fest, dass Großvater Völkner durch starke Ablagerungen an den Arterienwänden seiner Herzkranzgefäße einen Herzinfarkt erlitten hatte. Der Infarkt hatte zum Herzkammerflimmern und somit zum Kreislaufstillstand geführt. Ohne Wiederbelebungsmaßnahmen wäre zuerst das Gehirn abgestorben. Und hier ist auch der Haken: Wenn ein Kreislaufstillstand beispielsweise zehn Minuten andauert, könnte das Herz durchaus noch zum Schlagen gebracht werden. Dem Gehirn des Patienten bleiben hingegen nur ungefähr vier Minuten. Sind diese überschritten, entstehen immense Schäden, und es ist fraglich, ob der Patient je wieder in ein bewusstes Leben zurückkehren kann. Großvater Völkner blieb das erspart. Er hatte seinen Infarkt überlebt und hatte Glück, dass wir unmittelbar nach Eintreten seines Herzstillstandes zufällig vorbeigekommen waren. Eine Woche nach dem Ereignis konnte der alte Mann das Krankenhaus wieder voller Lebensfreude verlassen.

Obwohl ich auf den schrägen Morgen geflucht hatte, hatte sich das frühe Aufstehen gelohnt. Gut, dass ich an dem Morgen nicht im Bett geblieben war.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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