Notarzt

Sanitäterfrühling

An 365 Tagen im Jahr ist das Fahrzeug besetzt, das einen ehemaligen Medizinstudenten im Einsatzfall mit Blaulicht und Martinshorn zum Ort des Notfallgeschehens transportiert. Das Notarzteinsatzfahrzeug ist mit 119 Pferdestärken sowie einem Haufen medizinischer Raffinessen ausgestattet. Der Fahrer ist ein Rettungsassistent, der in der Regel mit dem Notarzt ausrückt, wenn höchste Lebensgefahr besteht und invasive Maßnahmen erforderlich sind. Der Arzt sollte neben der Intubation und Narkoseführung auch das Legen einer Thoraxdrainage oder das Wiedereinrenken von Gelenken unter Schmerzmittelgabe beherrschen. Der Rettungsassistent hat das ebenfalls drauf – er darf derartige Maßnahmen in der Regel nur leider nicht allein durchführen. Eine Ausnahme stellt der Fall dar, wenn kein Arzt erreichbar ist und der Patient in akuter Lebensgefahr schwebt.

Freitag, 16. August. An diesem Tag war ich der oben beschriebene Fahrer des Notarztes und gerade im Begriff, mir in der Wache eine Suppe zu kochen. Mittagessen. Wir hatten bis kurz vor Mittag noch keinen einzigen Einsatz gehabt. Bis dahin versprach es, ein entspannter Tag zu werden. Doch wie so oft war es auch diesmal: Ich hatte meinen Gedanken an eine ruhige Schicht noch nicht ganz zu Ende gedacht, da ertönte der Alarmempfänger. Aller gegensätzlichen Annahmen zum Trotz war es offenbar doch möglich, Einsätze »herbeizudenken«.

Unter Rettern kursieren viele Mythen zum Thema »Einsatzhäufigkeit« und wann diese Einsätze genau eintreffen. Der eine Retter meint, ihn würde es immer dann besonders hart treffen, wenn seit mehreren Stunden kein Einsatz stattgefunden hatte. Ein anderer Retter sagt, ihn treffe es überhaupt nicht, denn er sei die Einsatzbremse schlechthin. Mein Kollege André gab sich selbst den Spitznamen »Mr Pestilence«, weil extrem grausame Einsätze komischerweise immer ihm zufielen. Nicht, dass »Mr Pestilence« dies gewollt hätte, aber die Statistik sprach tatsächlich für Andrés Theorie, schreckliche Einsätze anzuziehen wie ein Magnetfeld einen Eisennagel. Ein Phänomen, für das mir nach wie vor jegliche Erklärung fehlt.

Der junge Notarzt Erwin nahm seine Jacke. Er war gerade dabei, sich auf seine chirurgische Facharztprüfung vorzubereiten. Auf dem Weg ins Fahrzeug konstatierte er, dass es jetzt ohnehin schon viel zu lange ruhig gewesen sei. »Medizinerlogik« nennt man diese Art, sein Einsatzschicksal zu beschreiben.

André und Lenny besetzten an diesem Tag den Rettungswagen. Wie auch wir waren die beiden unterwegs zum Einsatz. Als ich nebenbei erwähnte, dass der »Unglücksmagnet« André mit von der Partie sei, wuchs das Unbehagen bei Erwin beträchtlich. Die Einsatzmeldung passte ebenfalls. »Schwerer Verkehrsunfall mit Motorradbeteiligung auf einer Landstraße« in der Nähe unserer Rettungswache. Nähere Informationen bekamen wir zunächst nicht. Erwin und ich hatten während der Anfahrt keine Rückmeldung gehört. Ein schlechtes Zeichen. Nur wenn genügend Zeit und der Einsatz nicht dringlich war, gab die Besatzung vor Ort eine Lagemeldung an die Leitstelle ab. In diesem Fall war die Lage also ernst.

Das illegale Straßenrennen der Biker fand kurz vor Erreichen des Ortes, in dem sich unsere Rettungswache befand, ein abruptes Ende. Der Bauer hatte sie nicht kommen sehen. Er hatte versucht, mit seinem Traktor und den beiden mit Getreide beladenen grünen Anhängern nach links auf ein Feld abzubiegen und hatte die pfeilschnellen Maschinen nicht gehört, bis die Kollision erfolgte. Ein Biker schlug von hinten mit hoher Geschwindigkeit in den zweiten Anhänger ein. Das Gewicht des Anhängers war aber so groß, dass dieser wie festbetoniert stehen blieb. Eine Viertelsekunde später zerschellte der Körper des anderen Bikers am Traktor des Bauern. Dieser konnte nichts tun, um den Aufprall zu verhindern, so gerne er es wahrscheinlich gewollt hätte. Ein kurzer Ruck ging durch den Traktor, dann war da das Zischen kaputter Motoren und ausströmender Kühlflüssigkeit. Motorenöl ergoss sich über die Straße und blubberte ins Erdreich.

Zwei Autos hielten an der Unfallstelle. Die Fahrer stiegen aus und verharrten einige Sekunden lang reglos an der Fahrertür. Niemand sagte etwas. Ein Zeuge des Unfalls hatte sein Handy in der Hand und wählte die 112.

Der Alarm erreichte uns um 11.59 Uhr. Zehn Minuten nach dem Alarm lag die Einsatzstelle in Sichtweite. Ich übermittelte meine Lagemeldung an die Rettungsleitstelle: »Leitstelle von 1/82/1, drei beteiligte Fahrzeuge und drei Personen. Davon zwei Schwerverletzte und ein Patient mit Schock. Wir brauchen einen Helikopter und einen zweiten Rettungswagen.«

»1/82/1, alles klar. Ich schicke euch Hilfe.«

»Ergänze: eine laufende Reanimation.« Einen zweiten Hubschrauber konnten wir uns sparen. Eine traumatologische Reanimation dieses Grades war ziemlich aussichtslos.

»1/82/1, verstanden«, schloss die Leitstelle. Eine Folge an Selektivruftönen rief eine Kaskade an Rettungsmitteln zum Einsatz. Auf- und abschwellende Sirenen alarmierten die Feuerwehren der umliegenden Gemeinden.

Lenny und André versuchten derweil, den einen Biker wiederzubeleben. Zunächst die Sicherung der Atemwege durch einen Beatmungsschlauch in der Luftröhre, die endotracheale Intubation. Die Intubation war zwar geglückt, jedoch saugte Lenny Blut aus dem Tubus ab. Der Biker hatte offenbar schwerste innere Verletzungen.

»Wir legen zwei Thoraxdrainagen«, meinte Erwin zu Lenny. Mittels der Drainagen konnten Zugangsmöglichkeiten in den Brustkorb des Mannes geschaffen werden. Hierzu wurde ein zweiteiliges chirurgisches Instrument namens Trokar verwendet, das mich entfernt an eine Stricknadel erinnerte. Erwin benötigte nicht lange, die Drainagen lagen sicher und förderten leider wiederum eine Menge Blut nach außen, was wir schon befürchtet hatten. Der Kreislauf stabilisierte sich nicht.

Ich kam nicht gut an den anderen Biker heran, dessen Körper mit dem Traktor verschmolzen zu sein schien. Der schwarze Lederanzug glänzte in der Sonne, nur ein Arm hing herab und war frei zugänglich. Ich tastete den Puls am Handgelenk und erwartete nichts.

»Der is’ tot, oder?«, fragte ein Zeuge und trat zu mir. »Ich hab’s gesehen.«

»Sie haben den Aufprall gesehen?«

»Ja.«

»Was ist passiert?«

»Die beiden haben sich ein Rennen geliefert. Waren unglaublich schnell. Unglaublich ... schnell.«

»Und dann?«

»Sind wie aus dem Nichts aufgetaucht, und dann hat’s geknallt. Dann sind beide in das Ding eingeschlagen. Der hat nicht geblinkt beim Abbiegen. Ich hab’s von hinten gesehen.«

Der Bauer stand derweil mit eingefrorener Miene am Straßenrand und beobachtete die Rettungsaktion. Schweißperlen rannen ihm von der Stirn. Er zitterte, rang nach Fassung. Sein Blick ruhte zunächst auf dem Biker, der gerade wiederbelebt wurde, dann auf dem zweiten, dem eingeklemmten Motorradfahrer. »Was wird jetzt werden?«, dachte der Bauer vermutlich in diesem Moment. Ich konnte dem Bauern nicht helfen.

Zu meiner Überraschung tastete ich einen normalen und kräftigen Puls am Handgelenk des Bikers in der Zugmaschine. Er sah aus, als hätte man ihn in perfekter Klappmesserstellung hineinzementiert.

»Er lebt noch«, erwiderte ich auf die erste Frage des Zeugen.

»Unglaublich.«

Ich legte dem Biker einen Zugang und wartete. In weiter Entfernung hörte ich das Martinshorn der Feuerwehr. Endlich. Der Duft von Gras und Bäumen vermischte sich mit dem Gestank geplatzter Motoren.

Der Feuerwehrkommandant staunte nicht schlecht, als ich ihm vom Zustand des Motorradfahrers berichtete, und dass dieser noch leben würde. Er wies seine Truppe sofort an, mit der Rettung des Mannes zu beginnen. Zwei Männer griffen sich den Spreizer und legten am Traktor an, der unter Knirschen und Krachen auseinanderbog und immer mehr vom Biker freigab.

Nach fünf weiteren Minuten Untätigkeit meinerseits war der Mann befreit. Die Feuerwehrleute legten ihn ins Gras neben die Landstraße. Seine Schutzreflexe waren erloschen, aber ich war vorbereitet. Ich stellte einen Absauger bereit, intubierte den Motorradfahrer und legte ihm einen weiteren großvolumigen Zugang, um den Blutverlust auszugleichen. Meine Rettungsschere glitt durch den Motorradanzug wie eine Hand durch Wasser. Auf der anderen Straßenseite hatte sich mittlerweile ein Pulk Menschen angesammelt. Eine alte Frau mit Kopftuch bekreuzigte sich.

Als ich zum ersten Biker hinübersah, deckten sie ihn gerade zu. Das Tuch flatterte im Wind. Nur ein Arm war noch zu sehen, der nicht unter dem Laken bleiben wollte. André stand reglos da und blickte ins Nichts.

Nun hielt der nachgeforderte Rettungswagen neben mir. Micha und Petra stiegen aus.

»Thoraxdrainage?«, fragte Micha.

»Ja. Ich warte nur auf Erwin. Hab schon alles vorbereitet. Er hat einen guten Kreislauf.«

»Alles klar. Ich kümmer mich um den Bauern. Wenn du mich brauchst, ruf mich.«

Erwin kniete sich neben den Biker und platzierte auch diese Thoraxdrainage perfekt im Brustkorb des Mannes. Der Absauger förderte eine Menge Blut zutage. Zu viel, um zu überleben, dachte ich und hörte das entfernte Klopfen des Helikopters, einer zitronengelben BK 117 mit der schwarzen Aufschrift »Notarzt – Rettungshubschrauber«.

Er ging direkt neben uns auf der Landstraße herunter und wehte Kieselsteinchen, Äste und Staub in unsere Richtung. Die Menschen auf der anderen Straßenseite hielten sich Sachen vor ihr Gesicht.

»Seid ihr fertig?«, fragte der Notarzt des Hubschraubers.

»Ja, wir können.«

Der Verletzte wurde auf eine mit vielen tausend Styroporkügelchen gefüllte Vakuummatratze gelagert, die sich wie eine gegossene Schale an den Körper anpasste, sobald die Luft herausgesaugt war. Als wir den Mann in den Helikopter hineinschoben, sah ich den Bauern weinend im Gras sitzen. Micha war bei ihm, und ein Polizeibeamter stand daneben und schrieb seinen Karoblock voll.

Kurz darauf trat ich neben Lenny und betrachtete den toten Mann, dessen Hand bereits weiß und blutleer war.

»Diese Verrückten ...«

»Dieser Tag ist doch viel zu schön, um zu sterben«, meinte Lenny und zog an einem Zigarillo. »Später stehen hier dann wieder Holzkreuze. Und jedes Mal, wenn wir vorbeifahren, werden wir uns an den Einsatz erinnern.«

Schließlich packten wir unsere Sachen zusammen und verließen die Einsatzstelle in Richtung Rettungswache, wo meine Suppe längst kalt geworden war.

So begann der Sanitäterfrühling in jenem Jahr. Sehr spät, aber dafür mit einem Knall. Der Gutachter stellte später fest, dass die Biker zum Zeitpunkt des Aufschlags auf der Landstraße eine Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern auf dem Tacho gehabt hatten. Der Bauer, der sich schließlich auf einer Abbiegespur befand, konnte nichts dafür. Die Fahrbahnteilung konnte man bei der Geschwindigkeit durch das Visier eines Motorradhelmes natürlich nicht sehen.

Nach einiger Zeit wurden hier übrigens tatsächlich Kreuze aufgestellt, die als warnendes Beispiel dienen sollten. Thomas, 30 Jahre alt, und Manuel, 31 Jahre alt. Ein Rosenkranz hing an einem der beiden Bilder, welche die Biker in ihren schwarzen Anzügen zeigten.

»Wolltest du nicht auch mal den Motorradführerschein machen?«, hatte Lenny nach dem Einsatz in der Wache gefragt und nichts als Schweigen geerntet. Genau wie Lenny habe ich den Lappen niemals gemacht.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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