Notarzt

Kurzschluss

Das Notarztteam und wir verließen das Haus bepackt mit Equipment, das wir nicht benötigt hatten. Es nieselte in die Landschaft, deren Hügel am Horizont die Sonne vereinzelt zu berühren schienen.

Plötzlich hielt ein BMW mit getönten Scheiben vor dem bäuerlichen Gebäude, das einfachen Leuten gehörte. Kriminalpolizei. Der Motor verstummte, zwei Männer in Mänteln stiegen aus dem Wagen. Die beiden erinnerten mich an Derrick und Harry Klein. Derrick hatte einen Aktenkoffer unter dem Arm, Klein nur eine Tasche. »Die Meldung unserer Einsatzzentrale hat sich nicht gut angehört. Was ist passiert?«, fragte Derrick und steuerte gleichzeitig auf die Haustür zu. Meine Gesichtszüge waren eingefroren.

»Er ist tot«, war meine knappe Antwort.

Mein Blick streifte einen Kirchturm, glitt langsam am Wald entlang und tauchte in das Farbspektrum des Regenbogens am anderen Ende des Landkreises ein. Klein hatte seinen Dienstausweis bereits in der Hand und klingelte an der Eingangstür. Jemand öffnete.

Das Schreien eines Mannes gellte durch den Ort. Es durchdrang mich wie ein unendlich scharfes Messer, das durch mein Rückenmark fuhr. Ich stockte und drehte mich um. »Geh schon mal vor, ich muss zurück ins Haus.« Lenny nickte und brachte unsere Ausrüstung in den Rettungswagen.

Wir befanden uns mitten in einem Ort, der gerade einmal 231 Bewohner zählte. Das Warum konnte ich mir nicht erklären. Als wir vorhin angekommen waren, hatte uns der Mann empfangen, der auch den Notruf abgesetzt hatte. Er flehte uns an, noch etwas zu tun, und hoffte, dass wir es schaffen würden und alles gar nicht so schlimm wäre. Der Mann war verzweifelt und dieser Moment so unfassbar. Aber wir konnten nichts mehr ausrichten, denn der Junge war bereits tot. Die Leichenstarre hatte seine Arm- und Kiefermuskulatur in Zement gegossen. Wir merkten es erst, als wir eine Wiederbelebung versuchen und ihn auf den Rücken drehen wollten. Das linke Auge war rot unterlaufen. Im rechten Auge konnte man nur kleine rote Pünktchen sehen. Einige Adern waren darin geplatzt. Um den zarten Hals lag ein abgeschnittener dünner Gürtel, der eine tiefe Furche mit einer dunkelblauroten Randzeichnung hineingeschnitten hatte. Sie zeichnete sich deutlich von der milchigen Gesichtsfarbe ab.

Seinen elften Geburtstag hatte der Junge erst Tage zuvor gefeiert und sich irgendwann in dieser Nacht am Bücherregal hinter der Tür zu seinem Kinderzimmer erhängt.

»Hat sich erhängt«, konstatierte die Notärztin. Sie klang verzweifelt und nestelte an ihrem weißen Kittel herum. Mit Tränen in den Augen schien auch sie mit ihrem Latein am Ende zu sein. Die Bügel ihres schwarzen Stethoskops ragten aus ihrer Kitteltasche heraus. Nur mit Mühe konnte ich sie vom aussichtslosen Versuch einer Wiederbelebung abhalten.

»Wir könnten es einfach versuchen«, beharrte sie. Aber ich ließ sie nicht. Die Ärztin war erst Anfang 30. Sie hatte zwar die medizinische Verantwortung, doch woher sollte sie die Erfahrung haben, um in solchen Situationen sicher agieren zu können?

Morgens hatte sie sich noch auf den Dienst gefreut. Mit roten Bäckchen und einer etwas zu großen Einsatzjacke hatte sie ihren Fahrer zu ihrem dritten eigenverantwortlichen Notarztdienst mit den Worten begrüßt: »Lassen wir es krachen!« Mein Kollege hatte mir das später erzählt. Er hatte mir auch erzählt, wie sehr ihr dieser Satz im Nachhinein zu schaffen machte. Nach diesem Einsatz hat sie nie wieder ein Rettungsfahrzeug betreten.

Zurück im Haus, konnte ich durch die geöffnete Holztür in das blau-weiß gestrichene Kinderzimmer sehen, in dem die Spurensicherung am Werk war. Am braunen Bücherregal hing der andere Teil des Gürtels. Er war zurückgeblieben, als der Vater ihn durchgeschnitten und seinen Jungen abgenommen hatte. Einige Bücher standen im Regal, andere lagen daneben. Winnetou, Old Surehand, Die Drei Fragezeichen und einige Comics, die meiner eigenen Fantasie einen gehörigen Schub verabreicht hatten, als ich selbst noch ein Kind gewesen war. Das Bett des Jungen war durcheinander. Blaue Bettwäsche mit einem riesigen Comictiger darauf, der ins Zimmer grinste. Daneben die noch brennende Nachttischlampe. Durch die transparente, halb geöffnete Gardine konnte man auf die Lichtung eines Waldes sehen. Frische Luft strömte durch das gekippte Fenster in das Zimmer.

Der Mann führte mich in die Küche und blieb mittendrin stehen. Auf dem Küchentisch lag ein zerknittertes Blatt Papier. Eine Kinderhand hatte etwas mit blauer Tinte in krakeliger Schrift daraufgeschrieben.

»Sein Testament. Er hat ein Testament gemacht. Können Sie sich das vorstellen? Ein Testament!«

Ich las das Wort am Anfang des Briefes und musste schlucken. Tränen rannen über das Gesicht des Vaters. Der Junge vermachte seinem Bruder seine Lego-Bausteine, den Plüschbären und die Bücher. Ein Mädchen sollte sein Sparbuch bekommen. Er hatte es während des letzten Sommers im Ferienlager kennengelernt und sich auf Anhieb mit ihm verstanden. Der Vater packte mich an der Jacke.

»Bitte ... was habe ich falsch gemacht? Können Sie mir das sagen? Ich kann es nämlich nicht verstehen«, meinte der Vater tonlos und drehte sich um.

Seine Fingernägel gruben sich in die Handballen, dass es blutete.

»Ich kann nicht verstehen, warum sich mein Junge umgebracht hat.«

Ob er etwas falsch gemacht hatte, konnte ich ihm natürlich nicht beantworten. Einen Tag vor dem Unglück hatte es zu Hause Ärger gegeben, erzählte er mir. Der Junge hatte seine Hausaufgaben machen und anschließend beim Tischdecken helfen sollen. Doch er hatte gebockt. Als ihm der Vater wie so oft eine schallende Ohrfeige verabreicht hatte, war der Junge trotzdem ruhig geblieben. »Mutter hatte schon recht, dass sie letztes Jahr weggezogen ist«, flüsterte er und fing sich dafür noch eine Ohrfeige ein – die letzte seines Lebens. In seinem Brief schrieb der Junge, dass sein Vater dies nun nie wieder würde machen können. Dass er das Mädchen lieb habe und es deswegen sein Sparbuch bekommen sollte. Dass er auch seine Mutter lieben würde. Und dass er es schade finde, dass sie weggezogen sei und seinen Bruder mitgenommen habe. Damit sein Bruder ihn nicht vergessen würde, bekomme dieser seine Spielsachen. »Seid nicht traurig«, stand ganz am Ende des Briefes. Ich musste tief durchatmen.

Einige Tage zuvor war Lennys jüngster Sohn ebenfalls elf Jahre alt geworden und hatte eine großartige Party mit allem Drum und Dran gefeiert. Sein Sohn redete ständig nur von Computern, Fernsehsendungen und Pokémon-Figuren. Und nicht davon, sich das Leben zu nehmen. Lenny stand vor dem Rettungswagen und blickte in Richtung der Waldlichtung. Die orange Jacke mit dem silbernen Leuchtstreifen reflektierte das Licht, das vom Haus herüberfiel. Den Zigarillorauch konnte man schon von Weitem riechen.

»Starten wir?« Er erschrak, als ich plötzlich neben ihm auftauchte. »Die Polizisten sagen, die Großeltern wohnen ein paar Häuser weiter. Wir sollen denen die Todesnachricht überbringen.« Auch das noch.

Die Notärztin saß noch immer im Einsatzfahrzeug an der Einsatzstelle und sah zum Fenster hinaus. Auf ihrem Schoß lagen das Einsatzprotokoll und der Leichenschein, den sie noch ausfüllen musste.

»Ich kann nicht. Ich kann es ihnen nicht sagen«, schluchzte sie und schüttelte den Kopf.

»Tut mir unendlich leid. Dein dritter Dienst und dann so etwas.«

»Und jetzt?«

»Ich fahre mit Lenny rüber. Schreib in Ruhe zu Ende, und komm ein bisschen runter. Wenn was ist, rufen wir dich auf dem Handy an. Okay?«

»Danke fürs Auffangen.« Sie vergrub ihren Blick in den Leichenschein.

Während Lenny und ich vor der Haustür der Großeltern standen und die Türglocke betätigten, durchzuckten mich Gedanken an das, was jetzt folgen könnte. Natürlich waren wir erfahren im Umgang mit Menschen, die ein psychisches Trauma erlitten hatten. Aber dieser Einsatz war von ganz anderer Qualität und das Folgende nicht absehbar.

Nach einer Weile öffnete sich die Haustür, die zusätzlich mit einer Kette verriegelt war. Ein weißhaariger alter Mann sah heraus.

»Sanitäter? Ich habe Sie nicht bestellt.«

»Dürfen wir bitte hereinkommen?«

»Nein. Ich möchte auch nichts spenden«, antwortete der Mann, dann fiel die Tür ins Schloss.

Lenny klingelte erneut. Keine Reaktion. Ich klopfte gegen die Tür.

»Bitte öffnen Sie die Tür. Wir wollen kein Geld.«

»Was dann?«

»Wir müssen Ihnen leider eine schreckliche Nachricht überbringen.«

Es vergingen einige Sekunden, in denen ich Geflüster und Schritte im Haus hören konnte. Dann war es wieder still. Die Tür öffnete sich langsam, während sich das Böse über dieses Haus legte. Diesmal stand ein Ehepaar in der Tür und bat uns hinein.

»Sind Sie Herr und Frau Müller und verwandt mit der Familie Müller aus der Bergstraße?«

»Ja, sind wir.«

Mir war kalt. Kurzes Schweigen. Einatmen. Der Blick in die Augen der beiden Alten. Und die Angst vor deren Reaktion.

»Ihr Enkel ist tot.«

Sie starrten mich entsetzt an. Vier aneinandergereihte Worte, die das Leben des Ehepaares für immer verändern sollten. Die Fassade bröckelte und stürzte einen kurzen Moment später ein. Herr Müller hielt seine Frau, die vor ihm kniete, ihn umklammerte und nicht mehr in der Lage war, die eigene Mimik zu kontrollieren. Das Schreien von Frau Müller durchdrang mich wie das Fallbeil einer Guillotine den Hals ihres Opfers.

Wir übergaben das Ehepaar zusammen mit dem Vater des Jungen in die Obhut des nachgeforderten Kriseninterventionsteams. Ich fühlte mich wie ein Todesengel, der in einem blutroten Mantel und mit großen schwarzen Flügeln Angst und Schrecken verbreitet hatte, anstatt Leid zu lindern und Menschen zu helfen. Erhebliche Belastungsmomente kumulierten hier auf tragische Weise. Da waren die Notärztin, die danach nie wieder als solche gearbeitet hat, der Vater, der die Schuld nur bei sich suchte, und die Großeltern, die nach Überbringung der Nachricht selbst zu Patienten wurden. Genau wie die Mutter, die der Vater unmittelbar nach Auffinden seines Jungen angerufen hatte.

Und dann war da noch der Junge selbst. Lenny hatte bereits ein mieses Gefühl gehabt, als wir noch auf der Hinfahrt waren. Nachvollziehbar, aber ich hatte uns beruhigt. »Was soll schon sein?«, hatte ich gesagt. In den meisten Fällen war die Einsatzmeldung »nicht ansprechbares Kind« glücklicherweise falsch. Und wenn wir wiederbeleben mussten, dann machten wir das eben so, wie wir es gelernt hatten. Und wir waren gut. Wiederbelebungssituationen an Kindern sind im Rettungsdienst glücklicherweise extrem selten. Medikamente in kindgerechter Dosierung? Da sehen wir in der Tabelle nach, die auf der Innenseite des Kindernotfallkoffers klebt. Und eine Intubation? Wird schon klappen.

Aber es lief diesmal ganz anders als erwartet. Dieser Einsatz begann erst, als der Patient bereits tot war. Wir waren auf so etwas einfach nicht genügend vorbereitet, um professionell reagieren zu können. Wir reagierten nur. Immerhin.

Das Kind war gestorben und die Situation konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ich war mir zwar nicht sicher, dass es der richtige Zeitpunkt war, um einen Versuch zu starten, die Stimmung etwas zu entspannen, und wie ein derartiger Scherz in diesem Moment ankommen würde, aber ich versuchte es trotzdem. Irgendwie musste ich uns ja auf andere Gedanken bringen. Kurz bevor Lenny einsteigen konnte, eilte ich zum RTW und schüttelte seine fast volle Flasche Cola wie einen Cocktailshaker. Ich wusste, dass er den RTW anlassen, ein paar Meter zurücklegen und erst einmal einige erfrischende Schlucke aus seiner Flasche nehmen würde. Und ich wusste auch, wie viel Kohlensäure sich in einer nahezu frischen Pulle Cola befindet ...

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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