Notarzt

Wohnungsöffnung

Der zottelige Typ vom Schlüsseldienst kniete vor Oma Winklers blau gestrichener Haustür und fuhrwerkte zweihändig mit seinem Werkzeug im Zylinder herum. Die Wohnzimmerjalousie ließ nur einen schmalen Blick ins Haus zu. Alle übrigen Rollos des Einfamilienhauses waren heruntergelassen. Ein möglicher Grund dafür könnte die Mittagshitze gewesen sein. Eine weitere denkbare Ursache wäre, dass Oma Winkler mit ihren 80 Jahren bereits aus dem Leben geschieden war. Toll, eine Leiche, die bei 35 Grad im Schatten am Vergammeln war. Das Mittagessen hätte sich damit für mich erledigt.

Ob Frau Winkler nicht einfach nur weggefahren war und das Haus verlassen hatte? Nein. Licht im Wohnzimmer, ein laufender Fernseher und drei Diabetikermahlzeiten von »Essen auf Rädern« vor der Tür sprachen eindeutig dagegen.

»Kriegst du die Tür jetzt endlich auf? Oder sollen wir jemand anderen holen?«, fragte Lenny und rückte dem Techniker dichter auf den Leib.

»Ja, Mann. Ja ... ich hab’s gleich. Is gleich offen.«

»Wenn du noch länger brauchst, holen wir uns doch noch am Dönerstand was zum Futtern«, sagte ich.

»Oder wir rufen die Feuerwehr«, stichelte Lenny weiter.

»Jetzt wartet doch! Ich hab’s ja gleich.« Der Techniker wurde nervös. Der Schlüssel schien von innen zu stecken. Der Typ war wohl auch nicht gerade die allerhellste Leuchte auf diesem Planeten. Einer der Polizisten, die auch mit von der Partie waren, nahm mich zur Seite. Wenn der Schlosser so weitermachen würde, dann stünden wir bestimmt an Weihnachten noch hier.

Dann war es so weit. Nein, nicht die Haustür war endlich offen, sondern das Sperrwerkzeug des Handwerkers brach im Zylinder ab. Er fluchte leise vor sich hin, packte seine Tasche und murmelte, dass er jetzt ein neues Werkzeug holen müsse. Meines Erachtens wollte sich die Dampfnase nur aus dem Staub machen.

Die Nachbarin von Frau Winkler hatte die Rettungsleitstelle benachrichtigt. Sie hatte sich wegen des nicht angerührten Essens vor der Haustür Sorgen gemacht. Schön, dass es ihr schon nach drei Tagen aufgefallen war. Geklingelt hatte sie bei Frau Winkler aber nicht.

»Hast du ’ne Idee?«, fragte Lenny und sah mich an.

»Feuerwehr?«, mischte sich der Polizist ins Gespräch ein. Doch die Feuerwehr hätte natürlich auch noch mindestens 15 Minuten benötigt. Wenn in der Tat eine Leiche hinter der Türe lag, war es völlig egal, wie lange wir hier noch warten mussten.

»Wenn da aber doch noch jemand lebt und wir hier draußen Zeit verquatschen ...«

Lenny warf mir nur einen kurzen Blick zu. Ich wusste, er sagte das nur, weil er uns so schnell wie möglich hier wegbekommen wollte. Wir gingen nämlich eigentlich davon aus, in der Wohnung eine Leiche vorzufinden.

»... aber Grün sticht natürlich Rot. Du wirst schon richtig entscheiden«, fuhr er dort und blickte den Polizisten an.

Der Polizist sah zu seinem Kollegen. Dieser schien ebenfalls keinen glorreichen Einfall zu haben. Wenn der Polizist sich für die Feuerwehr entschieden hätte, wäre jede Verantwortung für die Zeitverzögerung an ihm hängen geblieben.

»Wir müssen da jetzt rein«, entschied er.

Das war unser Stichwort. Wir kamen den beiden Polizisten zuvor und stellten uns vor die Tür, die über einen dreistufigen Treppenabsatz erreichbar war. Der Notfallkoffer diente als Absprungrampe. Lenny und ich liefen gleichzeitig los. Ich befand mich rechts und traf die Tür mit meinem Fuß unterhalb der Klinke. Lenny trat links dagegen. Die Tür krachte filmreif aus den Angeln. Blaues Holz splitterte. Der Rahmen war hinüber. Die Tür fiel wie in Zeitlupe nach innen und blieb zerstört am Boden liegen. Nein, wir sind keine Superhelden. Die Tür war einfach dünn wie eine billige Schreibtischplatte aus Pressspan, und wir hatten Glück, die richtigen Stellen getroffen zu haben. Trotzdem erzähle ich diese Geschichte sehr gerne und oft zu allen möglichen Gelegenheiten.

Lenny betrat das Wohnzimmer. Die Polizisten schwärmten in die übrigen unteren Bereiche des Hauses aus. Ich stand direkt vor einer Treppe, die in das erste Stockwerk des Hauses führte, und entschied mich für diese Option. Es war heiß wie in einer Wellblechhütte, stank aber nicht. Nur ein seltsamer süßlicher Geruch, den ich nicht einordnen konnte, hatte das Zimmer geflutet. Vermodert war hier aber auf jeden Fall niemand.

Im Schlafzimmer fand ich Oma Winkler, die bewegungslos in Rückenlage auf ihrem Bett lag, den Kopf zur Seite gedreht. Die Rollläden waren auch in diesem Zimmer beinahe ganz heruntergelassen. Die Dunkelheit erschwerte eine Einschätzung der Situation. Oma Winkler war nur mit einem Nachthemd bekleidet und schien friedlich entschlafen zu sein. Vermutlich hatte sie sich aufgrund von Unwohlsein auf das Schlafzimmerbett gesetzt. Als sie an ihrer Bettkante saß, könnte der Herzstillstand eingetreten sein. Das waren allerdings nur Mutmaßungen eines Amateurpathologen.

Die Lippen sahen blau aus – passend zum weißen Teint des Gesichts. »Schade um Frau Winkler«, dachte ich, inspizierte das Zimmer nach verdächtigen Spuren und hörte nebenbei dem Treiben im Erdgeschoss zu. Die Haut von Oma Winkler war so kalt, als ob sie letzte Nacht gestorben wäre. Das hätte aber auch bedeutet, dass die Leichenstarre im Gange sein musste. Ich versuchte, ihren Unterkiefer mit einer rettungsdiensttypischen Handbewegung zu bewegen. Dort und an den Augenlidern beginnt für gewöhnlich der Rigor. Butterweich. Keinerlei Anzeichen einer beginnenden oder endenden Leichenstarre. Frau Winkler sah auch nicht »tot« aus.

Ich war gerade über ihr Gesicht gebeugt, hatte den Kiefer in der Hand und prüfte den Zustand der vermeintlichen Leiche, als sie plötzlich tief einatmete. Ohne jede Vorwarnung schlug Oma Winkler die Augen auf. Riss sie auf, dass ich die Iris komplett sehen konnte. Sie schüttelte sich vor Schreck, hob die Arme in Abwehr, um ihr Gesicht zu schützen. Ich bekam fast einen Herzinfarkt und erschrak so sehr, dass ich einen Satz nach hinten machte und gegen die Schlafzimmerwand knallte. Mein Atem überschlug sich, denn vor mir lag eine Tote, die gerade wieder zum Leben erwacht war. Mein Puls: 180 Schläge pro Minute.

Kennen Sie das Spiel, das einem ab und zu von irgendwelchen Spaßvögeln per E-Mail zugeschickt wird? Ein Programm, nach dessen Start auf dem Bildschirm ein farbenfrohes, chaotisches Bild entsteht, das mit den Worten untertitelt ist: Prüfen Sie Ihre Sehfähigkeit, und suchen Sie den roten Punkt. Natürlich ist man so bescheuert und sucht ihn. Der Punkt ist aber so klein, dass man das Gesicht sehr dicht an den Monitor heranführen muss. Nach 15 Sekunden wird dann ohne Vorwarnung eine widerliche schreiende Fratze eingeblendet. Man erschreckt sich förmlich zu Tode und wünscht dem Absender der Nachricht einen nächtlichen Motorschaden bei minus 30 Grad irgendwo auf einer grottigen Landstraße in Usbekistan.

Genau so ging es mir in diesem Moment. Nur dass ich selbst schuld war. Und Oma Winkler natürlich keine hässliche Fratze war. Wäre ich nicht wie selbstverständlich von ihrem Tod ausgegangen, hätte ich die flachen Lebenszeichen schon sehr viel früher bemerken können.

Frau Winkler befand sich in einer fulminanten diabetischen Ketoazidose mit so hohen Werten, dass diese für unser Blutzuckermessgerät nicht einmal mehr messbar waren.

Frau Winkler brauchte nämlich wie jeder Mensch Insulin, um aus Kohlenhydraten Energie zu gewinnen. Ihre Bauchspeicheldrüse produzierte aber überhaupt kein Insulin mehr. Beim Versuch, die Energie nun ohne Insulin aus Fett zu gewinnen, fallen Abfallstoffe an. Diese Stoffe heißen Ketone und bestehen gewissermaßen aus Säure. Die Folge ist eine Übersäuerung des Körpers, der nun versucht, das Zeug unter anderem über die Ausatemluft loszuwerden – es riecht nach Aceton oder nach faulem, gegorenem Obst. Das erklärte auch den seltsamen süßlichen Geruch in Frau Winklers Zimmer, der an faule gegorene Äpfel oder Nagellackentferner erinnerte.

Wir gaben Frau Winkler Flüssigkeit als Infusion über die Vene und brachten sie ins Klinikum. Der Anruf der Nachbarin war gerade noch zur richtigen Zeit gekommen, denn diese Erkrankung endet unbehandelt immer tödlich. Spätestens nach dem Bewusstseinsverlust durch die Austrocknung und Anschwellung des Gehirns hat der Patient keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu helfen und Hilfe zu rufen.

Frau Winkler lebte nach diesem Ereignis noch einige Jahre in ihrem Häuschen mit der auffälligen blauen Haustür, die nach unserem Einsatz natürlich fachmännisch erneuert worden war.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
CoverImage.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht.xhtml
Section0001.xhtml
Section0002.xhtml
Section0003.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-1.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-2.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-3.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-4.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-5.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-6.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-7.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-8.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-9.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-10.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-11.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-12.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-13.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-14.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-15.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-16.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-17.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-18.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-19.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-20.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-21.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-22.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-23.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-24.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-25.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-26.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-27.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-28.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-29.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-30.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-31.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-32.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-33.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-34.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-35.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-36.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-37.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-38.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-39.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-40.xhtml
strzoda_Sie_Sehen_Aber_garnicht-41.xhtml