Notarzt

Junkieblues

Es gibt Einsätze, die sind bereits beendet, bevor sie überhaupt richtig angefangen haben. Eines Nachts befahl uns die Leitstelle zu einem Einsatz, der sich im Vorfeld außerordentlich dramatisch anhörte. Wir wurden aus dem Tiefschlaf gerissen, stürzten aus den schlafwarmen Betten und kämpften uns in die orangefarbenen Rettungsdienstklamotten. Die Alarmdurchsage des Piepsers war beunruhigend gewesen: eine Messerstichverletzung, Einsatzort: unbekannt.

Ich dachte als Erstes an einen der Vergnügungstempel in der Stadt. Ständig gab es dort Pöbeleien, Verletzte und Alkoholvergiftete. Ständig wurden auch Retter bedrängt, die eigentlich nur helfen wollen. Drogen wurden hier in Unmengen konsumiert, und das Aggressionspotenzial mancher »Kunden« war absolut unberechenbar.

Wir beeilten uns also, aus dem ersten Stock der Wellblechwache nach unten in die Fahrzeughalle zu kommen, und hofften, dass die Polizei bereits vor Ort sein würde. Auch der Notarzt und sein Fahrer kamen die Treppe heruntergeschlurft, hatten es aber augenscheinlich aufgrund der Einsatzmeldung nicht besonders eilig, da hier offenbar eine Gefahr für die Retter drohte. Die beiden hofften genau wie wir, dass die Polizei bereits vor Ort wäre, wenn wir ankämen.

Funkgerät eingeschaltet, Rolltor hochgefahren, Status »9« auf der Tastatur. »Dringender Sprechwunsch« bedeutete dies. Ein Klacken. Die Leitstelle gab uns den Einsatz durch.

»1/83/1 und Wagen 1/82/1: Fahren Sie beide in den Elsterweg, Hausnummer 5, bei Müller – Stichverletzung mit einem Messer. Eigenschutz beachten.«

Ich wiederholte den Einsatz, während Lenny den Rettungswagen aus der Garage steuerte. Das Notarzteinsatzfahrzeug folgte. Doch bevor wir den Hof verlassen konnten, wurden wir abbestellt. »Rücken Sie wieder ein«, sagte der Disponent, »der Anrufer hat nochmals angerufen – er hat wohl nur geträumt.« Ach was.

Die gesamte Armada konnte nun also wieder zurück in ihre Betten.

Nicht ganz eine halbe Stunde später, nachdem ich mich meiner Rettungsdienstkleidung entledigt, mich zurück in mein warmes Bett gelegt und das Licht gelöscht hatte, gellte der Piepser erneut.

»So ein Mist«, schimpfte Lenny, der noch beim Ausziehen war und mit einem Bein in der Hose steckte.

Diesmal ging es wirklich zu einem unklaren Notfall zu einer Diskothek am Rande der Stadt.

»RTW 1/83/1, fahren Sie: Marxstraße 13, in der Diskothek Soundattack ... erkrankt.«

»Wie ... erkrankt?«, fragte Lenny und drehte sich zu mir. »Was ist das denn wieder für ’ne Meldung?«

»Das neue Modewort der Leitstellenmitarbeiter«, erwiderte ich und sah gelangweilt in den rechten Außenspiegel.

»Das heißt wohl nur, dass der überhaupt keine Ahnung hat, was da vor sich geht«, schimpfte Lenny weiter. Er nölte auf dem Weg dorthin noch etwas von »Callcenterniveau«, »unfähig« und »Arbeitsunlust«.

Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen in besagter Leitstelle. Ein Notruf trifft ein, Sie nehmen das Telefon ab, dann spielt sich folgender Dialog ab:

»Rettungsdienst- und Feuerwehrnotruf, guten Tag.«

»Hallo. Könnten Sie bitte einen Rettungswagen schicken?«

»Was ist denn passiert?«

»Hier ist jemand erkrankt.«

»Erkrankt, verstehe. Geht das noch etwas genauer?«

»Nein, leider nicht. Ich kann nur sagen, dass hier jemand erkrankt ist.«

»Unklar erkrankt also. Aber selbstverständlich. Frau XY, ich schicke Ihnen sofort einen Rettungswagen. «

Und so weiter. Wäre ein Dialog dieser Art für Sie denkbar? Richtig, für mich auch nicht. Ich würde genau wie Sie wissen wollen, welches Problem der Anrufer eigentlich hat. Aber gut.

Ich ließ Lennys Gemaule unkommentiert, da ich ohnehin nichts ändern konnte. Die Kirchturmuhr schlug vier Uhr morgens. Vor dem Eingang der Disco standen zwei Türsteher, die beide nicht ganz helle zu sein schienen. Der eine hatte seinen Klopshintern in eine viel zu enge schwarze Lederhose gezwängt, die an der Seite bereits eingerissen war. Der Zweite hatte seine hässliche Visage hinter einer Sonnenbrille der Marke »Terminator« versteckt. Eine Freakshow. Vermutlich lag es an der fortgeschrittenen Uhrzeit, dass meine Wahrnehmung derart gehässig war.

Wir durchquerten nun das Gebäude und traten durch den Hinterausgang ins Freie. Das zugedopte Partypüppchen lag im Hinterhof des Lärmkellers und hatte den Wettbewerb um die Tagesvollste unbestreitbar gewonnen. Mehrere Typen standen um sie herum.

»He, Mann, ey ... bewegt euch endlich. Warum seid ihr so langsam? Sie stirbt fast.«

»Jetzt mal ganz ruhig«, antwortete ich, »hier stirbt niemand so schnell.«

»Woher willst du das wissen?«

Ja ... woher sollte ich das wissen? Lag es an der Uhrzeit? Oder an der Umgebung? Oder lag es einfach nur an den Typen, die Lenny und mich gerade umstellt hatten? Möglicherweise halfen mir auch fast 20 Jahre Erfahrung im Rettungsdienst, die meine Blicke für Notfallsituationen geschärft hatten. Lenny war ebenfalls meiner Meinung. Ich fuhr mit der Anamneseerhebung fort.

»Was ist genau passiert?«

»Hey, Mann ... was sollen die blöden Fragen? Helft ihr einfach!«

»Die hat von dem da Speed bekommen«, kam eine emotionslose Stimme aus dem hinteren Bereich, und jemand deutete auf den aggressiven Kerl.

»... und gesoffen«, ergänzte eine zweite Stimme.

»Mann, halt die Fresse«, schrie der unangenehme Zeitgenosse in vorderster Reihe seinen Kumpel an, »die hat nix von mir genommen.«

Lenny nahm das Ohrthermometer. Das 25-jährige Partyopfer hatte Fieber. Ein typischer Effekt von Amphetaminmissbrauch. Durch die anregende Wirkung auf das zentrale Nervensystem kommt es zu einem Gefühl der Euphorie und des Über-den-Dingen-Stehens. Die Drogennutzer überschätzen sich und geraten irgendwann in einen Teufelskreis, den sie nicht mehr so schnell verlassen können. Drogen nehmen, Wirkung genießen, Wirkung lässt nach – irgendwann muss die Dosis gesteigert werden, um den gleichen Effekt zu erzielen. Nicht selten endet eine Speedparty in einem Systemausfall des Konsumenten. Bei dem Mädchen kam noch eine nicht zu unterschätzende Menge an Alkohol mit ins Spiel. Aus ihrem Gucci-Handtäschchen war ein Ausweis herausgefallen. Ihr Name war Svenja.

»Ich hab dem Arschloch in eurer Zentrale doch gesagt, dass ihr euch beeilen sollt, Mann«, schnauzte der Typ uns an.

»Polizei. Wer ist hier ein Arschloch?« Mehrere Polizisten betraten den Hof über den Hinterausgang der Diskothek.

»Der Freund hier, der vermutlich auch Dealer von Beruf ist«, bemerkte ich und sah den Polizisten an.

»Mehr dürfen wir aus Gründen der Schweigepflicht leider nicht sagen«, konstatierte Lenny und blinzelte mir zu.

»Wer hat euch gerufen? Ihr kommt ausnahmsweise wie bestellt«, sagte ich.

»Niemand. Wir waren nur zum Kontrollieren hier. Eine Bedienung schickte uns hier raus, weil sie dachte, es gebe Ärger«, antwortete der Polizist und nahm sich den Kameraden vor, der uns bedrängt hatte.

Es folgten eine Festnahme und eine ergiebige Durchsuchung des mutmaßlichen Drogendealers, der dem Mädchen zum Speedrausch verholfen hatte. Alle übrigen »Zeugen« hatten sich schnell aus dem Staub gemacht, als sie die Polizisten gesehen hatten.

Mittlerweile war Svenja aufgewacht und gab unerotische Grunzlaute gleich einem Hausschwein von sich. Gegen den venösen Zugang hatte sie sich nicht gewehrt.

»Guten Morgen, Svenja.«

»Uääääääääh!«

»Sieht wohl so aus, als ob sie dich nur von den Knien abwärts hübsch findet«, stellte Lenny grinsend fest. »Du bist und bleibst ein optischer Sanierungsfall.«

»Sehr witzig«, gab ich zurück. Wir luden die vollgekotzte Svenja dann in den Rettungswagen und machten uns mit ihr in der Notaufnahme wieder einmal keine Freunde.

Zwei Wochen nach unserer ersten Begegnung mit Svenja trafen wir sie erneut. Und danach regelmäßig immer wieder in sehr ähnlichen Situationen. Exzessiver Alkoholkonsum, Drogenrausch, Notaufnahme – immer die gleiche Geschichte. Im Verlauf der Zeit erfuhr ich eine ganze Menge von ihr. Sie erzählte mir von ihrer schrägen Kindheit, ihren Essstörungen und dem Beginn ihrer Drogensucht. Zuletzt rief uns der Besitzer einer heruntergekommenen Bar im Gewerbegebiet unseres Ortes zu sich, weil Svenja nach reichlichem Amphetamin- und Alkoholkonsum kollabiert war und ihm zur Erinnerung eine vollgekotzte Theke hinterlassen hatte. Eigentlich hatte sie versprochen, nie wieder Drogen zu nehmen – vor allem kein Speed mehr. Na ja, der übliche Junkieblues. Nach dem Kollaps ist grundsätzlich alles schrecklich. Es wird geweint und gezetert. Wenn der Junkie dann aber ausgenüchtert ist, geht das gleiche Spiel von vorne los.

Eines Tages kamen wir dann zu spät. Wir fanden sie tot in ihrer Badewanne, nachdem ein Nachbar, der sie seit einigen Tagen nicht mehr gesehen und sich Sorgen gemacht hatte, einen Notruf getätigt hatte. Die Kombination von Barbituraten und Alkohol hatte sie besiegt – ob absichtlich oder aus Versehen, wissen wir nicht. Viele Fotos von ihr hingen in ihrer Wohnung oder standen auf der Kommode. Sie zeigten Svenja in besseren Zeiten – als begeisterte Kletterin und auf einem giftgrünen, pfeilschnellen Motorrad, auf dem »Spaß« stand. Eine Frau, die das Extreme geliebt hatte, bis es ihr zum Verhängnis geworden ist.

Sie sehen aber gar nicht gut aus!
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