Die Illegale

Dieses Kapitel knistert vor Erotik. Der Held kriegt einen trockenen Hals und Angst. Mehr, als ihm lieb ist.

Die letzte große Barriere vor Lhasa heißt 102 Great Landslide. Sie ist eine der berühmtesten Erdrutschzonen der Welt. Etliche Geologen bereits haben umfangreiche wissenschaftliche Abhandlungen über dieses Fleckchen Tibet geschrieben, weil die Erde nirgends so schön rutscht wie hier. Die 318 war seit 1991 auf diesem Abschnitt zehnmal blockiert, und das jeweils nicht nur für ein paar Stunden. Die kürzeste Blockade dauerte fünfzig Tage, die längste hundertneunundsiebzig. Einen Mega-Erdrutsch gab es im Juni 1996. Da sausten fünf Millionen Kubikmeter Erdreich zu Tal und rissen gleich mal einen halben Kilometer der Nationalstraße mit. Am Ende landeten die Erdmassen im Parlung Tsangpo, einem der beiden Quellflüsse des Brahmaputra und dem Fluss, der hier parallel zur 318 verläuft. Der so entstandene Damm staute ihn zu einem See von drei Kilometern Länge. Als der Damm schließlich brach, hatte das gleich noch einmal vier große Erdrutsche zur Folge.

Wir erreichen die legendäre Erdrutschbahn an unserem vierten Tag in Tibet. Den Tag zuvor sind wir von Rawok aus zunächst gemütlich am postkartenblauen Rawok-See und dann am Parlung Tsangpo entlanggefahren. Weil sich hier die Straße dicht am Fluss hält, gibt es keine spektakulären Passstraßen mehr. Nur auf der linken Seite blinkten immer wieder schneebedeckte, über sechstausend Meter hohe Gipfel, hinter denen die indische Grenze liegt. Der dramatischste Zwischenfall auf der ansonsten undramatischen Fahrt ereignete sich dann kurz vor Kilometer viertausend. Ein Jeep lag kopfüber in einem Kiefernwald. Er hatte sich offensichtlich kurz zuvor auf gerader Strecke überschlagen und war dann in die Rabatten gerauscht. Zwar stand bereits ein Minibus an der Unfallstelle, trotzdem wollte ich, dass wir halten, um zu sehen, ob die Verunglückten Hilfe brauchten. Als Bart Dorje meinen Wunsch übersetzte, wurde der zum ersten Mal auf dieser Fahrt richtig aufbrausend. «Ich halte auf keinen Fall!», schimpfte der fromme Tibeter, der auf der ganzen Strecke immer wieder sogar für Spatzen gebremst hatte. «Sind die Leute verletzt, müssen wir sie mitnehmen. Sind sie es nicht, auch. Das gibt nur Ärger.» Also bretterten wir durch und erreichten schon am späteren Nachmittag die nicht sonderlich aufregende Stadt Bomi, wo auch übernachtet wurde.

Vor dem Great Landslide halten wir aber, und zwar genau vor einem Schild, das erklärt, inzwischen sei die Erdrutschsituation «basically under control», weil man die Abhänge an einigen Stellen befestigt habe. Doch selbst wir können problemlos erkennen, dass der Berg immer noch bröckelt. Ein Planierfahrzeug räumt gerade die frisch herabgerutschte Erde von der Straße. Trotzdem können wir die Erdrutschzone ohne Zwischenfälle passieren. Wäre es hier allerdings dicht gewesen, hätten wir vierhundert Kilometer zurückgemusst, um anschließend zu versuchen, Lhasa über die viel weitere und gefährlichere Nordroute zu erreichen.

So aber fahren wir weiter parallel zum halben Brahmaputra durch eine Landschaft, die jetzt einen subtropischen Eindruck macht. Es ist wärmer geworden, die Luft ist feucht, und die Fahrt geht durch lange, dunkle Tunnel, die von Bambussträuchern gebildet werden. Auch so hatte ich mir Tibet vor dieser Reise nicht vorgestellt. Auf der Strecke überholen wir mehrmals ausgemergelte und von der Sonne fast schwarz gebrannte Gestalten, die an den Händen hölzerne Flip-Flops und um den Bauch schwarze Leder-oder Gummischürzen tragen. Bei jedem dritten Schritt stürzen sie wie Fallsüchtige zu Boden, berühren ihn mit der Stirn, rappeln sich auf und stürzen drei Schritte weiter wieder. Es sind tibetische Pilger auf dem Weg in ihre heilige Stadt Lhasa. Manche von ihnen haben auf diese Weise schon Hunderte von Kilometern zurückgelegt, und etliche Kilometer liegen noch vor ihnen.

In Bayi kommen wir schon gegen Mittag an. Das heißt, ich habe wieder einmal mehr Zeit, mir einen Ort genauer anzusehen. Es lohnt sich kaum. Die Stadt, mit mehr als sechzigtausend Einwohnern die zweitgrößte Tibets, ist offenbar am Reißbrett entstanden. Entlang der viel zu großen Boulevards stehen langweilige moderne Reihenhäuser. Es gibt auch eine große Garnison, sodass es in den Straßen von Soldaten wimmelt. Doch die sind weit weniger spektakulär als die Tortensoldaten von Rawok. Das mag an der grundsätzlichen Bedeutung liegen, die diese Stadt für das chinesische Militär hat. Bayi heißt 1. August, und das ist das Gründungsdatum der Volksbefreiungsarmee im Jahr 1927. Zum Namen der Stadt passt, dass an jeder Straßenecke Schilder stehen, die die Bevölkerung dazu auffordern, Recht und Ordnung zu achten, auch wenn die englische Übersetzung ein wenig kryptisch ausfällt: «Strongthen the construction of legal system, manga city according to law.»


Ausgerechnet in dieser Stadt treffe ich auf die allerletzte Barriere vor Lhasa, über die allerdings nichts im Reiseführer steht. Sie ist höchstens 1,55 Meter hoch und dunkelblond, hat ein Mausgesicht, ziemlich große Brüste und steht völlig außer Atem plötzlich vor mir: «Gut, dass ich dich treffe», japst sie in hart akzentuiertem Englisch, «ich bin illegal hier. Kannst du mir helfen? Hast du eine Karte?» Vier Sätze, die ausreichen, um mir klarzumachen, dass ich dieses Geschöpf jetzt erst einmal am Hals habe. Sie heißt lustigerweise fast genauso wie ich, nämlich Cristina, und als wir eine halbe Stunde später in der Lobby meines Hotels sitzen, kenne ich schon ihre Nationalität (Spanierin), ihr Alter, ihren Geburtstag – sie wird im Oktober einunddreißig – und die Kurzfassung ihres letzten Jahres. Es ist ein sehr aufregendes Jahr gewesen. Von Spanien ist sie nach Russland getrampt, und den letzten Winter verbrachte sie in der Mongolei in einer Jurte: «Da bin ich gelandet, weil mich ein Truckfahrer belästigt hat. Ich bin aus dem fahrenden LKW gesprungen und habe mir die Knöchel verletzt. Eine mongolische Familie hat mich gepflegt, und ich habe ihnen dafür beim Schlachten geholfen.» Als sie wieder laufen konnte und der Schnee getaut war, trampte sie weiter nach China. Sie war schon in Peking, Nanjing, Shanghai. «Und dann haben mich am Luguo-See in Yunnan zwei deutsche Jungs dazu überredet, nach Tibet zu trampen. Deshalb bin ich hier, aber ich weiß nicht genau, wo das eigentlich ist. Ich habe nur eine kleine Karte.»

Die kleine Karte ist die Übersichtskarte von ganz China in ihrem China-Reiseführer. Auf der kann man tatsächlich seinen Standort nur erahnen. Auf meiner großen Tibetkarte sieht Cristina zum ersten Mal, wo sie wirklich ist. Das ist eine echte Überraschung. «Wir sind ja gar nicht mehr so weit entfernt von Lhasa.» Damit hat sie recht, aber was ich mich frage: Wie ist die kleine Frau überhaupt so weit gekommen? Ohne Permit? «Ich wusste gar nicht, dass man so was braucht. Ich bin einfach losgefahren. In Tibet wollte ich dann in der ersten größeren Stadt hinter der Grenze in einem kleinen Hotel übernachten. Fünf Minuten später war die Polizei da.» Die haben nach Permits gefragt, und als Cristina keine vorweisen konnte, wollten sie sie sofort zurückschicken. Sie ist in Tränen ausgebrochen, und vermutlich weil es schon spät war und sie diesen Anblick nicht ertragen konnten, gaben die Polizisten nach. Sie quartierten die Spanierin allerdings in einem anderen Hotel ein, in der Nähe der Polizeistation, wo sie sich am nächsten Morgen melden sollte. «Sie haben mir sogar das Zimmer bezahlt. Es war total schmutzig, und die Wände waren so dünn, dass ich die Männer im Nachbarzimmer schnarchen hören konnte.»


Das ist genau die Art von Geschichte, wie ich sie aus diversen Tibetforen im Internet kenne. Solche Abenteuer sind auch der Grund, weshalb ich unbedingt legal nach Tibet reisen wollte. Andererseits: Ich hätte doch zu gerne die verblüfften Gesichter der Polizisten gesehen, als sie am nächsten Tag bemerken mussten, dass die Frau im Pippi-Langstrumpf-T-Shirt ausgeflogen war. Cristina meldete sich nämlich nicht auf der Wache, sondern stellte sich einfach wieder an die Straße. Ein Jeep hielt an, der chinesische Fahrer war auf dem Weg nach Lhasa. Die Strecke, für die wir fast vier Tage gebraucht hatten, bretterte er in gut anderthalb Tagen hinunter. Man übernachtete nur einmal in Zogang, doch es gab in dieser Nacht keine Kontrolle. Angehalten wurde der Wagen auf der ganzen Strecke nur ein einziges Mal. «Ich war sehr aufgeregt», gesteht Cristina, «aber der Polizist wollte nur den Führerschein des Fahrers sehen und hat sich um mich gar nicht gekümmert. Dann sind wir hierhergekommen. Als ich dich auf der Straße gesehen habe, bin ich sofort aus dem Wagen gesprungen und zu dir gelaufen, so schnell ich konnte.» – «Aber warum, um Gottes willen? Du warst doch praktisch schon in Lhasa.» – «Da will ich doch gar nicht hin!» – «Nicht? Wohin denn sonst?» – «Ich will in die Brahmaputraschlucht.»

Herrje, die Brahmaputraschlucht. Ich hatte über sie gelesen, als ich meine Reise vorbereitete. Es handelt sich dabei um den tiefsten und größten Flusscanyon des Planeten und zugleich um eine der verbotensten Ecken dieser Welt. Weil die Schlucht direkt an der umstrittenen Grenze zu Indien liegt, lässt die chinesische Regierung keine Fremden in die Gegend. Selbst Chinesen brauchen angeblich ein Permit für die Region. Als Ausländer ohne irgendeine Genehmigung auch nur in die Nähe der Schlucht zu gelangen ist praktisch unmöglich. Genauso gut könnte ein islamischer Terrorist bei der Einreise in die USA seinen Al-Qaida-Mitgliedsausweis vorlegen und erzählen, er würde gerne das Pentagon besuchen. «Außerdem hättest du», erkläre ich, «schon hundertfünfzig Kilometer früher aussteigen müssen. Die Straße, die der Schlucht am nächsten kommt, biegt schon in Bomi ab, noch vor dem Great Landslide.»

Bei dieser Auskunft schaut Cristina betrübt drein. Aber sie fängt sich schnell. «Trotzdem will ich es versuchen», erklärt sie standhaft. «Einfach nach Lhasa fahren ist langweilig. Und außerdem habe ich mich mit meinen deutschen Freunden in der Schlucht verabredet.» Sie wirkt so überzeugt, ich begreife, dass es sinnlos ist, ihr diese Aktion auszureden. Leider habe ich aber auch keinen Schimmer, was ich jetzt hier mit ihr anstellen soll. In einer halben Stunde bin ich mit Bart und Dorje zum Essen verabredet, in einem nahe gelegenen Restaurant. Also frage ich Cristina, ob sie nicht mitkommen will. Ihre Augen leuchten sofort auf. «Gerne. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.» Auf dem Weg zum Restaurant fällt mir auf, dass sie außer einem klitzekleinen Rucksack kein Gepäck dabeihat. «Ist das alles?», frage ich besorgt, denn wer in Tibet ohne Auto unterwegs ist, sollte wenigstens warme Kleidung und ein Zelt einpacken. Es stellt sich heraus, dass sie ihren großen Rucksack in Yunnan gelassen hat. «Ich dachte, in Tibet brauche ich nicht so viel. Aber in sechs Wochen bin ich in Pakistan. Freunde haben versprochen, mir das Gepäck nach Islamabad nachzuschicken.» Freunde, Islamabad, Pakistan. Aha, auch das noch.

Ich bin mir nicht sicher, ob Bart begeistert ist, wenn ich zum Essen eine Illegale anschleppe. Immerhin ist er ein offiziell zugelassener Guide und könnte seine Lizenz gefährden, wenn er sie bewirtet. Doch Bart hat mit Cristina kein Problem. Er blüht sogar richtig auf beim Essen, bestellt sehr großzügig vom Reisegeld und plappert zu meiner Überraschung plötzlich wie ein Wasserfall. «Siehst du, Chris», sagt er etwas spitz zu mir, «so hättest du es doch auch machen können, ohne mich, den Jeep und die Permits.» Klar, denke ich. Wenn man eine kleine Maus ist mit sehr großen Brüsten und dazu noch weinen kann, wenn’s gerade nötig ist, dann mag es sogar eine Zeitlang klappen.

Trotzdem sehe ich schwarz für Cristinas Weiterreise. Schon Bayi könnte sich als ihre letzte Station erweisen. «Du weißt wahrscheinlich nicht», erkläre ich ihr, «dass im Lonely Planet und im Internet vor Bayi gewarnt wird? Die Polizei soll hier besonders gründlich kontrollieren. Leuten ohne Permit wird ausdrücklich geraten, sich von dieser Stadt fernzuhalten.» Aber auch diese Information kann Cristina nicht schrecken. «Ich habe gar nicht vor», verkündet sie, «heute Nacht hierzubleiben.» Auf meiner Karte hat sie nämlich eine Alternativroute in die Schlucht entdeckt. Sie beginnt in der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses. Allerdings weiß niemand etwas über diese Strecke und Bart schon gar nicht: «Die Brücke wird vom Militär bewacht. Dahinter bin ich noch nie gewesen.» Trotzdem will Cristina noch heute Abend über den Fluss und sich dort wieder an die Straße stellen.


Vorher aber geht es noch in ein Internetcafé, E-Mails schreiben. Wir finden einen der üblichen Schuppen in der Hauptgeschäftsstraße und sitzen hier für gut zwei Stunden vor den Rechnern. Cristina schreibt sehr lange und verbissen, wie jemand, der von allen Freunden und Bekannten Abschied nimmt. Ich versuche ihr möglichst lange Gesellschaft zu leisten. Aber als ich mit meinen Mails und noch viel längerem Spiegel-Online-Gesurfe durch bin, wird es langsam Zeit, von der wilden Spanierin Abschied zu nehmen. Doch die ist plötzlich nicht mehr ganz so wild wie noch beim Essen. «Es ist schon ziemlich spät. Ich glaube, ich trampe heute doch nicht mehr weiter.» – «Gut. Dann such dir am besten ein kleines Hotel, das von Tibetern betrieben wird. Ich habe gehört, die gehen nicht so schnell zur Polizei.» – «Ja, guter Tipp. Oder, sag mal», sie macht eine Pause und schaut mich mit großen Augen an, «kann ich nicht vielleicht mit in deinem Zimmer übernachten? Ich habe wirklich große Angst, dass ich nochmal so was wie vorgestern erlebe.»

Ich wusste doch, dass ich sie am Hals habe. Und was mache ich jetzt? Im Prinzip habe ich kein Problem damit, fremde Frauen bei mir übernachten zu lassen, besonders wenn es sich um einen Notfall handelt. Doch wenn sie bei einer Kontrolle in meinem Zimmer erwischt wird, darf sicher auch ich von Lhasa aus nach Hause fliegen. Kathmandu kann ich dann vergessen. Und das alles soll ich für eine spanische Maus riskieren, die, wie mir gerade auffällt, noch nicht einmal wirklich gut aussieht? Ich glaube, das will ich eher nicht. Also schiebe ich Bart vor: «Ich würde ja … Aber mein Guide verliert seine Lizenz, wenn wir auffliegen. Das will ich ihm nicht antun.»

Wahrscheinlich wäre ich auch hart geblieben, hätte sie nicht schon wieder so geguckt. Also gebe ich mir einen Ruck: «Okay, machen wir es so: Du versuchst erst einmal, selbst ein Hotel zu finden. Für den Fall aber, dass wirklich alle Stricke reißen: Mein Zimmer ist im fünften Stock, und die Nummer ist 5a.» Ich würde mir am liebsten wegen meines übertriebenen Edelmuts sofort die Zunge abbeißen. Eine knappe Stunde später klopft es an der Tür. Cristina steht davor, ich hatte nichts anderes erwartet. «Keine Angst», sagt sie, «mich hat niemand gesehen. An der Rezeption waren sie gerade beschäftigt.» – «Okay», flüstere ich, «komm bloß schnell rein.» – «Endlich», seufzt sie, als sie im Zimmer steht. Dann erzählt sie atemlos, wie es ihr draußen ergangen ist. In dem Hotel, bei dem sie es versucht hat, haben sie so getan, als sei sie Luft. «Sie haben einfach durch mich durch gesehen und nicht mir geredet. Dann habe ich noch kurz versucht zu trampen, aber keiner hat gehalten. Du bist doch nicht böse, dass ich gekommen bin? Hier im Zimmer kann ja nichts mehr passieren.» Das ist natürlich Quatsch, denn auch wenn sie wirklich niemand gesehen hat, kann es immer noch eine Routinekontrolle geben.

Aber davon sage ich ihr nichts, um sie nicht weiter zu beunruhigen. Eigentlich ist das auch gar nicht nötig, denn nach nur fünf Minuten macht sie sich sowieso nicht mehr die geringsten Sorgen. Kichernd sagt sie: «Eigentlich ist alles furchtbar aufregend. So wie im Film.» Dann huscht sie unter die Dusche. Als sie wieder herauskommt, bin plötzlich ich es, der denkt, er spiele in einem Film mit. Offenbar handelt es sich um eine romantische Liebeskomödie. Ohne Brille und mit offenen, gelockten Haaren sieht Cristina sehr viel besser aus als auf der Straße. Irgendwie wie eine echte Spanierin. Im Film kann der Zuschauer allerdings immer schon vorher erkennen, dass sich hinter der Kastenbrillenschlange ein Vamp verbirgt. Doch diese Verwandlung hier ist eine echte Überraschung. Auch bin ich nicht darauf vorbereitet, dass sie nur noch einen tarnfarbenen Slip trägt und ein Spaghetti-Top mit großem Ausschnitt.

Noch weniger habe ich damit gerechnet, dass sie in diesem Outfit direkt zu mir aufs Bett hüpft. «Können wir», fragt sie, «uns noch einmal deine Karte angucken? Ich will morgen früh los und mir notieren, welche Ortschaften auf dem Weg zur Schlucht liegen.» – «Äh, na klar, wieso nicht?» Ich hole also die Karte raus, und dann liegen wir nebeneinander und studieren das Terrain. Allerdings fällt es mir nicht leicht, mich zu konzentrieren, auch weil sie mich beim Kartenstudium hin und wieder wie unabsichtlich berührt. Ich bin mir dennoch ziemlich sicher, dass nichts weiter dahintersteckt. Sie verhält sich einfach so, als wären wir zehn Jahre verheiratet gewesen, hätten uns dann scheiden lassen, wären aber gute Freunde geblieben, die alles miteinander machen können, bloß Sex ist ausgeschlossen.

Oder will sie etwa doch was? Das wäre allerdings ein Problem. Erstens bin ich verheiratet. Und selbst wenn mir das egal wäre, habe ich zweitens Schiss. Cristina plappert die ganze Zeit so laut, dass ich ständig damit rechne, dass die Tür aufgeht, ein Polizist im Zimmer steht und sagt: «Einmal die Permits, bitte.» Dieser Gedanke mag ja manche Leute stimulieren, aber nicht mich. Also versuche ich mein Bestes, das Dekolleté und alles andere zu ignorieren. «Du musst erst nach Chemnak», zeige ich auf der Karte, «dann nach Dozhong, und ab da ist die Straße gestrichelt: offenbar nur noch ein Yak-und Pferdepfad.» Wirklich bei der Sache bin ich allerdings nicht. Wieso, denkt es in meinem Hinterkopf, laufen mir in China eigentlich die ganze Zeit kleine Frauen zu, die mit mir shoppen, tanzen oder aufs Zimmer wollen? Das ist mir doch früher nie passiert.

Auf jeden Fall widerstehe ich der fleischgewordenen Versuchung auf meinem Bett so lange, bis sie endlich in ihres geht. Cristina reckt und streckt sich nochmal, flötet: «Christian, du bist mein Schutzengel heute Nacht», und ist binnen Sekunden eingeschlafen. Das ist nun wirklich ungerecht, denn obwohl der Schutzengel ziemlich kaputt ist, kann er kein Auge zutun. Stattdessen lausche ich mit klopfendem Herzen immer wieder in die Nacht hinaus. Jedes Taxi, das vor dem Hotel vorfährt, lässt meinen Puls steigen. Vielleicht ein Polizeiwagen auf dem Weg zur Routinekontrolle? Dummerweise ist es Samstagnacht, da sind selbst in tibetischen Garnisonsstädten etliche Taxis unterwegs. Alle zehn Minuten stehe ich auf, gehe rüber zum Fenster, sehe auf die Straße und den großen Kasernenhof dahinter, dann lege ich mich wieder hin, beruhigt für allenfalls fünf Minuten. Zwischendurch rauche ich eine Zigarette nach der anderen und denke an das, was die illegale Tibettouristin Alexandra David-Néel vor mehr als siebzig Jahren aufgeschrieben hat: «Menschen, die ein schwaches Herz haben oder ihre Nerven nicht ausreichend im Griff, sollten besser eine solche Reise meiden. Dinge wie diese können leicht einen Herzschlag oder Wahnsinn auslösen.» Immerhin weiß ich jetzt, was sie mit «Dinge wie diese» gemeint hat.

Tatsächlich wäre ich in diesem Moment gerne woanders. Ich glaube zwar nicht, dass mein Herz schlappmacht oder ich heute Nacht dem Wahn verfalle, doch hasse ich mich für meine übertriebene Angst und Nervosität. Ich würde mich gerne eine Spur heroischer benehmen. Als Jugendlicher habe ich immer geglaubt, es sei meine Bestimmung, ein Revolutionär im Untergrund zu werden, das Verstecken von Illegalen mein täglich Brot. Doch jetzt wird mir ausgerechnet in dem Land, auf das ich damals alle meine revolutionären Hoffnungen projizierte, klargemacht, dass ich zum Verstecken von Illegalen nicht im Mindesten tauge. Ein wirklich tragischer Moment in meinem Leben. Die Illegale selbst ratzt derweil munter weiter. Nur ab und zu redet sie sehr laut im Schlaf, ich zucke jedes Mal zusammen. Ich kann zwar ihr Traumspanisch nicht verstehen, doch es hört sich so an, als bequatsche sie schon wieder chinesische Polizisten.


So gegen vier Uhr morgens schlafe ich endlich doch noch ein. Um sieben wecke ich Cristina. Jetzt ist meine größte Sorge, dass sie unbemerkt wieder aus dem Hotel kommt. «Willst du wirklich immer noch in die Brahmaputraschlucht?», frage ich. «Natürlich, wieso denn nicht?», gibt sie zurück. Dann verabschieden wir uns mit Wangenküssen. Ich stelle mich ans Fenster und warte unruhig darauf, dass sie unten auf der Straße auftaucht. Sie lässt sich geschlagene zehn Minuten Zeit, und ohne sich noch einmal umzusehen, stapft sie dann entschlossen in Richtung Brücke. Eigentlich, so denke ich, müsste ich ihre Reise aufschreiben. Dagegen ist doch das, was ich hier mache, nur ein etwas ausgedehnterer Sonntagsspaziergang eines alten, viel zu nervösen Sacks.