Die guten Menschen von Sichuan

Tornados, Taifune und tonnenweise Regen jagen unseren heldenhaften Helden. Dafür darf er umsonst essen und trinken und lernt die Bosse Chinas kennen. Che Guevara hat einen Cameo-Auftritt.

Als ich nach einer Woche Chongqing City endlich wieder im Bus sitze, atme ich tief durch. In den letzten Tagen habe ich mir immer wieder Sorgen um das Wetter gemacht. In Chongqing hat es zwar nur einmal kurz geregnet, aber der Jialing war wegen der schweren Regenfälle von Tag zu Tag am Oberlauf immer stärker angeschwollen. Östlich von Chongqing versanken ganze Städte in den Fluten. In der Provinz Anhui hatte es sogar einen Tornado gegeben, was normalerweise in China nicht passiert. Chongqing selbst wird im Moment von den Ausläufern eines Taifuns bedroht, der vor zwei Tagen auf die südchinesische Küste geprallt ist. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich weiter nach Westen komme.


An der Ausfallstraße sehe ich einen Mann, der auf dem Bürgersteig mit der Lötlampe Fische brät, die er offenbar gerade im Jangtse gefangen hat. Solch ein Bild werde ich wahrscheinlich so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen, denn kurz darauf muss ich Abschied von dem Fluss nehmen. Der Jangtse hat mich auf dieser Reise praktisch die ganze Zeit begleitet, wenn auch zu Anfang in etwas größerer Distanz. Ich werfe noch einen letzten Blick auf das braune Wasser, dann verschwindet der Bus in einem Tunnel, und der Fluss ist weg. Wenn alles gut geht, werde ich ihn rund tausend Kilometer weiter westlich noch einmal wiedersehen, wo er unter einem anderen Namen die Grenze zu Tibet bildet.

Ich fahre jetzt auf dem kürzesten Weg zurück zur 318. Vorher muss ich allerdings Station in der Stadt Dazu machen. Hier gibt es über tausend Jahre alte, buddhistisch und daoistisch inspirierte Felsskulpturen zu sehen, die 1999 zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Da kann ich mich schlecht drücken, auch wenn solche Heiligtümer seit Fengdu wegen Halluzinationsgefahr eigentlich auf meiner schwarzen Liste stehen.

Tatsächlich hätte ich Dazu besser ausgelassen. Kaum besichtige ich nämlich brav die Skulpturenschlucht hoch auf dem Baoding-Berg, holt mich der Regen ein. Es gießt aus gewaltigen Tonnen, in die jemand pfenniggroße Löcher gebohrt hat, und es hört einfach nicht mehr auf. Für zwei Stunden bin ich unter einem Felsvorsprung von einem Wasserfall eingeschlossen. So habe ich viel Zeit, die Skulpturen um mich herum zu betrachten. Sie wirken wie ein großer, bunter, in Stein gehauener Comicstrip. In der Nische direkt über mir ist ein Maitreya-Buddha aus dem Fels herausgemeißelt worden. Lachend hält er einen Affen in der Hand. Nach dem chinesischen Horoskop bin ich ein Affe, der Maitreya-Buddha aber ist der Buddha der Zukunft. Hält der mich im Regen gefangen, hat das für meine Weiterreise vermutlich nichts Gutes zu bedeuten.

Die Menschen in der kleinen Stadt lassen mich meine dunklen Ahnungen sofort wieder vergessen. Sie begegnen mir sehr freundlich und behandeln mich ungewohnt korrekt. Der Buchhändler im Servicedorf des Skulpturentals lässt mich nicht aufrunden, sondern besteht darauf, mir zwei Jiao Wechselgeld wiederzugeben, umgerechnet zwei Cent. Wahrscheinlich ist der Mann ein überzeugter Kommunist. In seinem Laden hängt jedenfalls immer noch die klassische Porträtreihe: Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao, ganz so wie anno dunnemals im Bielefelder Roten Buchlädchen. Auch die anderen Leute verblüffen mich mit ihrer Ehrlichkeit. Sie hauen mich sogar dann nicht übers Ohr, wenn sie dazu aufgefordert werden. «Das ist ein Ausländer. Du musst mindestens vier Kuai verlangen!», ruft eine Gemüsehändlerin der Frau zu, die mir gerade auf der Straße eine Portion scharfer Nudeln für zwei Kuai verkauft. «Meine Nudeln kosten zwei Kuai, egal für wen», gibt die Frau ungerührt zurück. Sehr angenehm ist auch, dass die Stadt fast autofrei ist. Stattdessen wimmelt es von Fahrradrikschas, deren Fahrer die ganze Stadt mit Radlaufklingeln bebimmeln.

Trotzdem kann ich unmöglich länger bleiben, denn es regnet weiter wie bescheuert. Und es kann gut sein, dass auch diese niedrig gelegene Stadt in den nächsten Tagen in den Fluten versinkt, so wie schon viele Städte im Osten. Am Nachmittag des zweiten Tages ist der Fluss, der bei meiner Ankunft noch ein stinkendes, fast stehendes Gewässer war, schon ein reißender Strom. Müll, dicke Äste und Inseln aus Lotosblumen, die das Wasser weiter flussaufwärts losgerissen hat, schwimmen jetzt darin. Deshalb fährt mich auch gleich am nächsten Morgen ein Bus durch eine saftig grüne Hügellandschaft voller angeschwollener Bäche über die Grenze in die Provinz Sichuan.

Das hat letztlich kaum etwas zu bedeuten, denn schließlich bin ich schon seit Fengjie auf klassischem Sichuaner Boden. Auch die Stadt Lezhi, in der ich aus dem Bus steige, ist keine sonderlich wichtige Stadt. Ich mache nur halt, weil sich genau hier die Nationalstraße 319, die von Chongqing kommt, mit der aus dem Nordosten herabstoßenden 318 zu einer Straße vereinigt, die weiter die Nummer 318 trägt.

Ich will in Lezhi einfach sehen, wie weit die Straße ohne mich vorangekommen ist, und dann gleich am nächsten Tag weiterfahren, Richtung Sichuans Hauptstadt Chengdu. Deshalb und weil die Sonne wieder scheint, mache ich mich sofort nach meiner Ankunft zum Stadtrand auf, um einen Kilometerstein der 318 zu finden. In der Vorstadt stoße ich auf einen gewaltigen, mit Platten belegten Platz, der so groß ist, dass man bequem ein ganzes deutsches Dorf darauf bauen könnte. Die Chinesen sind Platz-Fetischisten; der «Tian An Men»-Platz in Peking ist zum Beispiel der größte innerstädtische Platz der Welt. Angelegt wurde er wahrscheinlich, damit wir Pekinger wenigstens an einer Stelle das Gefühl großer Weite und relativer Leere empfinden können. Aber es werden auch dort Plätze geschaffen, wo sie garantiert niemals benötigt werden. So dürften alle großen Plätze Chinas zusammengelegt inzwischen eine Fläche bedecken, die so groß ist wie die Schweiz.

Der Platz hier markiert zum Beispiel bloß das Zusammentreffen der beiden Nationalstraßen. Die 319 löst sich in den Platz mündend auf magische Weise auf, während die 318 ihn nur tangiert und dann weiter nach Chengdu führt, das nur fünfzig Kilometer entfernt liegt. Der Anfang dieses Straßenabschnittes ist zu einem prächtigen sechsspurigen Boulevard ausgebaut worden, der am Ortsausgang endet. Dort finde ich auch den gesuchten Kilometerstein. Es ist der erste seit Jingzhou, doch dieses Mal steht er kerzengerade und zeigt 2343 Kilometer an. Hey, das sind schon dreihundert Kilometer mehr als die Luftlinienentfernung zwischen Berlin und Ankara. Allerdings habe ich ungefähr die Strecke Berlin – Kairo noch vor mir.

Der Kilometerstein ist praktisch die einzige Sehenswürdigkeit in der Stadt, außer zweieinhalb Reiterstandbildern und einem kleinen Museum, das dem ehemaligen chinesischen Außenminister und ersten kommunistischen Bürgermeister von Shanghai, Chen Yi, gewidmet ist, dem «größten Sohn der Stadt». Die Attraktion ist hier, so finde ich zumindest, ein Foto, das Chen Yi zusammen mit Zhou Enlai und Che Guevara zeigt. Das Foto wurde 1960 in Peking aufgenommen, also im selben Jahr wie das berühmte Porträt von Alberto Korda, das zur Ikone wurde. Doch in China blickt Che nicht jesusmäßig entrückt in eine imaginäre Zukunft, sondern eher quietschfidel in die Kamera, seine Uniform spannt sichtlich über dem Bauch. Auf keinen Fall würde sich auch nur ein einziger Jugendlicher der Welt diesen Moppel auf sein T-Shirt drucken lassen.


Die allergrößte Attraktion von Lezhi aber sind seine Bürger. Natürlich wird in diesem Provinznest viel gehellot, aber es klingt irgendwie netter als sonst. Mir scheinen die Leute auch mehr zu lächeln. Offenbar haben sich die Bewohner hier vorgenommen, sogar die freundlichen Leute von Dazu zu toppen. Als ich am Nachmittag in einem kleinen Nudelrestaurant bezahlen will, schüttelt die Besitzerin energisch mit dem Kopf. «Du bist der erste Ausländer in meinem Laden», sagt sie, «von dir nehme ich kein Geld.» Ich bin so verblüfft, dass ich mich ohne Protest füge. Aber was ist hier los? Bin ich seit der Gründung der Volksrepublik China der erste Ausländer in dieser Stadt? Greifen meine in Fuling getroffenen Vorsätze? Oder sind das hier einfach nur die sprichwörtlich guten Menschen von Sichuan?

Ich habe noch keine wirkliche Erklärung, da werden am Abend die guten Menschen noch viel besser. In einem zur Straße hin offenen Eckrestaurant bittet mich eine Gruppe Männer an ihren Tisch. Ich kriege schnell heraus, dass es sich um die örtlichen Honoratioren handelt. Sie bemühen sich sehr, mit mir ins Gespräch zu kommen, aber leider beherrschen sie nur zwei Wörter Englisch: «Cheers» und «Boss». Mit diesem Ehrentitel werden mir am Tisch drei der Männer vorgestellt: der Hotel-Boss, der Polizei-Boss und der Supermarkt-Boss. Dabei machen alle drei auf mich nicht unbedingt einen Boss-Eindruck. Der Hotel-Boss, der, wie ich erfahre, das große Hotel besitzt, in dem ich wohne, ist ein kleiner, lustiger Dicker und trägt ganz gewöhnliche Kleidung. Der hagere Supermarkt-Boss hat eine Nickelbrille auf der Nase, kastenförmig geschnittene Haare und vorstehende, schiefe Zähne, und der Polizei-Boss ähnelt mit kahlrasiertem Schädel und nacktem Oberkörper eher einem krawallverliebten Skinhead als einem Mann, der für Recht und Ordnung steht.

Diese Bosse und ihr Gefolge tun so, als seien Brad Pitt, Bruce Willis und Tom Hanks in Personalunion nach Lezhi gekommen, und die Personalunion bin ich. Man schaufelt mir scharfe Sichuan-Leckerbissen auf den Teller und bestellt mir Bier. Der Supermarkt-Boss fragt mich, ob ich schon die größte Attraktion der Stadt, das Chen-Yi-Museum, besichtigt habe. «Sicher», sage ich und bringe die paar chinesischen Floskeln ins Spiel, die ich beherrsche. «Der Genosse Chen Yi war ein Freund von Mao Tse-tung. Auch ich liebe den Vorsitzenden Mao.» Die Antwort stellt alle am Tisch zufrieden. «Dieser Mann ist», sagt der Polizei-Boss und nickt bewundernd in meine Richtung, «ein echter Zhongguo Tong» – ein China-Meister. So werden nur Ausländer genannt, die sich große Kenntnisse über China erworben haben, die meist auch perfekt Chinesisch sprechen und sich mit all ihrer Kraft für das Land einsetzen.

Ein solcher Mann hat natürlich noch einen größeren Empfang verdient. Der Hotel-Boss versucht hektisch, mir etwas zu sagen, und rennt dann los. «Er holt seine Frau», sagt der Supermarkt-Boss. «Du wirst staunen. Sie ist die schönste Frau der Stadt.»

Tatsächlich ist Frau Boss eine echte Sichuan-Schönheit mit leuchtenden Augen, hohen Wangenknochen und brauner Haut. Doch leider hat sie heute Abend Bauchschmerzen und will am liebsten sofort wieder nach Hause. Das geht natürlich nicht, wenn einer der berühmtesten Ausländer Chinas mit dem Hotel-Boss persönlich tafelt. Als sie nach einer knappen Stunde den Empfang dann doch verlassen darf, telefoniert der Hotel-Boss sofort Ersatz herbei. Die Tochter seiner Schwägerin ist ein junges Ding, das angeblich Englisch kann, weil es in Chongqing Englisch studiert. «Sie wird jetzt übersetzen», sagt der Hotelier. Bedauerlicherweise beherrscht die junge Verwandte aber auch nicht viel mehr Vokabeln als die Honoratioren hier, aber eigentlich macht das nichts. Ich komme jetzt sowieso kaum noch zum Reden, da ich die ganze Zeit damit beschäftigt bin, für Fotos zu posieren. Alle Kellnerinnen wollen eins haben, auf dem der große, weise Chinareisende den Arm um ihre Schultern legt, die Kellner ebenfalls, dann auch der Wirt und zufällig vorbeikommende Passanten. Natürlich wird jeder Boss mehrmals mit mir zusammen fotografiert, bis auf den Polizei-Boss, der seine Uniform anzieht und nochmal auf Streife geht, als er sein letztes Bier ausgetrunken hat.

Ich dagegen schaffe es nicht, mein Glas zu leeren. Jedes Mal, wenn es zur Neige geht, wird mir von einem der Herren am Tisch nachgegossen. Erst als weit nach Mitternacht der Polizei-Boss wiederkommt und die anderen mit irgendwelchen Räuberpistolen ablenkt, kann ich unbemerkt das Bier in einem Zug hinunterstürzen. Ich will auch gleich die Chance zum Bezahlen nutzen, doch das darf ich schon wieder nicht. Offenbar ist Lezhi für Ausländer eine bargeldlose Zone.

Nach einigem Protest gestattet man mir allerdings, mich zurückzuziehen. Trotz der späten Stunde lässt es sich der Hotel-Boss nicht nehmen, mich in sein Hotel zu bringen. Dabei muss uns seltsamerweise die Tochter der Schwägerin begleiten. «Wie findest du sie?», fragt der Hotel-Boss, und obwohl ich seine Frage verstanden habe, soll das Mädchen übersetzen. «How you like her?», setzt sie an, offenbar ohne zu begreifen, dass sie selbst gemeint ist. «Bu cuo» – nicht schlecht, gebe ich zurück, um niemanden zu verletzen. Ich fürchte aber, dass sich der Hotel-Boss auf eine ganz spezielle Weise großzügig zeigen will. Am Ende bleibt das Mädchen dann doch im Foyer, während mich der Hotel-Boss persönlich an der Zimmertür abliefert. Er muss sich dafür richtig anstrengen, denn der Fahrstuhl ist kaputt, und wir müssen noch in den fünften Stock. Lehrer Charles fällt mir ein: «Das ist unsere chinesische Weise, unsere ausländischen Freunde willkommen zu heißen.» Diesmal allerdings gibt es keinen Haken.


Zufrieden sinke ich ins Bett. Ein Disco-Chinese, denke ich kurz vor dem Einschlafen, werde ich sicher nicht. Aber Boss-Chinese könnte mir gefallen. Und China-Meister bin ich schon, wer hätte das vor kurzem wohl gedacht?