Steh-Disco 3000

Jeder Langzeitreisende kommt früher oder später in die Krise. Unseren Helden erwischt es auf dem Weg in die größte Stadt der Welt. Ein amerikanischer Weltkriegsgeneral, ein potenzsteigerndes Gericht und drei chinesische Freunde bringen ihn wieder auf die Beine.

In dieser Nacht schlafe ich keine Sekunde. Als ich mich am frühen Morgen völlig zerschlagen aufrappele, räche ich mich als Erstes am Hotel. Ich programmiere die Menüsteuerung des Fernsehens von Chinesisch auf Englisch um. An dieser Nuss wird der Hotelfernsehwart einige Zeit zu knacken haben.

Dann mache ich mich zum Busbahnhof auf. Dabei habe ich nur einen Gedanken: so schnell wie möglich raus aus der Hölle. Aber wohin? Eigentlich hatte ich geplant, von Fengdu aus nach Chongqing City zu fahren, das höchstens noch hundertvierzig Kilometer entfernt ist, und danach wieder zurück auf die 318. Doch diese Megastadt, da bin ich sicher, wäre in meinem Zustand zu viel für mich. Ich muss an einen ruhigeren Ort, um mich auszuruhen und nachzudenken.

Am Schalter entscheide ich mich für Fuling, nur vierzig oder fünfzig Kilometer südlich, genau genommen auch nur ein Stadtteil von Chongqing. Ich kenne diese Stadt aus dem schönen Buch «Rivertown» des amerikanischen Autors Peter Hessler, und ich weiß: Hier ist es ruhig und beschaulich, und zu sehen gibt es praktisch nichts. Aber als ich in die Stadt reinfahre, erkenne ich das Buch-Fuling nicht wieder. Eine Stadtautobahn verläuft auf Stelzen am Jangtse-Ufer, mitten in der Altstadt steht neben einem ultramodernen Stadion ein Fünfsternehotel, und die Jugend isst bei KFC. Aus dem abgelegenen Provinznest mit gerade zweihunderttausend Einwohnern ist eine Millionenstadt geworden. An sich keine sonderlich bemerkenswerte Entwicklung, wenn es nicht gerade mal zehn Jahre her wäre, dass Hessler hier gelebt hat.

Zu meiner Begrüßung ziehen schwarze Wolken auf, und es fängt wieder mal an, wie aus Eimern zu schütten. Ich checke in einem Hotel beim Busbahnhof ein und weiß schon jetzt, dass ich es in den nächsten Tagen nur zum Essen verlassen werde. Das liegt am Wetter, aber auch an den Erlebnissen der letzten Tage und Wochen. Ich fühle mich plötzlich ganz matt und ausgelaugt. Zum ersten Mal auf dieser Reise frage ich mich, ob mein ursprünglicher Plan nicht Blödsinn war: So nebenbei chinesisch zu werden geht wahrscheinlich selbst auf einer so langen Fahrt wie dieser nicht. Sollte ich nicht vielleicht mein ganzes Projekt aufgeben?

Dagegen spricht, dass ich inzwischen schon ein gutes Stück in meiner Entwicklung zum Chinesen vorangekommen bin. Ich kann immer mehr sprechen und mich sogar auf Chinesisch streiten. Seit neuestem schmeckt mir sogar chinesisches Frühstück. Und vor ein paar Tagen habe ich bemerkt, dass sich mein Gang verändert hat. Ich haste nicht mehr durch die Gegend, sondern bewege mich immer mehr wie ein Chinese – im langsamen Schlenderschritt. Und überhaupt: Was wäre denn die Alternative? Weiter als Ausländer mit anderen Ausländern in Peking abhängen, um im Smoking mit Staatssekretären über Angela Merkels Chinapolitik zu diskutieren? Oder gleich zurück nach Berlin? Im Prenzlauer Berg wohnen, schlecht essen gehen, synchronisierte Filme gucken und einen auf digitalen Bohemien machen wie praktisch alle meine Freunde und Kollegen?

Nein, das geht nun wirklich nicht, jedenfalls nicht mehr in meinem Alter. Außerdem erwarten meine Schwiegereltern schon seit einiger Zeit etwas Größeres von mir, eine Tat. Ich muss weiterfahren, etwas anderes kommt nicht in Frage. Den letzten Ausschlag gibt das Buch von Peter Hessler, das ich auf dem Hotelzimmer noch einmal lese. Der Autor hat zwei Jahre lang in Fuling gelebt, als einer von genau zwei Ausländern. Am Anfang hatte er dieselben Probleme wie ich. Er hat auch genauso reagiert. Um die Hello-Schreier nicht mehr zu hören, ist er praktisch nur noch mit Walkman in die Stadt gegangen. «Das war der einzige Weg», schreibt Hessler, «wie ich es aushalten konnte: Ich hörte die lauteste und aggressivste Rap-Musik, die ich dabeihatte – Dr. Dre, Snoop Doggy Dogg, die Beastie Boys. Nur so blieb ich bei Sinnen.» Der Unterschied zwischen mir und Hessler ist, dass ich einen iPod benutze und andere Sachen höre. Dabei kommen mir plötzlich viele Stücke so vor, als seien sie extra für China geschrieben worden oder sogar für mich auf dieser Reise: «To hell with poverty» von Gang of Four oder «Shameless» und «Too many people» von den Pet Shop Boys oder das Chinastück schlechthin, «Paranoid Android» von Radiohead. Das Bewundernswerte an Hessler aber ist, dass er trotz aller Widrigkeiten nicht aufgab. Und es hat sich schließlich ausgezahlt: Nach zwei Jahren allein unter Chinesen hatte er sich nicht nur ihren Respekt erworben, er konnte auch perfekt Chinesisch und schrieb obendrein eins der besten zeitgenössischen China-Bücher.

Wenn ich aber weiterfahren will, muss ich wirklich ein paar Dinge ändern. Ich nehme mir vor, mich in nächster Zeit von allen Stätten des Aberglaubens, wie Höllen, Tempeln etc., fernzuhalten. Vor allem aber will ich die Sache mit dem Chinesischwerden entspannter angehen, denn das Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit ist wohl auch ein Grund dafür, dass ich gerade dieses Tief habe. Mit frischen Vorsätzen gewappnet, wage ich es nach zwei weiteren Tagen, mich in einen Bus nach Chongqing zu setzen. Der Bus fährt die rund hundert Kilometer über die Autobahn und durch kilometerlange Tunnel in gerade mal anderthalb Stunden. Vor zehn Jahren brauchte Peter Hessler für dieselbe Strecke noch fünfeinhalb. Damals musste er die Fähre nehmen, denn eine Autobahn war noch nicht gebaut.

Um nicht in Chongqing das nächste Hoteldesaster zu erleben, miete ich mich im besseren Sanxia Hotel ein, zu deutsch das Drei Schluchten. Das Hochhaus steht an der Spitze der von den Flüssen Jialing und Jangtse eingeschlossenen Halbinsel, auf der die Innenstadt von Chongqing liegt. So kann ich aus meinem Zimmer im siebzehnten Stock direkt auf die Docks an den Flüssen sehen, an denen laufend kleine Fähren und Ausflugsboote an-und ablegen, und auf den Chao-Tian-Men-Platz, der wie der Bug eines großen Dampfers in die beiden Flüsse hineinragt. Von hier aus sind es fast sechshundert Kilometer flussabwärts bis zum großen Damm bei Yichang, an dem ich, wie es mir vorkommt, vor einer Ewigkeit war, der aber selbst hier noch das Jangtse-Wasser staut.

Über dem lehmbraunen Fluss wird gerade eine gigantische Stahlbrücke errichtet, und auf dem Chao-Tian-Men-Platz baut man eine große Bühne auf. Hier soll am Abend das zehnjährige Jubiläum der Rückkehr Hongkongs zum Mutterland begangen werden. In Chongqing hat man aber noch einen anderen Grund zu feiern. Am 1. Juli 1997, dem Tag der Rückkehr Hongkongs, wurde Chongqing per Dekret zur größten Stadt der Welt gemacht, indem man das riesige Stadtgebiet kurzerhand aus der Provinz Sichuan heraustrennte. Warum, ist allerdings nicht ganz klar. Wahrscheinlich wollten die von Superlativen besessenen Chinesen einfach die größte Stadt der Welt haben.

Das ist Chongqing natürlich nur auf dem Papier, denn die eigentliche Stadt ist mit fünf Millionen Einwohnern sogar kleiner als Wuhan. Trotzdem gilt Chongqing als so etwas wie Chinas Zukunftscity, mit immer größeren Bauprojekten versucht man hier sogar Peking zu übertreffen. Die Innenstadt wurde mit himmelhohen Bürohochhäusern, diversen Times Squares und gläsernen Shoppingmalls zu einer Kreuzung aus Manhattan, Chicago und Gotham City umgebaut, durch die eine neue U-Bahn nicht auf zwei Schienen fährt, sondern auf nur einer. Die Stadt ist so hypermodern, dass sogar die Friseure dazu übergegangen sind, ihren Läden Wortspielnamen zu geben. Ein Salon in der Innenstadt heißt Bei + Jing. Kein Wortspielquantensprung, gewiss, aber darauf muss auch erst einmal einer kommen.

Mir gefällt es in dieser Hello-freien Zone, auch weil ich mich hier nach der Anstrengung in Chongqings gesammelten Vororten endlich wieder einmal ganz unchinesisch verhalten kann. In meinem Lieblingsfoodcourt Food Republic – einer Singapurer Kette – esse ich mal koreanisches Bibimbap, mal Roti Prata, das von indischen Gastarbeitern gebacken wird, die besser Chinesisch können als Englisch. In der Filiale des französischen Supermarktgiganten «Carrefour» kaufe ich fürs Frühstück Baguette und Schmelzkäse ein, auf dem «Brotzeit» steht und der tatsächlich aus Bayern stammt. Pizza esse ich in einer Pizzeria, die Amalfi heißt, und auch wenn sie schlechter als eine durchschnittliche Ristorante ist, bin ich schon deshalb zufrieden, weil sie nicht chinesisch schmeckt. Nur im Kino läuft leider nicht wie erhofft «Garfield 2» – verdammt, ich weiß immer noch nicht, wie er ausgeht –, sodass ich mit einem Hongkong-Thriller ohne Untertitel vorliebnehmen muss.


Nach zwei Tagen habe ich mich genug erholt, und ich kann mich an die Erforschung von Chongqings Stadtgeschichte machen. Die ist schon deswegen interessant, weil Chongqing im Zweiten Weltkrieg die provisorische Hauptstadt Chinas war. Die damalige Hauptstadt Nanjing – die ungefähr auf dem demselben Längengrad liegt wie Jiu Hua Shan – fiel 1937 in die Hände der Japaner, weshalb Regierungschef und Nationalistenführer Chiang Kai-shek die Hauptstadt zunächst nach Wuhan verlegte. Als dann auch Wuhan fiel, zog man sich noch weiter nach Westen zurück. Wie viel weiter, kann ich erst jetzt richtig ermessen, denn der Rückzugsweg der chinesischen Regierung deckt sich ungefähr mit meiner bisherigen Reiseroute.

Bis heute ist die Stadt für alle Chinesen ein Symbol ihres Widerstandswillens, denn Chongqing wurde den ganzen Krieg hindurch gehalten, wenn auch unter großen Opfern. Die Stadt wurde praktisch täglich von den Japanern angegriffen, was sie zur am meisten bombardierten Stadt in China macht. Die Bombardements finden sogar heute noch statt, in der «Jahre des antijapanischen Krieges»-Halle des Dreischluchtenmuseums. Hier steht in einem dunklen Kinosaal ein großes Kriegspanorama, welches das zerstörte Chongqing zeigt. Mehrmals täglich wird vor diesem Hintergrund die Stadt noch einmal in Schutt und Asche gelegt, dieses Mal aber nur multimedial. Ich sehe die Japaner Angriffswelle auf Angriffswelle fliegen. Vom Band kommen Motorendröhnen, Explosionsgeräusche, Schreie und die Stimme des Sprechers, der leider alles nur auf Chinesisch erklärt.

Das ist auch das Problem in Hong Yan Cun, dem «Rote Klippen»-Dorf, das sich zu Kriegszeiten etwas außerhalb Chongqings befand, heute aber mitten in der Stadt liegt. Das Dorf ist ein Wahrzeichen des kommunistischen Widerstandes gegen die Japaner. Während des Krieges hatte hier die Chongqinger Abteilung der kommunistischen Achten Route-Armee ihr Büro sowie das von Zhou Enlai geleitete Südbüro der Kommunistischen Partei. Die Gebäude liegen sehr idyllisch zwischen Trauerweiden, Palmen und Bananenstauden, doch was hier genau passierte, erfahre ich leider nicht. Im Klippen-Dorf und im benachbarten Museum gibt es nur wenige Schrifttafeln auf Englisch, sodass mir lediglich das Häuser-und Bildergucken bleibt.

Immerhin komme ich überraschenderweise doch noch zu so etwas wie einer Mao-Villa. Mao hat von Ende August bis Mitte Oktober 1945 im Klippen-Dorf gewohnt, um mit Nationalistenführer Chiang Kai-shek einen Waffenstillstand zwischen den Kommunisten und Chiangs Kuomintang-Partei auszuhandeln. Am 10. Oktober wurde dieses Abkommen geschlossen, hielt allerdings nicht lange. Natürlich wohnte Mao für die paar Wochen nicht in einer Villa, sondern nur in einem Zimmer im Gebäude des Südbüros. Kirschrote Slipper oder Blutdruckmessgeräte gibt es nicht zu sehen, dafür ein spartanisches Bett, einen Schreibtisch und einfache, aber elegante Rattansessel. Überhaupt fällt mir bei der Inneneinrichtung der Wohn-und Arbeitsgebäude in Hong Yan Cun das gute, schlichte Design auf, das im krassen Gegensatz zur zeitgenössischen chinesischen Bau-und Innenarchitekturästhetik steht, die sich mehr an Kitsch und Las-Vegas-Bombast orientiert. Aber schlechter Geschmack und Neureichtum gehören wohl überall auf der Welt untrennbar zusammen.

Meinen kleinen Tauchgang in die jüngere chinesische Geschichte beende ich in der ehemaligen Villa des amerikanischen Weltkriegsgenerals Joseph Stillwell, die hoch über dem Jialing-Fluss an einem Abhang klebt. Stillwell war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs als Stabschef an der Seite Chiang Kai-sheks der wichtigste Verbindungsmann zwischen der chinesischen und der US-Regierung; außerdem befehligte er die amerikanischen Truppen in Indien, Burma und China. In der Villa hat er während seiner Chongqinger Zeit gearbeitet und gelebt. Hier ist auch endlich einmal alles ausgezeichnet ausgeschildert, wohl deshalb, weil die Chinesen wollen, dass der General im Westen nicht in Vergessenheit gerät. Tatsächlich besucht mit mir zusammen eine Gruppe Amerikaner das Museum, während sich in Hong Yan Cun und in der Panorama-Show kein Ausländer blicken ließ.

Die Amerikaner bleiben im Hof der Villa vor einem großen Steinbuch stehen, in das Präsident Roosevelts Grußadresse vom 17. Mai 1944 eingemeißelt ist. Er gratuliert darin der Bevölkerung Chongqings dazu, dem Bombenterror der Japaner standgehalten zu haben. Im Inneren der Villa hängt in der Ecke des Military Meeting Room eine amerikanische Flagge, und von den Wänden blicken George Washington und F. D. Roosevelt. Im Arbeitszimmer stehen Telefone und eine Remington-Schreibmaschine, und über dem Bett im Schlafzimmer hängt ein Foto von Stillwells Highschool-Baseballmannschaft, auf dem «Champions of 98» steht. Alles sieht so aus, als sei der General nur mal eben ausgegangen und käme gleich zurück.

Tatsächlich musste Joseph Stillwell China über Nacht verlassen. Ihm war in seiner Position als Stabschef nicht entgangen, dass die Regierung Chiang Kai-sheks in hohem Maße korrupt war. Stillwell glaubte, dies sei der Hauptgrund dafür, dass ihre Truppen im Kampf gegen die Japaner keine nennenswerten Erfolge erzielten. Deshalb plädierte er gegenüber Washington dafür, die Kommunisten unter Mao mindestens ebenso mit Waffen zu versorgen wie die Truppen Chiangs. Für diesen Fall hatte Mao sogar zugesichert, dass sich die Rote Armee einem amerikanischen Oberkommando unterstellen würde. Doch Chiang Kai-shek drehte fast durch, als er von Stillwells Vorschlag hörte. Er drohte Präsident Roosevelt, Frieden mit Japan zu schließen, sollte der General nicht umgehend abberufen werden. Chiang setzte sich durch. Im Oktober 1944 bekam Joseph Stillwell den Befehl, China innerhalb von nur achtundvierzig Stunden zu verlassen. Das, so sagen die chinesischen Kommunisten, war der Wendepunkt in der Beziehung zwischen ihnen und den Amerikanern. Nur sechs Jahre später standen sich amerikanische und chinesische Truppen im Koreakrieg direkt gegenüber. Nach Kriegsende waren mehr als eine Million Menschen tot.

Der Besuch in Stillwells Villa stimmt mich nachdenklich. Was wäre wohl passiert, wenn die Rote Armee und die Amerikaner tatsächlich ein Bündnis eingegangen wären? Gäbe es dann heute in China noch mehr McDonald’s? Das kann eigentlich nicht sein. Das Mindeste wäre wohl, dass die meisten Chinesen jetzt mehr Englisch als nur «hello» könnten. Ich bin allerdings nicht der Einzige, in dessen Birne es arbeitet. Mehreren Amerikanern aus der Gruppe steht die Verblüffung angesichts der ausgestellten Fotos ins Gesicht geschrieben, die den kommunistischen Teufel Mao im besten Einvernehmen mit amerikanischen Offizieren zeigen. Das haben sie nicht gewusst. Und selbst ich als alter Maoist hatte keinen Schimmer. Es gibt vieles, was man im Westen über China und die chinesische Geschichte nicht weiß. Und doch bilden sich etliche Leute ein, sie hätten auch in Chinafragen den großen Durchblick.


Für die Abende in Chongqing hatte ich mir vorgenommen, herauszubekommen, was es mit dem berüchtigten Opiumfeuertopf auf sich hat. Schon im Zuge meiner Reisevorbereitungen war ich immer wieder auf Berichte gestoßen, die behaupteten, in Chongqing und Sichuan sei es üblich, den Feuertopfsuppen Opium beizumischen, um so die Kundschaft langfristig an sich zu binden. Sogar in ausgewählten Sichuan-Restaurants in Städten außerhalb der Provinz sei die Beigabe gang und gäbe. Allerdings liegen die letzten konkreten Fälle bereits einige Jahre zurück. So meldete die Bangkok Post am 5. Februar 1999, das Shanghaier Gesundheitsbüro habe bei einer Kontrolle von fünfundvierzig Hot-Pot-Restaurants in einem Viertel der Töpfe Spuren von Opium gefunden. «Die einfachen Leute», wird hier ein Herr Li zitiert, «wussten schon immer von dieser Praxis.»

Ein großes Hindernis bei meiner Opium-Fahndung ist jedoch, dass ich noch von dem Besuch im Restaurant von Lehrer Charles traumatisiert bin. Zwar war in seinem Feuertopf garantiert kein Opium, denn sonst hätte ich wohl in der Nacht danach viel besser geschlafen. Doch wird mir jedes Mal flau, wenn ich nur an einem Feuertopfrestaurant vorbeigehe. Erst am vierten Abend gelingt es mir mit viel Willenskraft, ein Restaurant zu betreten. Prompt scheint sich das Drama von Fengdu zu wiederholen, denn ich kann schon wieder die Karte nicht lesen. Dieses Mal laden mich drei Jungs zu sich an den Tisch ein. Sie bieten mir an, einfach bei ihnen mitzuessen – gegen eine Beteiligung an den Kosten. Das klingt nach einem reellen Angebot. «Wir bestellen auch was ganz Besonderes», sagt einer der Jungs mit einem Grinsen. Aha, alles klar. Die Jungs sind Studenten, die aus Chongqing stammen, aber in anderen Städten studieren. Doch jetzt sind Semesterferien. Der Jüngste von ihnen heißt Victor, ist einundzwanzig und will Elektroingenieur werden. Weil er am besten Englisch kann, ist er es, der mich angesprochen hat. Levis ist fünfundzwanzig, hat eine Tolle, die ihm dauernd in die Augen fällt, studiert Jura und heißt nach der Jeans. «Und das ist Rentboy», stellt Victor den Dritten vor. «Er ist Künstler und der Älteste von uns.» – «Rentboy?», frage ich. Als Antwort rasselt der Angesprochene einen langen unverständlichen Sermon herunter. «Tut mir leid», sage ich, «aber ich habe kein Wort verstanden.» – «Rentboys Englisch ist nicht so gut», erklärt mir Victor. «Er hat gesagt: Choose life. Choose a job. Choose a career. Choose a fucking big television, choose washing machines, cars, compact disc players and electrical tin openers …» – «Genau», sagt Rentboy jetzt mit halbwegs verständlichem Akzent. «Aus welchem Film ist das?» Ich muss ein bisschen überlegen, bis es mir einfällt. «Das ist der Anfang von Trainspotting. Okay, ich hätte schon bei Rentboy draufkommen müssen.» Rentboy nickt und strahlt über das ganze Gesicht.

Die drei gefallen mir, auch weil ich mich mit ihnen über Dinge unterhalten kann, die mich interessieren. Ich rede mit Rentboy und Victor über Filme und Musik, während Levis mit der Kellnerin flirtet. Rentboys Musikgeschmack ist ein ebenso bizarrer Mix wie sein Englisch; seine Lieblingsmusiker sind Usher, Aphex Twin und Pink Floyd. Er kennt allerdings nur «The Wall» und brüllt gleich «We don’t need no education. We don’t need no thought control» durchs Restaurant. Victor mag eher Klassik. Auch das ist durchaus ungewöhnlich, denn die meisten Chinesen in diesem Alter schauen nicht über den Tellerrand der chinesischen Popmusik hinaus. «Gibt es in Chongqing einen Ort, wo man gute Musik hören kann?», frage ich. «Live-Musik nicht. Wir haben keine Bands», sagt Victor. «Aber Chongqings beste Disco ist gleich um die Ecke. Wenn du willst, gehen wir zusammen hin.» Natürlich will ich, und wir verabreden uns gleich für den Samstag.

Dann kommt endlich die Drogensuppe auf den Tisch. Bereits der Topf selbst ist ungewöhnlich. Anders als die Feuertopftöpfe, die ich kenne und die nur eine zweigeteilte Schüssel haben, ist diese Schüssel in mehr als zehn Kammern unterteilt, in der überall die Feuertopfsuppe brodelt. Die Zutaten werden gleich mit aufgetragen. Die Jungs haben unter anderem Schweinepansen, Rindfleisch, Lotuswurzeln, verschiedene Sorten Pilze, lange, etwas zähe Nudeln und Kartoffeln bestellt. Sofort beginnen sie damit, einzelne Zutaten einzutunken. Ich bemerke, dass sie dabei die Kammer in der Mitte bevorzugen. «Da ist die Suppe am schärfsten», sagt Rentboy. Ach so, «am schärfsten», noch so ’n Code.

Allerdings schmecke ich auch nach wiederholtem Dippen nichts Ungewöhnliches. Das müsste man aber doch wohl bei Opium? Um mich nicht zu blamieren, versuche ich meine Frage so allgemein wie möglich zu stellen: «Ich habe gelesen, dass im Sichuaner Hot Pot Opium sein soll. Stimmt das?» Victor und Levis sehen mich erstaunt an. Nur Rentboy hat schon mal was davon gehört. «Ja, das gab es früher. Aber inzwischen schon lange nicht mehr.» – «Aber ihr hattet mir doch etwas Besonderes versprochen? Und da dachte ich …» – «In diesem Hot Pot ist auch was Besonderes drin. Du hast es gerade zwischen deinen Stäbchen.» Wie bitte? Zwischen meinen Stäbchen habe ich eine lange weiße Nudel, an der eigentlich nichts Ungewöhnliches ist, außer ihrer recht festen Konsistenz. «Wieso», frage ich also zurück, «ist das keine Nudel?» Die drei prusten vor Lachen, wollen aber nicht mit der Sprache raus. Endlich erbarmt sich Victor und erklärt: «Deine Nudel … Das ist Schweinepenis.»


Schade, kein Opium also. So kann ich natürlich kein zweiter Somerset Maugham werden. Der Übervater aller Reiseschriftsteller fuhr im Winter 1919/20 den Jangtse hoch und besuchte dabei eine Opiumhöhle. Er hatte eine schwach beleuchtete Kaschemme erwartet, voller ausgemergelter, gespenstischer Gestalten, doch das Etablissement erinnerte ihn an eine «gemütliche Berliner Eckkneipe», einen «heiteren Ort, komfortabel, anheimelnd und behaglich». Maugham war etwas enttäuscht und notierte: «Die Fiktion ist immer sonderbarer als die Realität.» So ist es auch in meinem Fall. Dennoch bin ich doch mit diesem Abend ganz zufrieden. Endlich darf ich meiner Liste der von mir konsumierten ungewöhnlichen chinesischen Speisen nach Hund, Schlange, Frosch und stinkendem Tofu auch Penis hinzufügen.

An meinem letzten Abend in der Stadt treffe ich die drei Jungs dann wie verabredet noch einmal in Chongqings bester Disco. Sie haben noch zwei Kumpel mitgebracht, die aber eher unauffällig sind und kein Englisch sprechen. Ich bin schwer gespannt, wohin wir gehen werden, doch die Disco, die sie ausgesucht haben, ist eine ähnliche Enttäuschung wie Maughams Opiumhöhle. Angesichts von Rentboys Musik-und Filmgeschmack und der Beschreibung der Jungs beim Hot-Pot-Abend hatte ich etwas Avantgardistisches erwartet, zumindest aber etwas Ausgefallenes. Doch schon der Name SoHo ist in Asien verbreiteter als die Vogelgrippe. Drinnen sieht es aus wie in einem amerikanischen Retortenbistro. Um hohe Stehtische stehen jeweils fünf bis sechs Barhocker. Das einzig Verblüffende an diesem Laden ist das Fehlen einer Tanzfläche – offenbar ein völlig neues Discokonzept.

Ich scheine zudem Rentboys intellektuelle Fähigkeiten überschätzt zu haben, zumindest sein Gedächtnis. Zur Begrüßung sagt er mir nochmal sein Trainspotting-Sprüchlein auf. Als ich ihm sage, dass wir bereits so weit waren, ist er sichtlich überrascht. Levis, der seine Sonnenbrille auch in der Disco aufbehält, ist noch wortkarger als letztes Mal und spricht auch schlechter Englisch. Nur Viktor ist unverändert. Er nimmt für unsere Gruppe einen Stehtisch in Beschlag und organisiert die Alkoholbestellung. Ich würde gerne wie gewohnt Bier trinken. Doch offensichtlich wird in chinesischen Discos nur kollektiv bestellt, und es muss härterer Stoff sein. Gemeinsam entscheiden wir uns für Wodka. Okay, den Tag morgen kann ich vergessen, denn hier drohen sicher Fengdu-mäßige Exzesse, denen ich mich diesmal nicht werde entziehen können.

Als die Kellnerin zurückkommt, bin ich sehr erleichtert. Auf ihrem Tablett hat sie eine Flasche polnischen Wyborowa-Zitronenwodka und zehn Flaschen eines chinesischen Energydrinks. Victor und Levis mischen das Zuckerwasser mit dem Zitronenzeugs im Verhältnis 20 : 1, verteilen die Gläser, und wir stoßen an. Ich schmecke nicht die Spur von Alkohol. Mir wird nur heißer, weil sich der Laden langsam füllt, hauptsächlich mit eine Spur zu aufgedonnerten Damen. Doch auf die kann ich mich nicht konzentrieren, weil mich Rentboy immer noch in Beschlag nimmt und weiter über «Trainspotting» doziert. «Weißt du, worum es in dem Film geht?», fragt er mich. «Ich denke, um Heroin, oder?» – «Falsch: Verantwortung. Am Ende von ‹Trainspotting› will Rentboy Verantwortung übernehmen. Und das will auch ich.»

Ich begreife nicht, was mit Rentboy los ist. Er muss seit unserem letzten Treffen vorübergehend von Aliens entführt worden sein, die seine Festplatte komplett gelöscht haben. Dann haben sie sich einen Spaß daraus gemacht, sie mit den genau entgegengesetzten Überzeugungen zu überspielen. Vor ein paar Tagen wollte Rentboy noch als Künstler in Wien wohnen und gab mit seinen laufend wechselnden Frauenbekanntschaften an. Heute verdammt er die Künstlerexistenz und lobt die Ehe: «Es gibt zu viele brotlose Künstler in China. Ich will Innenarchitekt werden und ein Vermögen damit machen.» Vielleicht tritt eine solche Persönlichkeitsveränderung ja ein, wenn man zu viel Penis isst?

Als Rentboy seinen Vortrag beendet hat, ist das SoHo brechend voll. Um alle Stehtische lungern jetzt kleine Gruppen wie die unsere herum, und auf allen Tischen steht eine Flasche Schnaps, dazu ganze Batterien von Energydrinks. Die Leute reden und trinken allerdings nur innerhalb ihrer eigenen kleinen Grüppchen, manche spielen auch. Am Nachbartisch geben sich seltsamerweise drei ältere Paare ohne Unterbrechung dem Servietten-Kuss-Spiel hin, bei dem ein Serviettenfetzen, der immer kleiner wird, von Mund zu Mund weitergereicht werden muss. Die Paare sterben dabei fast an ihrem eigenen Gekicher.

An unserem Tisch wird jetzt abwechselnd gewürfelt oder 0 - 5 - 10 gespielt, ein Spiel, bei dem man Koordinationsvermögen und beide Hände braucht und das entfernt an Schere – Stein – Papier erinnert. Ich mag Kneipenspiele nicht, weil ich immer nur verliere, muss aber trotzdem mitmachen. Deshalb bin ich ganz froh, wenn die Jungs alle halbe Stunde einmal aufbrechen, um sich durch die Disco zu quetschen. Dabei sprechen sie an anderen Tischen Frauen an, kommen aber regelmäßig mit gesenktem Kopf zurück. «Was haben die Mädchen gesagt?», frage ich Victor. «Dass wir Loser sind und abhauen sollen.» Sollte diese Form der Kontaktanbahnung zwischen den Geschlechtern in China gang und gäbe werden, dann kann sich die Regierung ihre Ein-Kind-Politik zukünftig sparen.

Wirklich verblüfft bin ich, dass es die Leute in dieser vollgequetschten Disco ohne Tanzfläche doch noch schaffen zu tanzen. Die Musik, amerikanischer Soul und Hiphop, kommt dabei aus den Lautsprechern von an der Decke hängenden Flachbildschirmen. Stattdessen wird der Stehtisch in der Mitte angetanzt, von manchen sogar auf den Barhockern sitzend. Auch die Jungs tanzen so und machen dabei mit den Armen verhaltene Hiphop-Moves, die sie sich vermutlich aus Videos abgeguckt haben. Rentboy und Levis fordern mich ständig auf, es ihnen gleichzutun. «Sheik your baadie», sagt Rentboy alle fünf Minuten und schlackert vor mir mit seinen Armen. «Sheik your baadie.» Ich aber habe keine Lust. Ich denke, dass es bescheuert aussieht, wenn ein Mann in meinem Alter versucht, sich wie ein junger schwarzer Amerikaner zu bewegen. Außerdem bin ich erst in Tanzlaune, wenn ich wenigstens etwas betrunken bin. Davon kann nicht die Rede sein. Auch nach dem fünften oder sechsten Zitronenwodka-Energy-Glas bin ich stocknüchtern. Langsam muss ich mal überlegen, wie ich hier wieder rauskomme, ohne meine neuen Freunde vor den Kopf zu stoßen.

Ich denke darüber auch nach einer Stunde noch nach, als überraschend die Flachbildschirme ausgeschaltet werden und ein kompakter, kleiner Mann mit Kastenbrille auftritt. Kastenbrillenmann, das weiß ich aus dem chinesischen Fernsehen, bedeutet große Gefahr. Und tatsächlich beginnt die Brille sofort chinesische Schlager und Rockmusik in sein Funkmikro zu schmettern. Dabei mischt sie sich in Ermangelung einer Bühne direkt unters Publikum und wechselt bei jedem neuen Stück von einer Ecke der Disco in die andere. Jetzt sollte ich wirklich gehen. Ich verabschiede mich hastig von meinen Freunden: «Tut mir leid. Ich muss morgen weiter und deshalb früh raus.» Mein so plötzlich angekündigter Abgang wird sofort akzeptiert – ohne ein Wort des Bedauerns. «Gut. Bye, bye. Zai jian.» Ein chinesischer Abschied eben.

Draußen trinke ich an einem Garküchenstand erst einmal ein paar Flaschen Bier und lasse dabei den Abend kurz Revue passieren. Wenn es stimmt, dass China die Zukunft ist und Chongqing Chinas Zukunftsstadt, dann muss die Disco der Zukunft wie das SoHo aussehen: wie ein großer, proppenvoller Kindergeburtstag, auf dem allerdings geraucht werden darf. Will ich tatsächlich meinen Lebensabend so verbringen?