In der Hölle

Der Held kommt in die Hölle. Ihm werden fürchterliche Qualen zugefügt. Die Übeltäter sind: ein buddhistischer Mönch, ein Englischlehrer, eine Grille, der Höllenkönig, ein Fickzeichenzeiger und, und, und. Kim-Il-Sung-Briefmarken werden auch verkauft.

Es gibt noch einen Grund, weshalb ich die Südroute gewählt habe. Auf dem Weg nach Chongqing City liegt die Chongqinger Stadtteilstadt Fengdu, nach chinesischer Überzeugung der Eingang zur Hölle. Eigentlich muss ich doch detailliert wissen, wie es mir als künftigem Chinesen nach dem Tod ergehen wird, und deshalb gehört ein Besuch in Fengdu für mich eigentlich zum Pflichtprogramm.

So ganz unbeschlagen bin ich allerdings nicht in Höllenfragen. Ich war in Singapur schon mal in einer Modellhölle und weiß also ungefähr, wie sie funktioniert. Die chinesische Hölle ist demnach keine Hölle im christlichen Sinne, sondern eher eine Unterwelt, in der alle Menschen nach dem Tod landen, egal ob sie gut waren oder schlecht. Die Bösen werden hier vor diverse, auf unterschiedliche Delikte spezialisierte Gerichtshöfe gestellt, denen jeweils ein Höllenkönig vorsteht. Die Guten werden durch verschiedene Tests herausgefiltert, ihnen bleibt die Bestrafung erspart, und sie können sich eine Weile in der Unterwelt amüsieren. Allerdings gibt es praktisch keine Guten, denn die Höllengerichte verfolgen konsequent auch noch das kleinste irdische Vergehen.

Dabei sind die Unverhältnismäßigkeit und Brutalität der Strafen erschreckend. Wer bei Prüfungen geschummelt hat, dem werden die Eingeweide herausgerissen; wer Pornographie besaß, wird in zwei Teile zersägt; für Ungehorsam gegenüber älteren Geschwistern wird man mit einer Steinkeule zermatscht. Da kann man eigentlich gleich rauben, morden oder vergewaltigen, denn dann werden einem auch nur sämtliche Extremitäten mit glühenden Zangen abgezwackt. Die Strafen werden übrigens noch im Gerichtssaal vollstreckt, von den Helfern des Gerichts, den sogenannten Yamas. Am Ende dieser unangenehmen Prozeduren entscheidet dann der Vorsitzende des Zehnten und letzten Gerichtshofes darüber, in welcher Form der verstorbene Delinquent wiedergeboren werden soll. Danach reicht einem die alte Dame Men Po den Tee des Vergessens, der das ganze vorangegangene Leben, aber auch die Folterungen in der Hölle aus dem Gedächtnis tilgt. Anschließend wird man auf das Rad der Reinkarnation gespannt, das einen zurück ins Leben schleudert. Ob man das als Mensch, Tier oder aber Stein verbringen wird, wird sich zeigen.

In Singapur befand sich die Hölle im Bauch eines großen Steindrachens, der in einem Vergnügungspark errichtet worden war. Mit viel Liebe zum blutigen Detail hatte man hier die Szenen in den einzelnen Höllengerichtshöfen nachgebildet. Die Hölle in Fengdu aber gilt als die chinesische Originalhölle. Schon seit tausendfünfhundert Jahren pilgern Chinesen aus allen Teilen des Reiches hierher, hauptsächlich, um schon mal für die Ankunft im echten Jenseits gut Wetter zu machen. Als der Jangtse-Damm errichtet wurde, fürchtete man, dass es mit dieser Tradition vorbei sein würde, denn zunächst war nicht klar, ob die Hölle nicht in den Fluten des neuen Stausees versinken würde. Diese Sorge stellte sich schnell als unbegründet heraus. Zur Verblüffung jedes Westlers liegt nämlich die chinesische Hölle nicht unter der Erde, sondern auf einem kleinen Hügel, der auch der letzten Anhebung des Wasserpegels knapp entkommen wird. Dafür muss leider die unterhalb des Höllenbergs gelegene alte Stadt Fengdu dran glauben beziehungsweise ist die schon weg. Die allerletzten Häuser wurden 2006 abgerissen.

Allerdings wurde Fengdu, genau wie die Stadt Fengjie, an höherer Stelle und auf dem gegenüberliegenden Jangtse-Ufer wieder aufgebaut. Hier, in der blitzblanken Neustadt, ist es auch, wo ich mit dem Bus ankomme. Ich habe drei Tage für die Fahrt von Wanzhou gebraucht, weil ich zwischendurch noch einmal am Fluss Station gemacht habe. Auf der Strecke konnte ich sehen, was die Regenfälle der letzten Tage angerichtet haben. Immer wieder versperrten Schlamm und Geröll die halbe Straße, talwärts hatten die Fluten gelegentlich ein Stück von der Fahrbahn abgebissen.

Über Fengdu sehe ich dann zum ersten Mal seit Yichang blauen Himmel. Gleich wird es wieder richtig heiß, was sicher nicht schlecht zur Hölle passt. Auch die Architektur Neu-Fengdus ist höllisch. Zumindest zeugt sie von höllisch schlechtem Geschmack, der noch über das normale chinesische Maß hinausgeht. Weil die Regierung den Wiederaufbau der Stadt mit viel Geld gefördert hat, ließ man sich nicht lumpen. Die ganze Stadt ist von sechsspurigen Avenuen durchzogen, an denen Verwaltungspaläste im Stil griechischer Tempel stehen, das Hong Sheng Grand Hotel im Zentrum sieht aus wie ein französisches Renaissanceschloss. Leider überschreiten die Kosten eines Zimmers in diesem neuen Versailles meinen Etat erheblich. Stattdessen nehme ich mit einer miesen Absteige vorlieb. Das Zimmer sieht aus, als habe es der oberste Höllenkönig persönlich eingerichtet und danach für ein paar Jahre bewohnt. Die Tapeten kommen von den Wänden, der rote Teppichboden schimmelt vor sich hin, und von den Pressspanmöbeln schält sich das Furnier. Das liegt an der Klimaanlage, die zwar sehr gut kühlt, aber das der Luft entzogene Wasser gleich wieder auf den Teppich rotzt, wo es einen kleinen See bildet. Ohne Aircon ist es in Neu-Fengdu allerdings auf die Dauer nicht auszuhalten. Das merke ich spätestens am Nachmittag, als ich mir die Stadt näher ansehe, weil es für die Hölle auf der anderen Seite des Jangtse schon zu spät ist. Um fünf sind hier immer noch brütende fünfunddreißig Grad. Die Läden an der Uferstraße werden sogar um diese Tageszeit noch mit vorgespannten Planen gegen die grelle Sonne geschützt. Neben dünnen weißen Glasnudeln und anderen Lebensmitteln verkauft man hier hauptsächlich Feuerwerkskörper und Räucherschnecken gegen Mücken. Tonnen von diesen Schnecken sind im Angebot; nach Einbruch der Dunkelheit muss es in Fengdu von Moskitos wimmeln.


Gegen halb sechs erwacht die Stadt so langsam aus dem Mittagsschlaf. Melonen-und Pflaumenverkäufer kommen aus den Winkeln, in denen sie die Hitze überstanden haben, und Hunderte von Schuhputzerinnen bauen auf den großen Avenuen ihre Stände auf. Ich schlendere am Fluss entlang zum neuen Busbahnhof, um mich nach meinen weiteren Verbindungen zu erkundigen. In der Schalterhalle steht eine Pinnwand mit Plakaten von spektakulären Busunfällen: Ich betrachte Fotos von vom Berg gestürzten Bussen, von Bussen mit abrasierten Dächern und anderen, die aussehen wie riesige zerquetschte Insekten. Am schlimmsten aber ist ein Foto, auf dem eine Reihe von blutigen Leichen neben einem zerschmetterten Bus auf der Straße liegt, wie eine Strecke Wildbret nach beendeter Jagd. Die Plakate sind nicht unbedingt Werbung fürs Busfahren in China, und ich frage mich, warum man die Unfälle den Passagieren zeigt, die in der Regel nicht am Steuer eines Busses sitzen. Will man die Leute fertigmachen? Rätselhaft ist auch, warum sich vor dem Busbahnhof ein Mann mir zuwendet und mit dem linken Zeigefinger und dem Daumen einen Kreis formt, durch den er mehrmals seinen rechten Zeigefinger steckt. Sicher, das ist das internationale Fickzeichen. Doch was will er mir damit sagen? Dass er mich verachtet? Ist es ein Angebot? Oder sollte es sich am Ende vielleicht doch um eine Drohung handeln, so nach dem Motto: «Pass auf, mein Lieber, in Fengdu wirst du gefickt»? Zu besonderer Vorsicht sehe ich allerdings keinen Anlass. Die Leute in Fengdu wirken so harmlos wie in jeder anderen chinesischen Stadt. Vielleicht sind sie sogar noch etwas freundlicher, so wie der Mann, den ich eine halbe Stunde später treffe. Er steht im Eingang eines Restaurants und begrüßt mich mit Handschlag und perfektem Englisch: «Hello. Willkommen in Fengdu. Du willst echten Sichuan-Feuertopf essen? Dann bist du hier richtig.» Ich überlege kurz und sage mir dann: Ja, warum eigentlich nicht? Feuertopf ist die Spezialität der Gegend, und mein Schlepper macht den Eindruck eines Intellektuellen, mit dem man sich unterhalten kann. «Mein Name ist Charles», stellt er sich vor. «Ich bin Englischlehrer an der hiesigen Senior High School.» Gleichzeitig gehört ihm auch das riesige Restaurant, das, wie er stolz erklärt, das beste in der ganzen Stadt sei.


Es muss tatsächlich sehr gut sein, denn es platzt aus allen Nähten. Besonders bei der örtlichen Jugend ist der Laden sehr beliebt, über die Hälfte des Publikums ist unter zwanzig. «Das sind», erklärt mir Charles und setzt sich dabei zu mir an den Tisch, «meine Schüler. Sie feiern heute Abend ihren Abschluss, und ich habe sie alle eingeladen. Mein Sohn ist auch dabei. Da vorne.» Er zeigt auf einen Tisch, an dem ein paar Jungs und Mädchen sitzen, und ruft etwas hinüber. «Ich habe ihm gesagt, dass er an unseren Tisch kommen soll. Da kann er mit dir sein Englisch trainieren. Aber bestell erst mal was.» Das will ich gerne tun, auch wenn ich keinen großen Hunger habe. Feuertopf ist eine Art chinesisches Fondue, sodass man alles, was man will, in genau der richtigen Menge bestellen kann. Dabei werden in einer kochenden Suppe verschiedene Zutaten wie Fleisch, Gemüse, Nudeln oder Pilze kurz gegart, anschließend sofort mit den Stäbchen herausgefischt, in eine Soße getunkt und dann verzehrt. Leider kann ich aber auf dem Bestellzettel, den mir die Kellnerin übergibt, außer Schriftzeichensalat nichts erkennen. «Das macht nichts», sagt Lehrer Charles. «Dann werde ich einfach das Bestellen für dich übernehmen.» – «Das ist sehr nett. Aber bitte nicht zu viel.»

In der Zwischenzeit ist auch der Sohn, ein schmaler, bebrillter Bursche, an unseren Tisch gekommen. «Los, sag was», fordert ihn der Vater auf. «Sorry», sagt der Sohn, «ich kann nicht reden. Ich bin betrunken.» Abgesehen davon, dass er seinen Namen so undeutlich ausspricht, dass ich ihn nicht verstehe, merke ich davon nichts. Anders zwei Tische weiter. Dort ist ein schmaler Strähnchenfrisurträger aufgestanden und wankt mit erhobenen Fäusten auf einen kleinen Dicken zu, den er offenbar mit Beleidigungen eindeckt. Zwei Klassenkameraden schaffen es noch so gerade, Strähne in den Arm zu fallen. Doch obwohl die alle seine Schüler sind, schaut Lehrer Charles nicht einmal auf. Stattdessen arbeitet er sich konzentriert durch die Bestellliste und kreuzt hin und wieder eine Feuertopf-Zutat an. «Bitte bestellen Sie nicht zu viel», ermahne ich ihn noch einmal. «Mach dir keine Sorgen. Außerdem ist alles sehr billig. Als mein Gast zahlst du nur den chinesischen Preis.»

Die Auskunft freut mich, offensichtlich akzeptiert Lehrer Charles mich als angehenden Chinesen. Ein Intellektueller eben. Nur der Sohn bleibt nach seinem Eingangs-Statement sehr einsilbig. Ich glaube, er hat keine Lust, mit mir zu reden, und würde viel lieber zurück zu seinen Kumpeln. Doch wenn der Vater wünscht, dass er sich mit einem Laowai unterhält, muss er wenigstens so tun, als ob. Auch ich will den netten Lehrer Charles nicht enttäuschen und bemühe mich um Konversation. «Was willst du denn studieren?», frage ich Charles jr. – «Das weiß ich noch nicht so genau. Ich glaube: Advanced Sciences.» – «Was ist das? Irgendwas mit Computern?» – «Ja, genau. IT! Damit kann man viel Geld verdienen.»

Das ist eine sehr chinesische, aber auch eine sehr langweilige Antwort. Also konzentriere ich mich lieber auf den Streit zwischen Strähne und dem Dicken. Der ist gerade zu Ende gegangen. Strähne liegt am Boden. Daran scheint allerdings nicht der Dicke schuld zu sein, sondern Strähne selbst und die Getränke, die in ihm drin sind. Er ist ganz weiß im Gesicht und schnappt nach Luft. Seinen Lehrer bringt das immer noch nicht aus der Ruhe. Sich bis zur Alkoholvergiftung zu besaufen gehört nicht nur zu den Mannbarkeitsritualen in China, es ist auch unter erwachsenen Männern sehr beliebt. Also kein Grund einzuschreiten.

Aber vielleicht hat es Lehrer Charles auch an den Ohren. Mir hat er auf jeden Fall nicht zugehört. Das wird klar, als die Kellnerinnen damit beginnen, die Feuertopfzutaten aufzutragen: Sie bringen Lammfleischspieße, mit Hackfleisch gefüllte Nudelröllchen, Pilze, Rindfleisch, sauer eingelegten Bambus, Hühnchenteile, Wachteleier, kleine Teigtäschchen, Wurst; ich zähle insgesamt dreizehn Gerichte. Ich bin fassungslos. «Das ist viel zu viel», protestiere ich bei Lehrer Charles, nämlich genug, um vier oder fünf Leute satt zu kriegen. «Das ist», entgegnet dieser zufrieden lächelnd, «unsere chinesische Weise, die ausländischen Freunde willkommen zu heißen.»

Eine seltsame Weise. Was würde Lehrer Charles wohl sagen, käme er in ein deutsches Restaurant, wo sich der Wirt erböte, für ihn zu bestellen, und dann käme zehnmal die große Schlachtplatte, auf Kosten von Lehrer Charles natürlich? Wahrscheinlich würde er wutschnaubend aus dem Restaurant stürzen, und es käme zu einem großen Skandal, der die deutschen Medien noch wochenlang beschäftigte. Ich aber verleibe mir klaglos so viele Spieße, Teigtaschen und Wachteleier ein, wie ich nur in mich reinkriege. Lehrer Charles nutzt derweil die Gelegenheit, ausführlich von sich und seinem Restaurant zu erzählen, von Reisegruppen, die ab und an kommen und dann von seinem Essen schwärmen, oder von amerikanischen Ärzten, die einmal im Jahr im lokalen Krankenhaus aushelfen und die praktisch nirgendwo anders essen als chez Charles.

Ich will mir gerade ein paar Nudelröllchen in den Rachen schieben, da eskaliert die Situation neben uns auf dem Fußboden. Strähne bäumt sich auf und erbricht sich lautstark, von seinen Mitschülern gestützt. Ich kapituliere. «Ich kann nicht mehr. Nichts. Kein Häppchen», sage ich zu Lehrer Charles. Der scheint mir zum ersten Mal an diesem Abend tatsächlich zuzuhören. «Vielleicht», sagt er mit nachdenklichem Gesicht, «war es mein Fehler. Vielleicht hätte ich nicht so viel bestellen sollen.»

Nach diesem Resümee geht der Abend schnell zu Ende. Der Sohn hat Strähnes Kotzanfall genutzt, um sich von meinem Tisch zu stehlen. Auch Lehrer Charles hat es plötzlich recht eilig. «Tut mir leid, dass ich dir nicht weiter Gesellschaft leisten kann. Aber ich habe noch ein Meeting mit Kollegen.» Ich bedaure seinen schnellen Abgang nicht, denn endlich kann auch ich verschwinden. Die Rechnung für zehnmal Schlachtplatte beläuft sich auf mehr als hundert Kuai. Das ist zwar angesichts der Menge nicht teuer, doch immerhin rund vier-bis fünfmal so viel, wie ich sonst für ein Essen ausgebe. Ich kann mich auch nicht recht entscheiden, ob mich der letzte Blick, den ich auf den Fußboden des Restaurants werfe, für das viele Geld entschädigt oder nicht. Da liegt Strähne in den Armen eines Mitschülers. Seine Augen sind geschlossen, und der Kopf hängt schlaff herab. Das Bild erinnert mich an die berühmte Pietà von Michelangelo. Eventuell wird, so denke ich, aus Strähne noch einmal ein großer Performancekünstler.


In dieser Nacht kann ich zum ersten Mal nicht schlafen, und das liegt nicht nur an der tropfenden Klimaanlage oder meinen Zimmernachbarn, die die halbe Nacht bei geöffneter Zimmertür Mah-Jongg spielen. Ich habe auch schweres Bauchgrimmen und frage mich, ob die Massenbestellung von Lehrer Charles tatsächlich aus Überschwang erfolgte oder ob es kühl kalkulierte Absicht war. Je länger ich wachliege, desto mehr neige ich der zweiten Vermutung zu, zumal sich auch Lehrer Charles’ «Einladung» an seine Schüler als Euphemismus entpuppte: Zum Schluss mussten auch sie ihre Rechnung bezahlen, was einigen nicht leichtfiel. Aus Zorn über den seltsamen Pädagogen beginne ich, statt Schäfchen all die Leute zu zählen, die mich auf dieser Reise schon über den Tisch gezogen haben oder es wollten. Ich bin bis fünf damit beschäftigt. Erst dann schlafe ich ein. Diesmal träume ich vom Fickzeichenzeiger. Er schreit mir hinterher: «Und? Habe ich nicht recht gehabt?»

Beim Aufwachen bin ich immer noch geladen. Als Erstes ziehe ich in ein anderes, etwas besseres Hotel. Wenig später stehe ich am Fluss und warte auf eine Fähre. Ich brenne heute geradezu darauf, dass sie mich ans andere Ufer bringt, wo die Hölle auf mich wartet. Mit mir überqueren nur wenige andere Seelen den Jangtse, der sich in meiner Vorstellung in den Styx verwandelt hat. Es sind Bäuerinnen, die ihr Obst in der Stadt gegen Waschpulver und Mückentod getauscht haben. Am anderen Ufer legen wir an einer zerstörten Treppe an, die vom Boot aus nur über eine schmale Planke zu erreichen ist. Dahinter lag das alte Fengdu. Der Anblick der Trümmerlandschaft erinnert an eine antike Stadt, die man gerade ausgegraben hat und deren Fundamente in der Hitze vor sich hin glühen. Dabei ist es ja umgekehrt: Die letzten Häuser wurden vor nicht allzu langer Zeit abgerissen, und bald liegen auch diese letzten Mauerreste auf dem Grund des neuen Jangtse-Sees.

Erst hinter dieser Stadtwüste liegt etwas höher mein Ziel oder, wie der berühmte chinesische Dichter Li Bai in einem Gedicht sagt, mein und unser aller zukünftiges Zuhause: «Alle Menschen werden eines Tages Bürger von Fengdu sein.» So ähnlich steht es auch auf einem großen Schild: «Welcome to the ghost city of Fengdu, the home to each human soul, be he Chinese or not.» Das Schild steht vor einem großen Kassengebäude, denn die Geisterstadt ist inzwischen auch eine große Touristenattraktion, die jährlich über eine Million Besucher anlockt. Manche kommen, um schon mal zu sehen, wie es ihnen im Jenseits so ergehen wird, andere wollen sich nur gruseln oder mit ein paar Mätzchen und Übungen, wie sie hier üblich sind, ihr jetziges Leben verlängern.

Das will ich natürlich auch alles. Aber inzwischen habe ich noch einen anderen Plan: Nach dem Abend bei Lehrer Charles will ich mich beim Gott der Unterwelt über das Verhalten der Chinesen beschweren. Zugegeben, die Idee ist ohne meinen leichten Reisekoller kaum zu erklären. Doch ich habe tatsächlich eine in der letzten Nacht sorgsam ausgearbeitete Beschwerdeliste dabei, die ich dem Höllenfürsten vorzutragen gedenke. Ich weiß nicht ganz genau, was ich mir davon verspreche. Die Bestrafung der Übeltäter? Ganz sicher aber hoffe ich, dass nach meiner Meldung auf dem Rest der Reise alles besser wird.

Doch dazu muss ich den Höllenkönig erst einmal finden. Das ist nicht so einfach, wie es zunächst scheint, denn wie ich der großen Übersichtskarte am Eingang entnehme, ist er gleich mehrmals vorhanden, weil es drei große Unterabteilungen im Jenseits gibt: den «Complex of heavenly wonderland», den erst in den letzten Jahren erbauten Geisterpalast und die klassische Unterwelt auf dem Ming-Berg, in der eine Reihe von Tempeln stehen, von denen der erste aus dem Jahr 618 nach Christus stammt. Aber welcher Höllenfürst ist heutzutage der maßgebliche? Der des «Complex of heavenly wonderland» kann es nicht sein. Bei dem handelt es sich zwar erstaunlicherweise um den Höllenkönig persönlich, der als eine mehr als hundert Meter große weiße Skulptur am Berg lehnt. Diese ganze riesige Figur ist aus kleinen und größeren Gebäuden zusammengesetzt, die angeblich noch «under construction» sind. Von meiner Position aus kann ich jedoch erkennen, dass das nicht stimmt. Der Riesenkomplex ist geschlossen, weil er nie fertiggestellt wurde und schon wieder anfängt zu verrotten. Auch wenn das aus der Distanz nicht weiter auffällt, kann so etwas unmöglich der richtige Höllenkönig sein.

Also will ich ihn im «Geisterpalast» suchen, einem großen, modernen Jenseits-Themenpark, ausgestattet mit allen technischen Schikanen. Doch hier komme ich nicht weit. Auf dem Basar der Toten halten mich Händler auf, die mir «Scream»-Gummimasken, Plastiktotenschädel und nordkoreanische Kim-Il-Sung-Briefmarken verkaufen wollen. Dann greift mich kurz vorm Tor zur neuen Hölle ein buddhistischer Mönch ab. Er ist im ebenfalls neu gebauten und in den Themenpark voll integrierten Tempel des Geldgottes beschäftigt, der anscheinend auch irgendwie ins Jenseits gehört. Der Mönch benimmt sich auch sehr wie ein Höllenknecht. Er packt mich am Arm und zerrt mich vor den Altar. Ohne weiter nachzufragen, drückt er mir hier drei in dünnes Papier gewickelte Räucherstäbchen in die Hand und bedeutet mir mit einem Nicken, ich solle vor der Statue des Geldgottes beten.

Ich bin so überrumpelt, dass ich dem Befehl des Mönchs Folge leiste. Auch kann es ja eigentlich nie schaden, den Geldgott freundlich zu stimmen. Während ich mich also mit den Räucherstäbchen vor dem personifizierten Geld verneige, schlägt der Mönch mit einem Stab auf einen hölzernen Fisch ein und murmelt dunkle Sutras. Dann steckt er blitzschnell ein kleines Säckchen in die Brusttasche meines Hemds, nimmt mir die Stäbchen wieder ab und zündet das Papier an, in das sie gewickelt waren. Zum Schluss des ganzen Zinnobers überreicht er mir ein großes Buch mit rot gefärbten Seiten: «Schreib hier jetzt deinen Namen rein.»

Okay, ich kann mir schon denken, was das soll, auch wenn das Buch nur voller chinesischer Zeichen ist, aber hinter denen steht jeweils eine Zahl. Meistens 199, und ich schätze mal, das ist die Summe, die der Mönch für das Ritual von mir erwartet. Und richtig: «Schreib hinter deinen Namen», sagt er mir, «jetzt auch noch eine Zahl.» Ich schreibe nur eine 9 hin, weil mir der Mönch den Blödsinn aufgezwungen hat und der ganze Quatsch auch nicht mehr wert ist. «Nein!», schreit der Mönch sofort. «Das ist keine gute Zahl!» – «Doch», beharre ich, «das ist eine sehr gute Zahl.» – «Nein!», ruft jetzt auch eine rundliche Frau, die in der Nähe auf einer Bank sitzt. «Schreib eine andere Zahl. Die Zahl hundertneunundneunzig ist sehr gut.» Und weil sie meint, dass ich nicht verstehe, steht sie auf, zieht einen Hundert-Yuan-Schein aus der Tasche und deutet damit auf den Schlitz des Opferkastens. Ich stelle mich doof und versuche, nach dem Schein der Frau zu greifen, um ihn in den Schlitz zu schieben. «Nein, nein!», schreien nunmehr Mönch und Frau zusammen. «Steck deinen eigenen Schein rein.» Nun gut, ich habe dem Geldgott ja tatsächlich neun Yuan versprochen. Ich ziehe zehn Yuan aus dem Portemonnaie und stecke sie unter den Verwünschungen der beiden in den Kasten. Dann stürme ich aus dem Tempel und verlasse auch gleich die ganze moderne Unterwelt.

Ich renne schnurstracks zur traditionellen Hölle hinüber, denn dort residiert der einzige Höllenkönig, der noch übrigbleibt. Die Tempel, die hier zwischen Akazien und Kiefern stehen, wirken auf den ersten Blick wenig höllisch, sondern eher wie ein altchinesisches Idyll. Das löst sich aber auf den zweiten Blick in Wohlgefallen auf, und ich bemerke, dass sich dieser klassische Höllennachbau und der moderne Themenpark gar nicht so sehr unterscheiden. Die meisten Tempel sind nicht wirklich alt, sondern in den letzten Jahrhunderten immer mal wieder ab-, aus-oder umgebaut worden. Auch das Götter-Geister-Inventar, das einem buddhistisch-daoistisch-volksreligiösen Mischmaschkosmos entstammt, ist so schön grell und bunt wie Geisterbahnequipment auf dem Rummel. Zu allem Überfluss wird die Unterwelt von chinesischer Popmusik überflutet, die Lautsprecher sind an Sesselliftmasten montiert. Offenbar legen die Chinesen Wert darauf, bequem zur Hölle zu fahren.

Ich aber gehe zu Fuß zum Gott der Unterwelt hinauf. Dabei passiere ich die Naihe-Brücke, die nach der chinesischen Überlieferung über einen mit Blut gefüllten Teich führt, in den die bösen Verstorbenen fallen, um von Vipern und Ameisen gebissen zu werden. Im echten Teich spiegelt sich allerdings sehr hübsch die Sonne, und daneben steht ein Schild: «Ecological protection is everybody’s heart.» Kurz danach treffe ich in einem Tempel auf zwei recht verschiedene Todesboten. Die Haare des ersten, der für die Sünder zuständig ist, stehen in Flammen; der zweite sieht aus wie ein Vertreter, der an der Haustür Bücher verkauft, die «Sorge dich nicht, sterbe» heißen könnten. Er holt die guten Menschen ab. Nach diesem Tempel muss ich noch den Pass zur Hölle durchschreiten. Böse Menschen bleiben hier für gewöhnlich stecken und werden von Dämonen zerhackt, gefressen oder am Hintern tätowiert.


Guten Menschen passiert nichts, und so gelange ich ohne Probleme ins Innerste der Hölle. Das liegt auf der Spitze des Berges, von einer nachtblauen Mauer umgeben. Ich lasse den «Letzter Blick nach Hause»-Turm rechts liegen – darin weinen sich die Toten ihre Augen aus – und steuere sofort auf den Palast des Höllenkönigs zu. Bevor ich allerdings den Fürsten der Dunkelheit selbst besuche, sehe ich mir noch die Nachbildung der verschiedenen Höllengerichtshöfe an. Sie liegen in einem Wandelgang, der den Palast des Höllenkönigs umschließt, und die Darstellungen unterscheiden sich in ihrer Brutalität und Drastik nicht im Geringsten von denen in der Singapurer Hölle. Wenn das Jenseits wirklich so aussieht, dann will ich lieber nicht Chinese werden. Aber im Moment habe ich sowieso nur meine Beschwerde im Kopf. Ich betrete also in aller gebotenen Ehrfurcht den Palast des Höllenkönigs, der, wie ich auf einem Schild lese, gleichzeitig «das Verwaltungszentrum der höchsten Köpfe des Jenseits» ist. Langsam gehe ich durch ein Spalier von lebensgroßen Höllenknechten, die auf ihren schneeweißen oder dunkelblauen Körpern Pferde-oder Ochsenköpfe tragen. Hinter ihnen kommen die Verwaltungschefs der verschiedenen Höllen, mit Schreibfedern und Papierrollen in den Händen. Dann stehe ich endlich vor ihm: Yen-Lo Wang, der oberste König der Hölle, des Jenseits und des ganzen Geisterklimbims. Er trägt eine Fächerkrone und einen langen Bart und hat ein gleichgültiges Gesicht. Vor ihm ist ein mit Sand gefüllter Trog platziert, in dem dicke Räucherstäbchen stecken. Eines ist vorzeitig erloschen, und um nicht mit leeren Händen dazustehen, nehme ich es und zünde es an.

Ich trete etwas näher und beginne meine Ansprache: «Lieber Höllenkönig, da bin ich. Ich bin zwar noch nicht tot, aber wenn das so weitergeht, dauert es nicht mehr lange.» Dann trage ich ihm die Beschwerdeliste vor, die ich in der Nacht zusammengestellt habe. Sie enthält jeden, der mir auf dieser Reise bisher auf die Nerven ging, von den Wäschereifrauen in Anqing über den Mopedfahrer am großen Damm, Colonel Kurtz in Fengjie bis hin zu Lehrer Charles und dem Mönch, der mich noch gerade eben abziehen wollte. Ich führe die ganzen Hello-Schreier auf und die Restaurantbesitzer, die mich übervorteilt haben. «Doch das, mein lieber Herr Höllenkönig, ist nicht mal so schlimm. Am schwersten zu ertragen ist, dass die Chinesen mich bei sich nicht mitmachen lassen. Ich bin für sie nur so etwas wie ein komisches Tier, etwas zum Geldverdienen und zum Drüber-Lachen.»

Auch wenn dieses Lamento sicher der reine Unsinn ist, danach ist mir erst mal wohler. Ich warte noch ein Weilchen, um zu sehen, ob irgendwas passiert. Aber weil der Höllengott und alle seine Bediensteten in diesem Palast nur aus Gips und Holz sind, passiert natürlich gar nichts. Irgendwann begreife das auch ich und wende mich zum Gehen. Ich bin schon auf der Schwelle des Palastes, als ich plötzlich etwas höre. Eine Stimme scheint aus der Tiefe des Raumes zu kommen. Erst verstehe ich nicht ganz, was sie sagt. Dann wird sie allmählich immer deutlicher, bis plötzlich alles klar ist. Die Stimme sagt: «Hello. Hello. Hahaha.»

Den ganzen restlichen Nachmittag verbringe ich damit, mir darüber klar zu werden, was diese Hellozination nun wirklich war. Die einfachste Erklärung wäre, dass da irgendwo in einer dunklen Ecke des Palastes ein Hello-Blöker stand, den ich nicht gesehen habe. Es kann aber auch sein, dass ich mir die Hellos eingebildet habe. Meine Isolation, der viele Regen, dann die plötzliche Hitze, Lehrer Charles, praktisch kein Schlaf in der letzten Nacht, ein Wunder wäre es nicht, wenn das Folgen gehabt hätte. Auf jeden Fall müsste ich dringend etwas unternehmen. Ich weiß nur nicht, was.


Es bleibt in Fengdu höllisch. Noch am Abend laufe ich in vollem Tempo gegen ein über den Bürgersteig gespanntes Stahlseil, das einen Telefonleitungsmast hält. Es tut so weh, als schlügen mir die Höllenknechte die Sehnen bei lebendigem Leib heraus. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, um die Passanten nicht zu noch mehr Gelächter zu reizen. Das gelingt so gerade eben. Die Nacht in meinem neuen Hotel aber wird zur wirklichen Tortur. Frauen und Männer in offenbar unterschiedlichen Paarkonstellationen diskutieren stundenlang lautstark auf dem Flur des «besseren» Hotels ihre langfristigen, eventuell auch sehr kurzfristigen Beziehungen. Immer wieder knallen Türen. Dann bittet eine Frau eine Dreiviertelstunde lang flehentlich um Einlass, der ihr schließlich so lange gewährt wird, bis es auf dem Zimmer wieder zu harten Wortgefechten kommt.

Im Inneren meines Zimmers greifen derweil ein Kakerlak und eine Grille an. Der Kakerlak ist einer von diesen Kakerlakidioten, er macht sich lautstark an einer Tüte mit Keksen so lange zu schaffen, bis ich ihm den Garaus mache. Die Grille aber hat sich hinter einer Scheuerleiste verschanzt, wo sie in Zahnarztbohrerfrequenz laut vor sich hin zirpt. Ihr ist nicht so schnell beizukommen. Erst schlage ich mit einer Sandale auf die Scheuerleiste, um das Vieh dahinter zu zerquetschen, dann versuche ich, es durch einen Spalt mit meinem Taschenmesser zu erstechen. Beide Male verstummt die Grille, ist aber sofort wieder da, sobald ich das Licht lösche. Schließlich sprühe ich eine fette Dosis Polo-Deo hinter die Leiste. Das setzt die Grille wenigstens für eine halbe Stunde außer Gefecht. In einem Stoßgebet danke ich dafür dem Schöpfer dieses Deos, Ralph Lauren.