Shoppen in Deutsch-China

Der Held trifft überraschend eine junge hübsche Frau, die ihn verhext, damit er mit ihr shoppen geht und shoppen und shoppen. Außerdem spielen in diesem Kapitel Maos kirschrote Slipper, Punk, Heroin, Angela Merkel, die nepalesischen Maoisten und Willi, das Kampfschwein, eine gewisse Rolle.

In der Nacht träume ich, dass ich dem Hitlergrüßer im perfekten Chinesisch sage: «Hey, darauf haben wir Deutschen das Copyright. Wenn du das noch einmal machst, musst du bezahlen.» Er lässt sofort den Arm sinken. Meine Begegnung mit Bi Sheng am nächsten Morgen dagegen ist kein Traum. Ich sitze schon im Bus, da sehe ich eine kleine Skulptur am Ortsende von Yingshan, auf einer Verkehrsinsel an der Ausfallstraße. Es muss der Drucker sein, denn er hält so etwas wie Druckfahnen in der Hand. Er ist also doch nicht komplett vergessen. Der Bus fährt wieder auf die Autobahn, durch eine eher eintönige Wasser-Hügel-Wasser-Hügel-Landschaft. Zwei Stunden später stehe ich auf dem Busbahnhof von Wuhan, der Hauptstadt von Hubei.

Das schreibt sich so einfach hin, aber tatsächlich weiß ich gar nicht, wo ich bin. Ich weiß nur: Wuhan hat zehn Millionen Einwohner, ist dreizehnmal größer als der ganze Staat Singapur und besteht eigentlich aus drei 1927 verschmolzenen Städten, die Wuchang, Hankou und Hanyang heißen. Doch in welchem der Riesenstadtteile bin ich angekommen? Ich kaufe mir an einem Kiosk einen chinesischen Stadtplan und bitte den Verkäufer, mir zu zeigen, wo ich bin. Ich kann zwar auf der Karte nichts lesen, aber als der Mann auf eine Stelle südlich des großen Flusses tippt, weiß ich wenigstens, dass das hier Wuchang ist. Ich halte die Karte noch ein bisschen in der Hand und staune. Ich habe noch nie einen Stadtplan mit so viel Blau gesehen. Das sind alles kleine und große Seen – wovon der Dong Hu, alias Ost-See, der größte innerstädtische See Chinas ist – sowie der Han-Fluss und mein alter Bekannter, der Jangtse, über den hier eine sehr berühmte Brücke führt.


Schon als Jugendlicher hatte ich in meiner damaligen Lieblingsillustrierten «China im Bild» Fotos von dieser Brücke gesehen und davon geträumt, sie einmal zu überqueren. Zwei Stunden nach meiner Ankunft auf dem Busbahnhof stehe ich an der südlichen Auffahrt und kann mich endlich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass diese Brücke auch heute noch beeindruckend ist: 1,6 Kilometer lang und doppelstöckig, unten fährt die Eisenbahn, oben verläuft die Straße. Es ist die allererste Brücke, die über den Jangtse gebaut wurde, im Jahr 1957, und zwar, so denke ich, von uns, den Maoisten. Ich habe die Brücke praktisch mitgebaut, auch wenn ich im Eröffnungsjahr gerade mal in der Wiege gelegen habe. Aber als Maoist ist man ja ein Teil eines großen Getriebes.

Aus diesem Grund würde ich gerne die alte Revolutionshymne «Dong Fang Hong» – Der Osten ist rot – hören, während ich die Brücke überquere. Das ist ein Loblied auf Mao Tse-tung, in dem es heißt: «China hat Mao Tse-tung hervorgebracht. Er plant Glück für das Volk. Hurra, er ist der Erlöser des Volkes!» Ich hatte mir diesen bombastischen Song Mitte der Siebziger bei Zweitausendeins geholt. Es gab ihn dort als Single, gesungen vom Chor der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Ich summe oder pfeife das Lied auch heute noch ganz gerne, zum Beispiel wenn ich über den Platz des Himmlischen Friedens in Peking gehe und hier Mao vom Tor des Himmlischen Friedens auf mich runterschaut. Doch blöderweise ist er nicht auf meinem iPod. Also schalte ich auf Shuffle. Im selben Moment kommt ein Radfahrer in einem Affenzahn von der Brücke heruntergeschossen. Er schreit irgendwas, wahrscheinlich: «Ich habe keine Bremse!» Ich kann ihm im letzten Moment ausweichen. Und der iPod spielt dazu: «You have killed me» von Morrissey, ungelogen.

«Der Osten ist rot» hätte letztlich auch nicht gepasst. Er ist heute nämlich gar nicht rot, sondern so diesig, dass ich kaum das andere Ufer sehen kann, und die Sonne – die in dem Lied gerade aufgegangen ist – hängt als blasse Scheibe über der Brücke. Trotzdem: Als ich losgehe, bin ich so begeistert wie noch nie auf dieser Reise. Ich fühle mich wieder richtig jung und dumm, Morrissey singt sehr schön, links neben mir staut sich der Verkehr auf der Brücke, und rechts passiere ich einen Soldaten, der im Wachhäuschen strammsteht. In der Mitte der Brücke hat jemand auf das Geländer ein Krokodil gemalt, das «Yeah» sagt. Auch ein passender Kommentar. Ich bleibe stehen und schaue hinunter auf den Fluss, auf dem seltsamerweise heute nur ein einziges Containerschiff flussaufwärts fährt. Und plötzlich fällt mir ein: Gäbe es diese Stadt hier nicht, wäre mein Leben sicher anders verlaufen.

Wenn es nämlich drüben in Wuchang 1911 nicht eine Erhebung gegeben hätte, die den Sturz des Qing-Kaisers einleitete, dann wären sicher nicht knapp vierzig Jahre später die Kommunisten – für die Wuhan immer eine Hochburg war – an die Macht gekommen. So hätte es aber auch gut zwanzig Jahre später keinen deutschen Maoismus gegeben, und ich wäre wahrscheinlich Zoodirektor geworden oder Missionar statt Querulant. Das hätte allerdings einen großen Nachteil: Ich wäre jetzt nicht hier.

Am anderen Ende der Brücke, im Stadtteil Hanyang, entdecke ich im Schatten des hohen Viadukts und eines großen Baumes ein zweistöckiges Hotel, das sogar einen Indoorpool hat. Es kostet nur hundertdreißig Yuan, dreizehn Euro. Morgen will ich hier einziehen, denn vorhin bin ich noch im Stadtteil Wuchang in einem Hotel direkt am Busbahnhof abgestiegen.

Am übernächsten Morgen klopft es an der Tür. Eine junge, ziemlich kleine Frau mit großen, fröhlichen Augen steht davor, sie trägt ein dünnes Sommerkleid. Ohne groß zu fragen, marschiert sie in mein Zimmer und sagt: «Hallo, ich wollte dir bei deiner Wäsche helfen.» Ich bin so perplex, dass ich ihr ein paar Hemden gebe. «Danke», sagt sie. «Ich bin bald zurück.» Okay. Natürlich habe ich die Frau schon vorher getroffen. Ihr englischer Name ist Linda, und ich habe sie vor zwei Tagen kennengelernt, nachdem ich mich an der Rezeption des Hotels nach Zimmern erkundigt hatte. Ich wollte noch wissen, wie ich mit dem Bus zurück nach Wuchang komme, da stand sie plötzlich neben mir und bot mir auf Englisch ihre Hilfe an. Sie zeigte mir dann den Bus nicht nur, sondern stieg sogar mit ein und brachte mich an der Umsteigestation zu meinem Anschluss. Hier zwang sie mir noch zwei Yuan Fahrgeld auf und gab mir ihre Handynummer: «Wenn du wieder Hilfe brauchst, ruf mich an.»

Mir fiel zunächst nichts ein, worum ich Linda bitten könnte. Doch dann dachte ich an meine Wäsche, an die Schachteln in Anqing und daran, dass eine Chinesin sicher bessere Wäschereiconnections hat als ich. Ich fragte sie also per SMS nach einer preiswerten Reinigung. Dass sie selbst kommen würde, um mir die Wäsche persönlich zu waschen, damit habe ich nicht im Traum gerechnet. Woher weiß sie überhaupt, wo ich wohne? Und wo ist sie jetzt mit meiner Wäsche hin? Ich will sie danach fragen, als sie nach einer Stunde wiederkommt. Aber erst mal hängen wir zusammen die klatschnassen Hemden im Badezimmer auf. Dann nimmt sie ihre Waschschüssel in die Hand: «Ich bringe die nur schnell zurück. Bin gleich wieder da.» Als Linda sich nach einer halben Stunde immer noch nicht blicken lässt, schreibe ich ihr eine SMS. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. «Ich bin schon gegangen.» Na gut, dann lade ich sie halt zum Dank fürs Waschen zum Essen ein. Doch die seltsame Wäschefee will keinen Dank. «Oh, that’s allright», schreibt sie zurück, «you should do yourself thing.»

Ich bin etwas enttäuscht. Linda ist die erste Chinesin auf der Reise, die etwas für mich getan hat, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Natürlich würde ich gern mehr über sie erfahren. Aber wenn sie nicht will, mache ich eben mein Yourself-Ding. Gut, dass es für diese Zehnmillionenstadt hier Reiseführer gibt, die ich lesen kann, eine englischsprachige Karte habe ich mittlerweile auch. So entfallen stundenlanges Suchen und zielloses Umherwandern. Brav besichtige ich im Provinzmuseum ein zweitausendvierhundert Jahre altes Glockenspiel, den berühmten Gelben Kranichturm («No. 1 tower among all the landscapes») und die malerische Qin-Terrasse, wo man angeblich den berühmten Zitherspieler Yu Boya aus dem 5. oder 6. vorchristlichen Jahrhundert Zither spielen hören kann, wenn man sich bloß auf einen bestimmten steinernen Hocker setzt. Ich spüre zwar den unter einem Kissen verborgenen Knopf am Hintern, der das Band in Betrieb setzt, doch leider tut sich nichts. Wahrscheinlich ist die über zweitausend Jahre alte Aufnahme während der Kulturrevolution verschüttgegangen.

Der wichtigste Punkt auf meiner Sightseeing-Liste aber ist die Mao-Villa, in der Mao hauptsächlich im Sommer weilte und berühmte Gedichte schrieb. Ich würde gerne wissen, wie der Mann gelebt hat, der zu meiner Jugend gehörte wie zu anderen Jugenden der VW Golf. Mein Frommer’s verspricht mir tolle Details: Neben einem Pool von «exzessiver Größe», kirschroten Hausschuhen und Maos persönlichem Blutdruckmessgerät soll man auch die Schuhsammlung von Maos vierter Frau Jiang Qing besichtigen können. Die Wegbeschreibung im aktuellen Lonely Planet ist eindeutig: Die Villa liegt hinter dem Provinzmuseum, direkt am Ost-See, «ein bukolisches Versteck». Trotzdem ist diese nicht unbedeutende Touristenattraktion weder auf meinen beiden Stadtplänen verzeichnet noch ausgeschildert.

Also frage ich die Leute in der Nähe des Provinzmuseums nach der Villa. Die ersten drei machen ein Gesicht, als hörten sie den Namen Mao Tse-tung zum ersten Mal. Selbst ein Polizist hat keine Ahnung. Nur ein paar alte Leute meinen zu wissen, wo die Villa liegt, aber sie schicken mich immer wieder in unterschiedliche Richtungen. Nach zweistündigem Herumirren stehe ich trotzdem am Ende eines Dammes, der zu einer kleinen Insel im Ost-See führt, vor einem verschlossenen Tor. Ein altes Hinweisschild mit Schriftzeichen liegt halb versunken im Wasser. «Maos Villa?», frage ich einen in der Nähe stehenden Angler. Der bricht in ein Gelächter aus, das irgendwie zynisch klingt, und zeigt auf das Schild im Wasser: «Genau. Steht dort geschrieben. Dahinter liegt Maos Villa.» Er verrät mir auch, dass es einen zweiten Zugang zu der Insel gibt. Hier stehe ich etwas später wieder vor einem Tor, das diesmal durch eine Schranke versperrt ist. Gleich kommt ein Uniformierter angelaufen. Er mustert mich von oben herab und sagt dann geringschätzig: «Hier gibt es nichts zu sehen.»

Maos Villa ist also aus Wuhan verschwunden, praktisch kommentarlos und über Nacht, für Leute wie mich, die an der ersten Brücke über den Jangtse mitgebaut haben, ist das hart. Dafür ist die Stadt sonst sehr angenehm und keineswegs der Moloch, den man im Westen gerne an die Wand malt, wenn man von chinesischen Megastädten spricht. Das macht allein das viele Wasser. Weil es im Sommer so heiß wird – Wuhan gilt als eine der vier sogenannten Hochofenstädte Chinas, häufig sind es im Juli über vierzig Grad –, hängen viele Leute auf den Uferterrassen der beiden großen Flüsse ab; so wirkt die Stadt wie ein großes Freibad. Am angenehmsten ist, dass es hier kaum Hello-Schreier gibt. Wahrscheinlich muss eine chinesische Stadt mindestens zehn Millionen Einwohner haben, damit die Leute etwas distanzierter mit Ausländern umgehen; in Peking und Shanghai bleibt man jedenfalls ebenfalls unbehellot. Auch kleiden sich die Wuhaner urbaner. Dabei bevorzugt die Jugend Angepunktes. Jungs tragen zerrissene Jeans, Mädchen ebensolche Miniröcke, und beide Geschlechter färben sich die Haare. In der Stadt soll es sogar einen berühmten Punkschuppen geben, die Vox-Bar. Ich würde gerne hingehen, wenn ich wüsste, wo sie ist.


Nach knapp zwei Wochen auf der Straße könnte ich nämlich mal wieder etwas Gesellschaft vertragen, und damit meine ich Leute, mit denen ich mich nicht nur in meinem Gastarbeiterchinesisch unterhalten kann. Falls ich die Punks nicht finde, würde ich inzwischen sogar mit Expats vorliebnehmen. Seitdem ich aus Shanghai los bin, habe ich keinen Weißen mehr gesehen, und seltsamerweise beginnen mir meine käsigen Kulturgenossen zu fehlen. Selbst gegen meine Landsleute, von denen es hier einige geben soll, hätte ich nichts. Die haben offenbar eine ganz besondere Beziehung zu Wuhan. Die Stadt war sogar mal deutsch, jedenfalls zu Teilen. Seit 1895 gab es in Hankou eine deutsche Konzession – also einen Stadtteil unter ausländischer Verwaltung –, was aber heute weitgehend vergessen ist, auch in Deutschland selbst. Hier weiß man vielleicht gerade noch, dass die heutige Stadt Qingdao (früher «Tsingtao» geschrieben) vor dem Ersten Weltkrieg eine deutsche Kolonie war, wegen der Bierbestellungen im Chinarestaurant.

Die Konzession in Hankou war allerdings auch nicht besonders groß; mit weniger als einem halben Quadratkilometer hatte sie ungefähr die Fläche des heutigen Vatikanstaats. Und als China im August 1917 Deutschland den Krieg erklärte, war es schon wieder vorbei mit Deutsch-Hankou. Doch auch danach verlor die Stadt nicht ihre Anziehung auf die Deutschen. Im März 1938 soll Wehrmachtsgeneral von Falkenhausen, seinerzeit der höchste Militärberater von Diktator Chiang Kai-shek, die Schriftsteller W. H. Auden und Christopher Isherwood in Wuhan mit dem Satz empfangen haben: «Letzte Nacht ist die deutsche Armee in Österreich einmarschiert.» Und auch wenn für die Deutschen kurz darauf nicht nur in China Pause war, kamen sie gleich nach der Öffnung des Landes wieder zurück in ihre chinesische Lieblingsgroßstadt. 1984 wurde der deutsche Ingenieur Werner Gerich zum Generaldirektor der Wuhaner Dieselmotorenwerke ernannt. Er war damit seit der Revolution 1949 der erste ausländische Fabrikdirektor im ganzen Land.

Ich bin mir also sehr sicher, dass ich in dieser Stadt Deutsche treffen werde, und finde bald auch eine erste Spur. In einer Passage unter dem Wal-Mart kaufe ich ein Heftchen, das auf Englisch «War» heißt. Es zeigt eine Gruppe von Wehrmachtssoldaten irgendwo an der Ostfront, daneben steht etwas auf Chinesisch, daneben «German Submarine» sowie «Sad years». Ja, ja, die traurigen Jahre zwischen 33 und 45. Später komme ich an einem Bauzaun für einen Straßentunnel vorbei, den man unter dem Jangtse baut: Ein unbekannter Computerkünstler lässt auf dem Zaun dicke BMW mit Münchner Kennzeichen durch die zukünftige Unterführung brausen. Das ist umso erstaunlicher, als derzeit in China keine im Ausland zugelassenen Autos fahren dürfen. Haben die Deutschen in Wuhan demnächst wieder Sonderrechte wie zur Zeit der Konzession? Es scheint fast so. Mitten in Hankou stoße ich auf eine prächtige weiße Gründerzeitvilla, auf der die deutsche Fahne flattert. Das muss mindestens das deutsche Konsulat sein. Seltsam ist nur, dass in blauen Neonbuchstaben «Café Brussels» dransteht und neben der deutschen auch noch die belgische Fahne weht. Ich bekomme ja vieles nicht mit, seitdem ich in China lebe. Aber sind jetzt auch schon Deutschland und Belgien wiedervereinigt worden?

In Wuhan ganz sicher: Das Konsulat ist ein Restaurant, das der belgische Wirt David führt, während Hans, der Deutsche, unter demselben Dach eine Mikrobrauerei betreibt. Allerdings hat sich der Belgier bei der Innenausstattung durchgesetzt: Die Wände sind mit Tim-und-Struppi-Malerei bedeckt, und überall stehen kleine Manneken Pis herum, eine Figur, die seltsamerweise auch die Chinesen über alles lieben und als «Piss-Boy» millionenfach kopieren. Selbst Davids deutlich gerundeter Bauch ist belgisch okkupiert: mit einem T-Shirt, auf dem die Logos belgischer Biersorten prangen. Dafür spricht der Wirt, der mit seinem Rauschebart als vierter Mann bei ZZ Top durchgehen könnte, gut Deutsch. Außerdem ist er der Cousin des ehemaligen belgischen Fußballnationalspielers Marc Wilmots, was ihn praktisch zu einem halben Deutschen macht. Wilmots, das weiß sogar ein alter Fußballignorant wie ich, spielte einst bei Schalke, wo man ihn «Willy, das Kampfschwein» nannte.

Allerdings ist Hans, der deutsche Brauer, nicht da. «Er arbeitet nur jede zweite Woche», erzählt mir David. Mir ist das egal, auch mit David lässt es sich gut plaudern, und seine Expatgeschichte ist interessant. «Ich bin im Jahr 2000 als Krankenpfleger nach China gekommen, mit einem der ersten Aids-Präventionsprogramme. Wir haben hier Krankenschwestern ausgebildet. Dann ist das Programm ausgelaufen, und ich bin Wirt geworden.» Sein erstes Lokal stand dort, wo jetzt der Jangtse-Tunnel gebaut wird. «Ist gerade abgerissen worden. Seit einem Monat habe ich das Brussels. Früher war es die Villa eines russischen Generals und stand in der russischen Konzession.»

Der Laden ist Treffpunkt der Ausländer in Wuhan. David kennt die meisten. «Ich schätze mal, dass wir so um die fünftausend hier haben. Viele Deutsche. Einmal die, die an der Schnellbahntrasse nach Guangzhou bauen. Dann die vom Kaltwalzwerk und schließlich die Ingenieure vom Jangtse-Tunnel. Ach so, die Leute, die die neue Oper bauen, hätte ich fast vergessen. Die meisten kommen aber bloß am Wochenende her.» Heute ist Mittwoch, und die Gäste tröpfeln nur: zwei Schotten, die auch an der Theke Platz nehmen und sich voller Vorfreude die Hände reiben, als sie «Blood Sausage» auf der Speisekarte entdecken, der Deutsche Stephan, Ex-Wuhaner und Generalmanager einer deutsch-chinesischen Elektrofirma, der aber nur zu Besuch ist, weil er mittlerweile in Peking lebt, und schließlich Ahmed. «Unser deutscher Türke», stellt David ihn vor, und Ahmed sagt zu mir: «Siegen.»

Ich verstehe nicht sofort, bis Ahmed wiederholt: «Ich glaube, du kommst aus Siegen.» – «Nein», sage ich, «aber mein Vater ist dort geboren.» – «Siehste», sagt Ahmed, «habe ich doch gewusst.» Er selbst ist in Solingen aufgewachsen, weshalb er auch mit bergischem Akzent spricht. Jetzt wohnt er schon eine Weile in Wuhan, wo er seine eigene Hitzeschutztechnik-Firma betreibt. In China ist er aus ähnlichen Gründen wie ich: «Hier lässt es sich besser leben. Und ich bin mit einer Chinesin zusammen.» Aber Ahmed hat mir auch etwas voraus. Er kann lesen. «Ist schwer, das Ganze. Ist keine Systematik drin. Aber ich kann schon dreihundertfünfzig Zeichen.» Das versetzt mir einen kleinen Stich. Überhaupt bin ich neidisch auf jeden Ausländer hierzulande, der besser Chinesisch kann als ich. Trotzdem wird es ein schöner Abend. David und Ahmed erzählen sich Witze. Der Belgier auf Englisch und der Türke auf Deutsch. Es sind nicht die allerbesten, doch ich freue mich, dass ich alles verstehe und die Leute endlich mal wieder über etwas anderes lachen als über mich. Am Ende bin ich rechtschaffen betrunken. Es ist ein kleines Mysterium: In China komme ich fast immer betrunken aus Ausländerbars, obwohl das Bier hier viermal so viel kostet wie in den chinesischen Restaurants, die ich regelmäßig nüchtern verlasse. Der Anblick von Ausländern in einem kneipenähnlichen Ambiente löst bei mir offenbar einen Trinkreflex aus. Eine Konditionierung, die ich sicher in ungezählten deutschen Kneipen erworben habe.

Diesmal aber hat sich meine Trinkerei gelohnt. Am Ende des Abends verrät mir David, wo ich die Vox-Bar finden kann: ziemlich weit draußen im Univiertel von Wuchang. Doch er warnt mich: «Ein finsterer Schuppen. Die müssen dauernd umziehen, wegen der Polizei. Ich habe gehört, dass dort auch harte Drogen am Start sind.» Drogen? Das finde ich gerade interessant. Doch unter diesen Umständen muss ein Besuch dort etwas sorgfältiger geplant werden.


Vorher habe ich aber noch etwas zu erledigen. Die mysteriöse Linda hat sich wieder gemeldet, per SMS. Inzwischen ist sie auch einem gemeinsamen Abendessen nicht mehr abgeneigt. Allerdings ist es schwer, einen konkreten Termin mit ihr auszumachen. Jedes Mal vertröstet sie mich auf den nächsten Tag. Irgendwann reicht mir das Rumgezicke. Ich behaupte einfach, dass ich am nächsten Tag abreisen werde und nur noch heute kann. Von da an prasselt es SMS. Sie fragt mich, wohin wir gehen werden. Ich antworte, dass ich ihr die Entscheidung überlasse, weil ich mich in der Wuhaner Gourmetszene nicht auskenne. Sie fragt, welche Art der Küche – die westliche oder die richtige – ich bevorzuge. Ich antworte natürlich: «Chinesisch.» Sie fragt, ob sie auch eine Freundin mitbringen darf. Ich denke nicht weiter nach und antworte mit: «Ja, natürlich.» Da sagt sie endlich ja und schlägt auch gleich ein Restaurant in Hankou vor.

Erst bin ich gut gelaunt, doch dann kommen mir Bedenken. Ging das am Ende nicht doch eine Idee zu schnell? Vor allem die Sache mit der plötzlich aufgetauchten Freundin ist verdächtig. Wahrscheinlich arbeitet Linda doch wie die Girls auf der Nanjing Lu in Shanghai, nur eben halt viel raffinierter. Ich bin mir schon völlig sicher, dass sie das Treffen und das Waschen nur eingefädelt hat, um mich am Ende umso gründlicher über den Tisch zu ziehen, da erreicht mich eine letzte SMS: «Hi Chris. How much should I bring? We go out to eat, how to pay for?» Ich schäme mich ein bisschen für meinen Verdacht und antworte: «Ich zahle, wenn es nicht sehr, sehr teuer ist.» Kaum habe ich die SMS abgeschickt, da klopft es auch schon an meiner Zimmertür. Dieses Mal frage ich sofort, wie sie das gemacht hat. Sie versteht erst nicht, dann muss sie lachen. «Aber ich arbeite doch hier im Hotel. Hast du mich denn nie gesehen?» Okay, so langsam wird mir klar, wie sie beim ersten Mal so plötzlich auftauchen und verschwinden konnte. «Ich wohne hier auch, auf demselben Flur. Los, komm, wir holen meine Freundin ab.» Wir gehen zusammen den dunklen Gang hinab, bis wir in der Tür zu einem abgelegenen Zimmer stehen. Es ist halb so groß wie meines, es stehen aber drei eiserne Doppelstockbetten an den Wänden. Hier wohnen Linda und die anderen Hotelangestellten. Auf einem Bett sitzt eine Frau, ungefähr im gleichen Alter wie Linda, und kämmt sich gerade die Haare. «Das ist Xiao Wan», stellt Linda vor, «die Managerin des Hotels und meine Freundin.» Doch, die kenne ich. Sie hockt immer an der Rezeption und zieht ein missmutiges Gesicht, wenn ich die Lobby durchquere. Ich bin nicht gerade scharf darauf, sie mitzunehmen.

Aber ohne Xiao Wan können wir nicht ausgehen. Es stellt sich nämlich heraus, dass Linda noch nie in Wuhan essen war. Sie war auch noch nicht in Hankou, obwohl der Stadtteil gleich um die Ecke liegt und Linda schon seit einem Jahr in Wuhan arbeitet. Das Restaurant, in das wir gehen, hat also die Managerin ausgesucht, die sich mit Eingeladenwerden auszukennen scheint. Es liegt in der russischen Konzession, wo es Gärten vor den Restaurants gibt, wie in Europa. Xiao Wan ist auch diejenige, die bestellt: gedünsteten Aal, schön fettes Schweinefleisch und eins von diesen grünen Gemüsen, deren Namen ich mir nie merken kann. Es schmeckt wie immer alles ausgezeichnet, denn eigentlich gibt es nur im Westen schlechte Chinarestaurants. Beim Essen erfahre ich so peu à peu Lindas Geschichte. Sie ist gar nicht mysteriös. Linda stammt aus einer kleinen Stadt ein paar hundert Kilometer westlich von Wuhan. «Da war ich Grundschullehrerin, aber ich habe mich gelangweilt. Ich wollte was sehen von der Welt und bin nach Wuhan. Ich will auch nicht für immer in dem Hotel arbeiten. Im nächsten Jahr gehe ich weiter nach Osten, in die Nähe von Shanghai.» – «Und warum dahin?», will ich wissen. «Weil man dort mehr verdient?» – «Nein», wehrt Linda sofort energisch ab, «Geld ist mir nicht so wichtig. Wichtiger ist, was zu erleben.» Ich staune, denn so etwas Postmaterialistisches habe ich eigentlich noch nie von einem Chinesen gehört. Und von einer Chinesin schon gar nicht. Xiao Wan dagegen macht einen konservativeren Eindruck. Während Linda beim Reden recht unchinesisch herumfuchtelt und viel lacht, sitzt sie steif da und zieht ihr Rezeptionsgesicht – als schrieben wir 1976 und Mao sei gerade gestorben. Sie kleidet sich auch traditioneller. Zum Ausgehen hat sie sich extra zurechtgemacht und trägt eine von diesen unter jungen Chinesinnen hochbeliebten Rüschenblusen, die aussehen wie ein kleines Umstandskleid, weil sie sich unter dem Busen glockenförmig weiten. Linda hat ein hundsnormales T-Shirt an, was ihr eindeutig besser steht.


Nach dem Essen aber benehmen sich beide Damen wieder typisch chinesisch. Es ist fast wie ein kleiner Sketch. Weil ich keine Ahnung habe, was man abends so in Wuhan tut, will ich die Entscheidung den beiden überlassen. Weil aber Chinesen aus Höflichkeit praktisch niemals ihre Wünsche offen äußern, lautet ihre Antwort: «Wir machen, was du willst.» – «Nein, ich mache, was ihr wollt.» – «Nein, was du willst.» – «Ich weiß aber gar nicht, was ich will.» – «Das wissen wir auch nicht …» So geht das zehn Minuten, bis Linda sagt, dass sie gerne über die Jianghan-Straße bummeln würde, die glitzernde Einkaufsstraße Wuhans. Erleichtert sage ich: «Toll. Das machen wir.»

Ich hätte es wissen müssen. Das, was die beiden Bummeln nennen, ist in Wirklichkeit nichts anderes als Shoppen. Chinesinnen lieben Shoppen, wohl noch ein bisschen mehr als alle anderen Frauen auf der Welt; in meinem Zwischenheimatland, dem hauptsächlich von Chinesen bewohnten Singapur, hat man das Geldausgeben für Klamotten und Zeugs sogar zu einer Art Staatsreligion erhoben. Ich aber hasse kaum etwas mehr, als mit einer Frau einkaufen gehen zu müssen, so wie wohl jeder durchschnittliche heterosexuelle Mann. Und jetzt laufe ich mit zwei jungen weiblichen Hotelangestellten durch eine chinesische Zehnmillionenstadt, stehe lächelnd in Boutiquen und Filialen großer Ketten und sage: «Lasst euch ruhig Zeit.» Wie, um alles in der Welt, soll ich das bloß später meiner Frau erklären?

Wir gehen in geschätzte fünfundzwanzig Läden, die Freebird heißen, Sanfu, Annzo oder, wirklich wahr, Ebola Pop Culture. Doch das meiste, was hier angeboten wird, ist den Damen sowieso viel zu teuer. Nur Semir nicht, so etwas wie ein chinesischer H&M. Hier müssen alle zehn Verkäufer gleichzeitig laut durch den Laden brüllen, wenn auch nur ein T-Shirt für einen Euro fünfzig über die Ladentheke wandert. Ich verstehe nicht ganz, was sie schreien, aber es ist wahrscheinlich so etwas wie: «Schon wieder eins von unseren supergeilen T-Shirts verkauft, für nur fünfzehn Kuai, Leute!» Linda bestaunt die meisten Klamotten nur, befühlt die Stoffe oder findet mal eine geschmacklose Tüllbluse gut, mal eine aufwändig bestickte Jeans. Damit ist sie schon zufrieden. Als treibende Shopping-Kraft entpuppt sich Little Miss Missmut, die mit einem Mal erschreckend gute Laune hat. Sie probiert ein Teil nach dem anderen an und fragt mich jedes Mal nach meiner Meinung. Wenn ich etwas noch mehr hasse, als zu shoppen, dann ist es, ein Geschmacksurteil darüber abgeben zu müssen, was eine Frau anprobiert. Ich bin mittlerweile alt genug, um zu wissen, dass sie letztlich überhaupt nichts darauf gibt, egal ob sie nun Chinesin ist oder Deutsche. Trotzdem sage ich zum wiederholten Mal: «Nicht schlecht», als mir Xiao Wan eine Kombi aus Jeans und einem enganliegenden T-Shirt vorführt. Sie sieht darin tatsächlich besser aus, aber natürlich gibt sie die Sachen nach einigem Hin und Her wieder zurück.

Der Einkaufsbummel bleibt bei mir nicht ohne Nebenwirkungen: Nach zwei Stunden des Rumlaufens, Rumstehens, Rumguckens und Rumprobierens bin ich mir nämlich zum ersten Mal auf dieser Reise nicht mehr so sicher, ob ich wirklich noch Chinese werden will. Im Moment würde ich viel lieber mit David und Ahmed und meinetwegen auch dem rappenden Professor im Brussels sitzen, Bier trinken und mir sogar nochmal den Witz von dem Fax anhören, das aus dem Hintern kommt. Zum Glück wird auch Linda langsam müde. Sie zieht hinter Xiao Wans Rücken Gesichter und tritt gelangweilt von einem Bein aufs andere. Doch ihre Chefin nimmt sie bei der Hand und zieht sie weiter. An einer Straßenecke kauft Xiao Wan einer alten Frau einen Barbapapa-Schminkspiegel ab, den sie aus ihrer Hello-Kitty-Geldbörse bezahlt. Solche Accessoires sind in China völlig normal für Frauen Ende zwanzig. In der nächsten Mall findet sie auch endlich etwas zum Anziehen. Es ist – ein Duplikat ihrer Umstandsbluse, diesmal nur in Blasstürkis statt Pink.


In dieser Nacht träume ich davon, dass der Spielmannszug des Jangtsebrückenwachregiments fröhlich trommelnd und pfeifend um mein Hotel zieht, alle Soldaten gekleidet in rosa Umstandsblusen. Als ich aufwache, marschiert tatsächlich ein Spielmannszug draußen. Nur, die Soldaten tragen ihre normalen Uniformen, worüber ich sehr erleichtert bin. Trotzdem ist es Zeit abzureisen. Ich kann auch gar nicht anders, denn ich habe ja Linda gegenüber behauptet, dass ich heute weitermuss. Tatsächlich will ich aber nur nach Wuchang, auf die andere Seite des Flusses, weil dort die Vox-Bar liegt. Beim Auschecken ist mir, als ahne Xiao Wan etwas, doch woher sollte sie? Sie guckt einfach nur so missmutig bis gleichgültig wie immer, als ob wir niemals zusammen «bummeln» gewesen wären. Sie hat noch nicht einmal ein durchschnittlich nettes Abschiedswort für mich. Auch Linda lässt sich nicht blicken, sie musste zum Englischunterricht. Doch ich habe auch keinen großen Bahnhof erwartet. Chinesen kennen keinen sentimentalen Abschied. Sie sagen kurz «Auf Wiedersehen», drehen sich um und gehen ihrer Wege.


Auf der Wuchanger Seite quartiere ich mich noch für eine letzte Nacht in das Hotel am Busbahnhof ein, in dem ich schon am ersten Tag gewohnt habe. Von hier aus starte ich am Abend meine gefährliche Expedition in die Vox-Bar. Als ich in den Bus steige, der ins Univiertel fährt, bin ich bestens präpariert. Ich habe keinen Rucksack dabei, nur ein neues Notizbuch und im Portemonnaie so wenig Geld wie möglich, dafür aber zweihundert Yuan im linken Socken. Das ist vielleicht lächerlich, und es kann gut sein, dass ich es mit den Vorsichtsmaßnahmen übertreibe. Schließlich sind die Punks, die ich in Peking kenne, allesamt recht umgängliche Menschen. Ich bin sogar mit einer kleinen Gruppe von Skinheads lose befreundet, die auf der Bühne «Fuck the police» und «Fuck the government» singen, und auch die sind sehr freundlich, jedenfalls zu mir. Aber wer weiß, vielleicht hat David ja recht, und in Wuhan ist alles anders. Man darf nie vergessen, wie sprunghaft die Chinesen sind: Taiping-Rebellion und Kulturrevolution sind dafür die besten Beispiele. Apropos: War die Kulturrevolution nicht der erste, größte und radikalste Punk-Akt der Geschichte? Damals hat die chinesische Jugend alles gemacht, was sich die Punks erst zehn Jahre später auf ihre Lederjacken schrieben: Chaos! Destroy! Und leider auch: Shoot! Und: Kill! Nur Fuck! haben sie wohl ausgelassen.

Im Bus scheinen sich Davids Drogenwarnungen zu bestätigen. Ein paar Reihen vor mir sitzt ein schmales Hemd mit Stecknadelaugen wie ein Junkie. Ich bin hocherfreut, weil dieser junge Mann mich garantiert zur Vox-Bar führen wird. Doch der Junkie steigt zwei Kilometer vor dem Univiertel aus. Ich verpasse auch glatt die richtige Haltestelle und muss an einer breiten Ausfallstraße zwei Stopps zurückgehen. Es ist allerdings nicht sonderlich furchterregend hier draußen. Eine Rockband spielt auf der Straße, drum herum wird gegrillt und Bier getrunken, und vor einer Motorradwerkstatt hoppeln weiße Zwergkaninchen.

Auch die Vox-Bar verliert in dem Moment ihren Schrecken, in dem ich sie betrete. Ein langer Schlauch ohne Fenster mit einer Bühne am Frontende, hinter die jemand «Tashkent Veliky Gorod» und «Skate or die» an die Wand geschrieben hat. Ich setze mich an die Theke und bestelle eine Flasche Tsingtao für fünf Yuan. Das ist ziemlich billig, dafür schmeckt das Bier auch nicht. Es ist nämlich gar kein Tsingtao, sondern «ein Bier, das auch aus Tsingtao kommt», wie der Barmann mir lächelnd erklärt. Das Bier aber ist auch das einzig Gefährliche in diesem Laden, der damit wirbt, «Voice of freedom – voice of youth» zu sein. Die freie Jugend besteht hauptsächlich aus in-und ausländischen Studenten, jungen, aufgetakelten Engländerinnen, die ihre babyspeckigen Oberkörper in knallenge Spaghetti-Tops gepresst haben, ein paar schlaksigen Äthiopiern, besoffenen Amerikanern, die mit nacktem Oberkörper durch die Gegend torkeln, ebenso betrunkenen Nepalesen, einigen chinesischen Kinderpunks und chinesischen Girls, die sich vielleicht ein bisschen Sorgen darum machen, dass auf ihre Designerhandtaschen ein Bierfleck kommt. Auch von Drogen so weit keine Spur. Die härteste, die ich erspähe, ist ein Hanfblatt, das sich eine Chinesin auf ihre etwas zu pralle und weitgehend entblößte Brust tätowiert hat. Alles in allem geht es zu wie in jedem halbautonomen deutschen Jugendzentrum, nur vielleicht einen Tick gesitteter.

Mein chinesischer Nachbar an der Theke trägt den englischen Namen Henry. Er ist besonders wohlerzogen, obwohl er jeden von den Besoffenen im Saal kennt. Als er hört, dass ich Deutscher bin, reckt er auch nicht den Arm in die Höhe, sondern erzählt mir freudestrahlend, «Die Blechtrommel» sei sein Lieblingsbuch. «Und mein Lieblingsfilm ist ‹Der Himmel über Berlin› von, wie heißt der Regisseur, Wum Wynders.» Offensichtlich wirkt auch in diesem Punkschuppen am äußersten Ende Wuhans noch Deutsch-China nach.

Der Nepalese Cola, der nach einer Weile Henry auf dem Barhocker neben mir ablöst, spricht sogar Deutsch. Das beschränkt sich allerdings auf einen ausgesuchten Wortschatz, den er mir fast akzentfrei aufsagt: «hirnverbrannte Arschgeige», «gottverdammter Schwanzlutscher» und «Dreckswichser». Ein deutscher Kommilitone habe ihm die Vokabeln beigebracht. Die Schimpfworte sind aber auch schon der Höhepunkt an Dissidenz. Cola, der eigentlich ganz anders heißt («Aber das kann hier keiner aussprechen; Cola kennt jeder»), findet Nicolas Sarkozy gut und Angela Merkel. Und so diskutieren wir in dem gefürchteten Schuppen die halbe Nacht darüber, ob Asien eine EU braucht, wie Cola meint, über Chinas ökonomische Zukunft, über Pakistan und Indien. Irgendwann am Abend frage ich ihn auch nach den nepalesischen Maoisten, die mich besonders interessieren. Cola ist skeptisch: «Es gab mal eine Zeit, da waren sie für Nepal wichtig. Ich habe damals mit ihnen sympathisiert. Aber sie haben sich verändert. Seit sie in der Regierung sind, sind die Maoisten … wie sagt man auf Deutsch? Flachwichser!»

Während wir uns unterhalten, kommt der Topact auf die Bühne und legt gleich los. Ich bin etwas enttäuscht, weil ich eigentlich eine Band aus Wuhan hören wollte. Doch ausgerechnet heute Abend ist der Headliner aus Peking. Die Band heißt Houhai Big Shark, und ich kenne ihre Stücke fast auswendig, weil ich sie schon ein paar Mal in Peking gesehen habe. Sie spielen guten Surfpunk, nur kann ihre extrem gut aussehende Sängerin leider immer noch nicht singen. Heute aber nehme ich ihr das nicht krumm, denn wenn sie ihre Ansagen macht, wird mir ganz warm ums Herz. Sie rollt das R am Ende der Silben, so wie wir das alle machen in Peking. Ein bisschen chinesischer, denke ich, bin ich also auf dieser Reise schon geworden. Zumindest bin ich schon mal ein Pekinger.