The horror! The horror!
Hier werfen wir einen tiefen Blick ins Herz der Finsternis, derweil der Held einen großen Fluss hinauffährt und mit Ungeziefer parliert. Dann: Colonel Kurtz, Hello-Kitty-Katzen, Teddybärgardinen oder einfach: China nach dem Untergang.
Zurück in Yichang muss ich eine wichtige Entscheidung treffen. Soll ich der 318 weiter folgen, oder fahre ich parallel zu ihr mit einem Schiff den Jangtse-Stausee hinauf, rund hundert Kilometer weiter nördlich? Für die 318 spricht, dass es die 318 ist. Die Straße, die ich vom Anfang bis zum Ende befahren will. Andererseits bin ich in letzter Zeit mit der Abenteuerdichte nicht mehr so ganz zufrieden. Auf den Busfahrten war seit Yingshan nichts mehr los. Ich saß gelangweilt in modernen, klimatisierten Kisten, kein einziger Laowaiforscher in meiner Nähe, sondern nur noch stumme und wohlerzogene Passagiere.
Das würde auf einer Jangtse-Fähre sicher anders sein. Vor meiner Abfahrt hatte ich den schönen, in Venedig preisgekrönten Film «San Xia Hao Ren» – «Die guten Menschen von den drei Schluchten» – des Regisseurs Jia Zhang-ke gesehen. Der Film spielt in Fengjie, einer über zweitausenddreihundert Jahre alten Stadt, die als erste von hundertfünfzig Jangtse-Städten abgerissen werden musste, um den Grund für den zukünftigen See zu bereinigen. Der Regisseur zeigt das große Zerstörungswerk, aber auch immer wieder Jangtse-Schiffe, auf denen es von lustigen, interessanten Leuten wimmelt, die obenrum alle nur Unterhemden tragen, wenn überhaupt. Außerdem wäre das meine letzte Chance, die weltberühmten Schluchten noch im halbgefluteten Zustand zu sehen, bevor 2009 der Wasserspiegel im Stausee endgültig von jetzt hundertsechsundfünfzig auf hundertfünfundsiebzig Meter angehoben wird.
Den Ausschlag für meine Entscheidung gibt schließlich ein Interview mit Jia Zhang-ke, das ich im Internet gelesen habe. Jia berichtet hier, er habe in Fengjie bei den Dreharbeiten zu seinem Film ganz besondere Freiheiten gehabt. Während der Abrissarbeiten hätten sich noch nicht einmal mehr Polizisten in die Stadt getraut, «weil», so Jia, «es dort Malaria, Seuchen und sehr gefährliche Verbrecher gab». Zwar wurde der Film vor einem Jahr gedreht, und der Wasserspiegel ist inzwischen gestiegen, doch Seuchen und Verbrecher werden ja nicht über Nacht verschwunden sein. Eine demolierte Stadt, Malaria und Gangster: Das riecht nach richtig großem Abenteuer.
Also vergesse ich die 318 fürs Erste und kaufe mir am Yichanger Fährhafen ein Ticket zweiter Klasse direkt nach Fengjie. Natürlich nehme ich die Standardfähre. Als ich vor der Schalterhalle sicherheitshalber das Ticket noch einmal auf mögliche Fehler kontrolliere, schauen mir zwei Männer über die Schulter. «Warum», fragt einer erstaunt, «hast du denn keinen Fahrschein für ein Touristenboot gekauft? Diese Boote sind doch viel besser.» – «Weil ich Chinese werden will, du Eimer», will ich sagen, doch weil ich nicht weiß, was Eimer heißt, lasse ich’s bleiben.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, meine große Jangtse-Expedition systematisch vorzubereiten. Das heißt vor allem, mich im Supermarkt mit Proviant einzudecken. Ich kaufe nur das Unentbehrliche: ein Viertelpfund Reiscracker, eine Packung koreanische Marshmallowcreme-Küchlein, eine Tüte Beef Jerky, Rindfleischbonbons, dazu in Plastik eingeschweißte Pilze, die wie Teer aussehen, mehrere Dosen Tsingtao-Bier, zwei Dosen von dem aus der Fernsehwerbung bekannten Wong-Lo-Kat-Kräutertee, zwei Pfund kleine, süße Brötchen, zwei Unterhosen der Marke Lenzing Modal und eine einzelne Hühnerkralle zum Knabbern für nur neunundneunzig Fen. Ich denke, das dürfte für zwölf Stunden auf dem Jangtse reichen.
Am nächsten Vormittag finde ich mich und meine Vorräte in einer riesigen Halle wieder, umgeben von rund tausend Chinesen, die ähnliche Verpflegungssäcke mit sich schleppen. Von Yichang aus hat mich ein Bus hierher gebracht. Ich war erst etwas irritiert, als der am Fährhafen vorfuhr; schließlich wollte ich Boot fahren. Später begriff ich, dass die Jangtse-Fähren, die die Einheimischen benutzen, auf der anderen Seite des Dammes losfahren. So spart man sich die ganze Schleuserei. Natürlich hat mir das keiner gesagt. Aber ich ärgere mich nicht über den entgangenen Jangtse-Abschnitt, denn draußen regnet es aus Kannen.
In der Wartehalle aber bin ich im echten China, ganz wie gewünscht. Noch echter wird es gegen Mittag: Nach einer Durchsage rennen alle los, drängeln, schreien, schieben. Das nutzt zwar alles nichts, denn durch eine Schleuse vor dem Ausgang werden immer nur rund hundert Leute auf einmal gelassen. Der Zahnradfahrstuhl, der die Passagiere hinunter zu den Schiffen bringt, kann nicht mehr bewältigen. Doch gegen die urchinesische Angst, in der Masse zu kurz zu kommen, hat ein vernünftiger Gedanke keine Chance.
Ich lasse mich einfach mitschieben und -schubsen, denn das ist die beste Methode zu überleben. Ich lasse mich auch in die Fahrstuhlkabine quetschen und über nasse Pontons treiben. So gelange ich fast von allein auf das Zwischendeck des Schiffes, das mich nach Fengjie bringen soll. Es heißt Xiansheng, und das Erste, was ich hier sehe, ist ein Schild, das den Fremden wohl schon ein bisschen auf die Reise einstimmen soll: «When your life and property is violated, when you are in danger or disaster, please inform the police.» Mich wiederum sieht ein dienstbeflissener Steward. Er fischt mich aus der Menschenmenge, die sich um ein kleines Kabuff drängelt, tauscht mein Ticket gegen einen grünen Plastikjeton und zeigt mir dann meine Kabine auf dem zweiten Deck.
Durchaus erleichtert schließe ich die Tür hinter mir und schaue mich um. Die Kabine sieht aus wie eine Gefängniszelle, nur dass die Fenster nicht vergittert sind. An den Wänden zwei eiserne Doppelstockbetten, auf denen Spanplatten liegen, bedeckt von dünnen Schaumgummimatratzen. Der Fernseher, der auf einem Schreibtisch steht, ist kaputt. Der über ein Bett geschraubten Leselampe fehlt die Neonröhre, und es stinkt entsetzlich aus dem Hockklo neben der Tür. Ich bin begeistert. Ungefähr so hatte ich es mir vorgestellt. Nur meine Feinripp tragenden Mitpassagiere fehlen, aber die kommen sicher noch.
Da habe ich mich allerdings verrechnet. Als zehn Minuten später ein langgezogenes Elefantentuten ertönt und wir ablegen, bin ich immer noch allein. Bei einer ersten Inspektion stelle ich fest, dass die gesamte zweite Klasse leer steht und in der ersten höchstens zwei Kabinen belegt sind. Komisch, bei dem Gedränge, das auf dem Zwischendeck geherrscht hat. Das Rätsel löst sich in der dritten Klasse, die im untersten Deck kurz oberhalb der Wasserlinie liegt. Die Kabinen mit acht Betten sind bis auf den letzten Platz ausgebucht. Hier ist es laut und stinkt nach Diesel, weil der Maschinenraum auf gleicher Höhe ist. Hier hocken nun die Unterhemdenmänner auf den Betten, schaufeln sich in Windeseile Instantnudelsuppen rein und pfeffern danach die leeren Pappschachteln in hohem Bogen über Bord.
Ich würde mich gerne mit diesen Leuten unterhalten, doch als ich an ihren Kabinen vorbeigehe, ernte ich ablehnende Blicke. Also gehe ich an den Bug des Schiffes und blicke über den nagelneuen Stausee. Wir fahren zwischen kleinen Inseln hindurch, die früher Berggipfel waren. Nicht mehr lange, dann werden sie ganz verschwunden sein. Das kann ich an den Pegeln ablesen, die immer wieder am Ufer auftauchen. Momentan stehen sie bei hundertfünfundvierzig Meter, was daran liegt, dass Wasser abgelassen wurde, um Platz für die Sommerfluten zu schaffen. Die Pegel aber reichen bis in die Nadelwälder an den Hängen. Ganz oben prangt immer eine 175, die große Zukunftszahl. Weil ich nichts Besseres vorhabe, inspiziere ich weiter das Schiff. Ein ziemlich verrosteter Kahn. Im Maschinenraum hat der Maschinist alle Luken geöffnet, um nicht in den Dieselschwaden zu ersticken. Gleich nebenan liegt ein dunkler, nur von einer nackten Glühbirne beleuchteter Raum: die Kombüse, in der riesige Schüsseln mit Weißkohl und Tofu auf dem Tisch stehen, auf dem Fußboden schwarzes Wasser und kleine Ölpfützen. Als ich an den Bug zurückkehre, haben sich hier inzwischen noch andere Passagiere eingefunden. Sie beäugen mich misstrauisch aus den Augenwinkeln und machen mir an der Reling nur widerwillig Platz. Keiner spricht mit mir, keiner will wissen, woher ich komme. Ich höre auch kein einziges «Hello».
Ich starre also wieder auf den Jangtse, auf dessen Wasseroberfläche jetzt immer dickere Regentropfen prasseln. Der See aber wird langsam wieder schmaler und ist bald nur noch so breit wie ein großer Fluss. Auf beiden Seiten steigen steile Felswände auf; die Berge, zu denen sie gehören, sind so hoch, dass ihre Spitzen in schwarze Wolken ragen. Überhaupt ist es viel nebliger geworden, und fast sieht es so aus, als führe das alte Jangtse-Schiff nicht mehr auf dem Wasser, sondern über ein Wolkenmeer. Irgendwann wird mir diese Wolken-und Regenoper langweilig. Ich gehe zurück in meine Kabine, lege mich aufs Bett und döse ein. Beim Aufwachen klebt mir die Kleidung am Körper. Hier auf dem Fluss ist die Luftfeuchtigkeit so hoch wie noch nie auf dieser Reise. Ich bleibe noch etwas bematscht auf dem Bett liegen und lausche dem Regen, der jetzt in feines Nieseln übergegangen ist. Doch ist da nicht noch ein anderes Geräusch? Tatsächlich: Über den verrosteten Fußboden läuft ein dicker, fetter Kakerlak.
Was Kakerlaken angeht, so halte ich es mit dem chinesischen Schlager: Ich habe keine Angst vor ihnen. Ich ekele mich auch nicht. In Singapur habe ich immerhin zwei Jahre lang mit diesen sensiblen Tieren in einer Wohnung gelebt. Sie stören auch nicht weiter, solange sie keinen Lärm machen. Doch genau das ist bei manchen Kakerlaken ein Problem. Diese lautere, wohl auch dümmere Sorte macht Geräusche, hauptsächlich welche mit «a»: Sie schaben, schnarren, raspeln, rascheln, und zwar so laut, dass ich in meinen Singapurer Nächten nicht nur einmal davon wach wurde. An Schlaf ist dann nicht mehr zu denken, weil die Kakerlaken nicht eher Ruhe geben, bis man sie mit der Baygon-Spraydose erledigt hat. Also ermahne ich meinen neuen Gast: «Sei ruhig, dann passiert dir nichts! Sonst …» – «Allas klar!», sagt darauf schnell der Kakerlak.
Ich weiß natürlich, dass das nicht sein kann, aber anscheinend werde ich langsam wunderlich. Ich vermute, dass es an der ablehnenden Atmosphäre an Bord liegt. Und auch die Landschaft um mich herum ist nicht gerade Prozac. Nach Badong, der letzten Stadt in Hubei, beginnt die Wuxia, die Hexenschlucht. Hier drinnen ist es merklich dunkler, Wasserfälle stürzen links und rechts von den Felsen, dabei regnet es weiter ohne Unterlass. Über dem Wasser schweben große Libellen, im Wasser treiben Holz, Plastikflaschen und ein schwarzer Schlamm, der von abgestorbenen Bäumen stammen muss. Vorn am Bug ist es so still, dass ich die Vögel in den Wäldern zwitschern höre. Das einzige andere Geräusch ist ein trockenes Knacken. Es kommt vom Ruder, das der Steuermann auf der Brücke über uns laufend korrigiert. Es klingt, als würden dünne Knochen brechen.
Zum Glück öffnet um sechs die Bordkantine. Essen, denke ich, lenkt sicher von der Düsternis hier ab. In großen Blechschüsseln dampft Fleisch im Hirsemantel, Tofu, Wintermelonen, Bohnen und Nudeln; das alles wird mit einem großen Schöpflöffel von einer dicken Kellnerin in Styroporboxen ausgeschenkt. Ich hole mir eine Portion und setze mich an einen der Holztische. Kaum habe ich den ersten Bissen genommen, setzt sich ein junger Bursche zu mir. Er trägt eine dünne schwarze Lederjacke und hat ein paar seltsam gefleckte Narben im Gesicht. Er isst ein bisschen, steht dann auf und verlässt die Kantine schnurstracks in Richtung Kabinen. Mir fällt sofort das Danger-und-Disaster-Schild auf dem Zwischendeck ein und das Interview mit Jia Zhang-ke: Kein Zweifel, der Mann hier ist ein Verbrecher, das sieht man ihm doch an. Und ich Idiot habe meine Kabinentür nicht abgeschlossen. Ich packe sofort meine Styroporbox und folge dem Narbenmann. Auf dem Gang kann ich gerade noch einen Blick von ihm erhaschen. Dann verschwindet er in einer Kabine. Es ist nicht meine, sondern die Toilette. Ihm ist offenbar eingefallen, dass er vor dem Essen das Händewaschen vergessen hat. Ich schäme mich für meinen Verdacht, gehe aber trotzdem auf meine Kabine und löffele meine Styroporbox allein aus. Ich verlasse die Kabine erst wieder bei Einbruch der Dunkelheit, als das Schiff in Wushan anlegt. Die rund dreitausend Jahre alte Stadt ist dem Fluss zum Opfer gefallen, jetzt grüßt eine weiße, halb in den Wolken verborgene Hochhausfestung gleichen Namens von den Hängen wie ein neues Jerusalem. Auf einer großen Treppe, die auch bald überflüssig sein wird, steigen Menschen mit bunten Regenschirmen zum Anleger hinunter, während andere auf dem Weg nach oben sind. Es sieht aus wie ein Ballett von Robert Wilson. Nach zehn Minuten bläst das Schiffshorn dreimal, dreimal wirft die Schlucht ein langgezogenes Echo zurück. Die Passagiere schmeißen zum Abschied noch ein paar Nudelsuppenpackungen und Getränkedosen über Bord, dann fahren wir weiter in die Qutang-Schlucht. Die letzte der drei Schluchten erstreckt sich von Wushan bis nach Fengjie. Sie ist die imposanteste, und ihre Passage galt bis zur Flutung des Stausees als sehr gefährlich. Ich aber bekomme von der Schlucht nichts mit, denn mittlerweile ist es völlig dunkel.
Ich gehe zurück in meine Kabine, weil ich das Gefühl habe, dass die anderen Passagiere mich nach Einbruch der Dunkelheit noch feindseliger und gemeiner anblicken. Ich verstehe wirklich nicht, was los ist. Offenbar hält man meine Anwesenheit für eine Provokation. Vielleicht soll ich das alles hier nicht sehen: die engen Kabinen, den defekten Wassertank, aus dem kochendes Wasser spritzt, den ganzen Rost. Aber ich bin’s doch, will ich den Leuten zurufen, euer alter Laowai-Superstar und Heilsbringer, den ihr schon hunderttausendmal mit euren Hello-Hosiannas grüßtet. Kennt ihr mich denn nicht mehr?
Ich lege mich auf mein Bett, öffne eine Dose Tsingtao und starre in die schwarze Nacht da draußen. Nur am rechten Flussufer leuchten schwach die Lampen grüner Bojen. Dann flammt auf der Brücke ein Suchscheinwerfer auf, dessen dünner Kegel die Felsen abtastet. Und während mein Blick dem Licht folgt, kriege ich Schiss. Nie habe ich mich auf meiner Reise einsamer gefühlt als auf diesem Schiff. Und ich habe keine Ahnung, was mir noch bevorsteht, wenn ich nachher mitten in der Nacht von Bord gehen muss. Ich hasse es, an einem unbekannten Ziel nachts anzukommen. Wenn es doch bloß nicht regnen würde. Doch statt schwächer wird der Regen immer stärker. Und plötzlich fällt mir ein, woran mich das hier alles erinnert. Es ist wie in «Apocalypse Now», nur dass Jim Morrison noch nicht angefangen hat, im Off «The End» zu singen. Ich bin Captain Willard und fahre in geheimer Mission den Mekong hoch. Es regnet wie bekloppt, ich bin von Feinden umzingelt, und am Ende meiner Flussfahrt wartet auf mich der grausame und verrückte Colonel Kurtz. Die große Frage lautet: Wer wird mein Kurtz in Fengjie sein?
Die große Frage beantwortet sich nach Mitternacht, und meine Angst war voll berechtigt. Colonel Kurtz ist noch viel grauenhafter, als ich mir das hätte ausmalen können. Eine dicke Frau mit Brille teufelt auf mich ein und zerrt an mir herum, während ich mich mit meinem schweren Gepäck geschätzte eintausend Treppenstufen nach Fengjie hinaufquäle. «Da binguan – tai pianyi!», schreit Frau Colonel Kurtz mir ins Ohr, großes Hotel – sehr billig! – «Ich will dein Hotel nicht, geh weg», ächze ich zurück. Nach der Übernachtung bei Frau Schlepperin in Tongli habe ich mir geschworen, mich niemals mehr abschleppen zu lassen und schon gar nicht in einer Malaria-und Gangsterstadt. Das Dumme ist nur, dass ich nach den ersten hundert Stufen unter meinem Gepäck fast zusammenbreche. Ausgerechnet heute ist es besonders schwer, weil ich auf der Fahrt bis auf das Bier von meinem bescheuerten Expeditionsproviant nichts verbraucht habe. Die dicke Frau Colonel aber springt neben mir die Stufen hinauf wie ein junges Reh. Die lange Treppe endet in einem Empfangsgebäude, in dessen Innerem noch mehr Treppen warten. Tapfer stapfe ich weiter, während sich Frau Kurtz aufs Flöten verlegt: «Mein Hotel ist ganz nah. Komm, gib mir was von deinem Gepäck.» Endlich stehe ich vollkommen schweißgebadet auf einer Straße. Doch als ich sehe, dass kein Hotel in Sichtweite ist, es keine Taxis gibt und es in den Rest der Stadt noch weiter hinaufgeht, gebe ich auf. «Okay, ich sehe mir das Zimmer an.» Wenn ich es nicht will, kann ich ja immer noch woandershin gehen.
Das «große Hotel» ist, wie vermutet, eine große Wohnung in einem modernen Wohnblock, fünfter Stock, kein Fahrstuhl, und das Zimmer, in dem ich übernachten soll, war mal das Kinderzimmer. Von der Deckenlampe grinst eine Hello-Kitty-Katze, die pinke Bettwäsche ist mit jungen Welpen bedruckt, und auf der gelben Gardine marschieren Teddybären durch eine winterliche Landschaft zum Schneemannbau. «The horror! The horror!», murmele ich, auch wenn das in «Apocalypse Now» der Text des Colonels ist. Wie komme ich hier bloß wieder raus? Am besten nenne ich einen unverschämten Preis. Auf der Straße hat Frau Kurtz eben noch hundert Yuan verlangt. Also biete ich dreißig. Blöderweise ist Frau Kurtz sofort einverstanden.
Herrn Kurtz gefällt die Sache weniger. Er kommt aus seinem Bett in einem der Nachbarzimmer gekrochen, als ich fünf Minuten nach meiner fast bedingungslosen Kapitulation noch einmal nach seiner Frau rufe. Frau Kurtz aber ist schon wieder draußen, neue Opfer einfangen, der Mann hat sich derweil um die Geiseln zu kümmern. Er ist ein kleiner, wohlgenährter Zwerg mit Glatze, der nichts weiter als eine schlabbernde Unterhose trägt. Ich will von ihm die Fernbedienung für die Klimaanlage, denn ich schwitze immer noch wie eine Sau. «Für dreißig Kuai gibt es keine Aircon», sagt Herr Kurtz und schafft es, verächtlich an mir hochzugucken. Ich hasse den Mann auf der Stelle und antworte: «So. Das reicht. Ich gehe.» Sofort wird Kurtz kleinlaut und verspricht, dass seine Frau mir eine Fernbedienung geben werde, sobald sie wiederkomme.
Colonel Kurtz kommt nicht wieder, vielleicht wurde sie draußen in Kampfhandlungen verstrickt. Also schmeiße ich ihren Mann wieder aus dem Bett. Jetzt sucht er selbst in einer Schublade voller Fernbedienungen nach der richtigen, die er mir dann seufzend gibt. Sie sieht gut aus, funktioniert aber nicht. Herr Kurtz muss jetzt auch noch nach neuen Batterien suchen. Dabei steht ihm ein Gedanke auf der Stirn geschrieben. Er lautet: Wieso hat meine Frau bloß dieses Arschloch in die Wohnung geholt? Ich aber finde langsam Gefallen an der Sache. Das wird diesen Leuten eine Lehre sein, hilflose Lange Nasen zu verschleppen.
Endlich sind die passenden Batterien gefunden. Herr Kurtz setzt sie ein und will sofort wieder im Bett verschwinden. «Halt», sage ich, «erst ausprobieren.» Zu Kurtzens Entsetzen tut es die Klimaanlage immer noch nicht. Vor Wut kochend stellt er sich mit seinen nackten, schmutzigen Füßen auf die Hundedecke auf meinem Bett und hält die Fernbedienung direkt vor das Infrarotauge. Die Klimaanlage springt an.
In der Nacht träume ich von Memmingen, keine Ahnung, warum. Nach dem Aufwachen packe ich, ohne geduscht oder die Zähne geputzt zu haben, meine Sachen. Als ich vor die Zimmertür trete, sitzt da Frau Kurtz im Halbdunkel. Sie sieht traurig aus, vielleicht hat es mit ihrem Mann Streit gegeben, weil sie nur so wenig Geld aus mir herausgepresst hat. Ich zahle, und sie fragt: «Wohin gehst du?» – «Oh, das sage ich dir bestimmt nicht.» Könnte ich auch gar nicht, denn ich weiß in diesem Moment selbst noch nicht, wohin. Zum Glück finde ich gleich um die Ecke ein richtiges Hotel. Das Zimmer liegt ein Stockwerk über einem Warenlager und ist so groß wie eine Suite. Als ich auf dem Flur ein nagelneues Mao-Poster entdecke, weiß ich, dass ich richtig bin. Ich nehme das Zimmer für sechzig Kuai, lege mich aufs Bett und lausche dem Tuten der Schiffe, die am Pier an-und ablegen. Ich habe meine Freiheit wieder.
Freiheit ist in einer chinesischen Stadt, in die praktisch nie ein Ausländer kommt, natürlich eine relative Sache. Kaum trete ich auf die Straße, starrt mich die versammelte Bevölkerung an, als materialisierten sich Captain Kirk, Spock und Pille gemeinsam vor ihren Augen – nackt. Sofort hängt sich auch ein Trupp Lastenträger an mich. Auf Chinesisch heißen diese Männer Bang Bang Jun – die Stock-Stock-Soldaten –, weil sie jeder einen dicken Bambusstab in der Hand halten, mit dem sie bei Bedarf die Lasten auf den Schultern tragen. Gestern hätte ich sie gut gebrauchen können, doch heute habe ich nur einen kleinen Rucksack dabei, den ich bequem selbst tragen kann.
Ich bin etwas enttäuscht von der Stadt, die ich sehe. Die Trümmerlandschaft, die ich aus dem Jia-Zhang-ke-Film kenne, ist komplett verschwunden. Das ehemalige Wohnhaus des berühmten Dichters Du Fu, alte Stadttore aus der Ming-Dynastie, ein Kraftwerk mit einem fünfzig Meter hohen Schornstein, all das ist also tatsächlich «vaporisiert» worden, wie die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua anlässlich der Proklamierung der Zerstörung des alten Fengjie im Jahr 2002 versprach. Die allerletzten Reste der Altstadt müssen dann im Herbst 2006 im Jangtse untergegangen sein, als der Wasserspiegel auf hundertsechsundfünfzig Meter angehoben wurde. Die Stadt, in der ich stehe, ist komplett neu und vollgestellt mit weißen, recht großzügig geschnittenen Klinkerbauten.
Auch Verbrecher und Verseuchte kann ich auf den Straßen nicht entdecken. Schade, denke ich, denn tagsüber bin ich mutiger als nachts. Das heißt aber nicht, dass ich vollkommen unbehelligt bleibe: Ein magerer junger Bursche läuft mir die ganze Zeit nach wie ein Hund. Ich kann nicht herausbekommen, was er will, denn er spricht in einem Dialekt, von dem ich gar nichts mehr verstehe. Trotzdem lässt er nicht locker. Nach einiger Zeit beginnt er mich zu nerven. Ich drehe mich um und sage zu ihm: «Ich will dich nicht. Geh weg!» Der Typ brabbelt irgendwas zur Antwort. «Lern du», entgegne ich rüder, als ich eigentlich will, «erst mal Putonghua» – die chinesische Hochsprache, die man im Westen Mandarin nennt – «und komm dann wieder.» Doch selbst die Beleidigung nützt nichts. Ich wechsele die Straßenseite, er wechselt mit, ich gehe zur Busstation und frage etwas am Schalter, er setzt sich in die Wartehalle und wartet, bis ich fertig bin.
Schließlich mache ich mit bitterbösem Gesicht ein Foto von ihm und drohe, damit zur Polizei zu gehen. Er reagiert darauf nur mit einem: «Thank you.» Ich frage: «Ni feng le ma?» – Bist du verrückt? Da bricht er in ein irres Lachen aus. Was heißt das jetzt: Ja oder nein? Ich werde ihn erst los, als ich mit einem Brotauto-Taxi aus der Stadt fliehe, nach Baidi Cheng, der Stadt des Weißen Kaisers. Diese Ansammlung von zum Teil zweitausend Jahre alten Tempeln liegt rund fünfzehn Kilometer den Jangtse hinab dem Drachentor gegenüber, dem westlichen Eingang der drei Schluchten, und ist praktisch die einzige Touristenattraktion, die Fengjie noch geblieben ist. Das heißt, eigentlich ist es nur die Spitze der Tempelstadt, denn seit 2006 befindet sich Baidi Cheng nicht mehr auf einer Landzunge, die in den Jangtse hineinragt, sondern auf einer Insel. Um dorthin zu gelangen, muss ich durch knietiefen Schlamm waten, nur um mich dann auf der Insel drei Stunden lang beregnen zu lassen. Vor rund tausendachthundert Jahren, so lerne ich, starb hier Liu Bei, ein berühmter Warlord und späterer König des Reiches Shu. Auslöser für seinen Tod waren schwere Depressionen. Wahrscheinlich hatte der Mann die ganze Zeit dasselbe Wetter wie ich.
Regen ist auch das Erste, was ich sehe, als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster schaue. Trotzdem will ich Fengjie noch eine Chance geben und steige die endlose Treppe neben meinem Hotel hoch in die Oberstadt. Links und rechts der Treppe liegen anfangs nur Pensionen, die mit Fotos von halbnackten Mädchen und mit ganz billigen Preisen werben. Hier kann man schon für fünf Yuan übernachten. Ich entdecke auch einen Laden, der bestickte Einlegesohlen verkauft, so wie sie das Mädchen in Yichang machte. Was das wohl für Leute sind, die mit Blumen bestickte Einlegesohlen in ihren Schuhen tragen? Okay, Chinesen höchstwahrscheinlich.
Im oberen Teil der Stadt stehen an einem breiten, schnurgeraden Boulevard prächtige Bankpaläste, es gibt Boutiquen, Kaufhäuser, Supermärkte, und auf dem Großbildschirm an einem Hochhaus laufen die Nachrichten auf CCTV 1, was in China nicht Close-circuit television, also Überwachungskameras, heißt, sondern China Central Television, der landesweite Fernsehsender. Das Wetter aber ist dasselbe wie unten. Es regnet und regnet und regnet. Auf der anderen Seite des Jangtse sehe ich weiße Wolken die Berge hinabfließen. Auf dieser Seite steigen sie wieder hoch und kriechen durch das Tal unter mir hinauf bis in die Straßen der Oberstadt. Auch die Leute hier oben unterscheiden sich nicht von denen weiter unten. Hier wie dort scheinen alle auf irgendetwas zu warten. Die Kaufleute sitzen vor ihren Läden und warten stundenlang auf Kunden, die Stock-Stock-Soldaten auf Lasten, die sie tragen können, die Brotauto-und Mopedtaxifahrer auf Passagiere. Viele hocken auch in kleinen Gruppen zusammen und versuchen die Wartezeit mit Spielen zu überbrücken: Mah-Jongg, Karten oder chinesisches Schach. In einer großen Shoppingmall spielen fünfzig, sechzig Jungs Pool, und oben drüber, auf dem Dach der Mall, flanieren junge Mädchen. Sie warten darauf, dass die Jungs aufhören zu spielen. Ich warte auch, und zwar darauf, dass ich endlich wieder den Regenschirm zuklappen kann. Als es am späten Nachmittag immer noch regnet, beschließe ich, Fengjie abzuschreiben und so schnell wie möglich abzuhauen. Ich bin gerade auf dem Weg zur Treppe, da höre ich aus einer Tordurchfahrt einen großen Krawall. Ein kleiner Mann in einem silbernen Paillettenanzug steht auf einer Lautsprecherbox. Er singt einen mit Technobeat aufgemotzten, bekannten chinesischen Schlager, der als Halbplayback aus der Box scheppert, und schneidet dabei Fratzen. Hinter ihm hängt ein großes Plakat, das nackte, tätowierte Mädchen zeigt und ein Girl, das gerade die Schleife ihres Tangaslips öffnet. Um ihn herum stehen einige Wanderarbeiter im Halbkreis und lauschen halb staunend, halb grinsend. Ich stelle mich dazu und grinse mit.
Der Sänger erinnert mit seinen dicken, nachgemalten Augenbrauen ein bisschen an einen Clown aus einer Pekingoper. Mit seinem Krawall will er uns alle in das Kino nebenan locken, wo seine Truppe gastiert. Zu der gehören auch fünf junge Frauen in Bikinis, die vor dem Kinoeingang posieren. Der Clown agitiert die Massen jetzt mit Worten: «Los, kommt rein. Es kostet nur fünfzehn Kuai. Und», dabei zeigt er auf mich, «über die Anwesenheit unseres ausländischen Freundes würden wir uns besonders freuen.» Okay, wenn das so ist. Und habe ich nicht die Flussroute gewählt, um mehr Abenteuer zu erleben? Ich trete aus der Menge und kaufe mir an der Kinokasse ein Ticket. «Seht», schreit der Clown begeistert, «der ausländische Freund kommt auch!» Die ganze Bikini-Damenriege applaudiert mir, und ein Mann im weißen Seidenanzug – sicher der Direktor der Truppe – schüttelt mir die Hand. Ich bin gerührt. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich in China wieder an-und aufgenommen.
Dabei brauchen sie mich gar nicht dringend, denn das Kino ist schon gut gefüllt. Mindestens zweihundert Leute sitzen im Halbdunkel, und alle kauen Sonnenblumenkerne, die ausgespuckten Spelzen klingen wie feiner Regen, wenn sie auf den Boden rieseln. Ich wundere mich. Bei den Fotos und den Bikinigirls da draußen hätte ich eigentlich nur Männer hier drin erwartet, doch das Publikum ist höchst gemischt. Sogar ein paar Familien mit Kleinkindern sind gekommen. Sie alle beachten den Film kaum, der im Vorprogramm läuft, eine plumpe historische Komödie auf einer VCD mit schweren Pixelfehlern. Statt zuzusehen, schwatzen alle durcheinander, telefonieren oder probieren neue Klingeltöne aus. Als ich mich setze, rotzt mein Nachbar gerade einen großen Fladen neben mir auf den Boden. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Super, man darf im Kino rauchen. Also stecke ich mir auch eine ins Gesicht. Mittlerweile rauche ich «Der Osten ist rot»-Zigaretten aus Hunan, Maos Heimatprovinz, weil es hier keine «Roter Fluss» mehr gibt.
Kaum brennt der rote Osten, geht es los. Ein Mädchen am Keyboard und ein Netzhemdträger am Schlagzeug spielen ein pompöses Intro, gefolgt von einer Flamenco-Nummer mit vier der Bikinigirls, die jetzt rote Kleider und kniehohe Stiefel tragen. Anschließend singt der Direktor persönlich zwei traurige Lieder, die an die Gesänge der Uighuren in den Steppen und Wüsten im Westen Chinas gemahnen sollen. Jeder Song beginnt mit einem langgezogenen hohen Jammerton, den der Direktor nie trifft. Als danach die Mädchen in eng geschnittenen Uniformen ein Standard-Volksbefreiungsarmee-Ballett tanzen, wird mir langsam klar, dass ich hier in eine typisch chinesische Unterhaltungsshow geraten bin, wie sie jeden Abend auf zig Fernsehkanälen läuft. Die einzelnen Programmpunkte sind identisch, der Unterschied ist bloß, dass sie hier von nur zehn Leuten präsentiert werden, die allesamt tanzen, singen, schauspielern und auch ein bisschen Akrobatik bringen müssen, während im Fernsehen ganze Hundertschaften mitmischen.
Nach der Armee kommt wieder Stampftechno, dann der Clown, der mich hereingelockt hat; er kann Hundegebell imitieren und ein Motorrad, das nicht anspringt. Den nächsten Programmpunkt sieht man seltener im Fernsehen: Die Mädchen führen nicht allzu gewagte Unterwäsche vor und versuchen dabei, wie echte Modells herausfordernd und ein bisschen verrucht zu gucken. An Tangaslipschleifchen wird allerdings nicht gezogen. Dafür ziehen sich die Nummern. Besonders lang ist ein Sketch, in dem die Mädchen, das Netzhemd und der Clown mitmachen und der in der Schule spielt. Ich verstehe praktisch nichts und doch alles: Es geht um Vorsagen, Schummeln und Namenswitze, und der Clown, der den Klassendeppen spielt, wird dauernd von der Lehrerin verdroschen. Am besten gefällt mir hier, wie eine der Schauspielerinnen ganz nebenbei auf die Bühne rotzt, was gewiss so nicht im Drehbuch steht.
Dann endlich die Topnummer. Sie muss es sein, denn jetzt betritt eine bisher noch nicht in Erscheinung getretene Person die Bühne. Es ist eine Frau in schwarzer Unterwäsche, über der sie noch ein rotes Negligé trägt. Ich erkenne sie sofort wieder: Es ist Dongmei, die Masseuse aus Yingshan.
Okay, sie ist es nicht. Aber ich muss mindestens dreimal hinsehen, bis ich’s glaube, zu groß ist die Ähnlichkeit. Die Frau auf der Bühne hat Dongmeis Stimme, ihre Frisur und ist vor allem genauso kräftig gebaut. Und obwohl sie genauso wenig singen kann wie die Masseuse massieren, tut sie es. Aber sie gibt sich damit nicht zufrieden. Nach ein paar Minuten holt sie sich einen Mann aus der ersten Reihe auf die Bühne. Er sträubt sich lange und verzweifelt. Aber er ist ein schmales Hemd und wird von Dongmei II einfach hochgezogen. Jetzt steht er verlegen grinsend da, während sie ihn falsch singend umtanzt. Zwischendurch macht sie immer wieder Pausen und stellt ihrem Opfer Fragen, die der Arme nicht zu beantworten weiß. «Drei Sachen will eine Frau von einem Mann. Weißt du, welche?» Der Schmale windet sich vor Scham und bringt dann gerade mal ein «Nein» hervor. «Okay», sagt Dongmei II, «ich sage es dir. Nummer 1: Der Mann muss der Frau schöne Sachen kaufen.» Den zweiten Frauenwunsch verstehe ich leider nicht, den dritten dafür umso besser. Die Dicke greift sich den Schmalen am Hosengürtel und macht ihn einmal symbolisch auf.
Jung und Alt im Publikum brüllen vor Begeisterung, und mein Nachbar erstickt vor Lachen fast an seinen Sonnenblumenkernen. Die Stimmung steigt, als Dongmei das Publikum fragt, ob der Schmale sich das Hemd ausziehen soll. «Er soll! Er soll! Er soll!», schreien die Leute. Der Schmale würde jetzt am liebsten sterben, doch als guter Chinese fügt er sich dem Wunsch der Masse. Dann zwingt die Dicke ihn, sich auf einen Hocker zu setzen. Sie selbst zieht sich das rote Negligé aus, wirft es mit großer Geste weg und beginnt wieder, den Mann singend zu umtanzen. Dabei schaut sie ihn schmachtend an und streicht ihm über die nackte Brust. Plötzlich aber dynamisiert sich die Szene. Die Dicke springt mit einem Satz auf die Knie ihres Opfers, zuppelt sich dann langsam in Richtung Schoß vor, wirft ihre Beine blitzartig um seinen Körper und lässt sich nach hinten fallen. Kopfüber singt sie weiter, während sie mit ihrem Unterleib Fickbewegungen simuliert. Das Publikum rast jetzt vollends.
Nach dieser Demütigung darf sich der Schmale von seinem Folterhocker erheben. Er lacht unsicher und hofft wohl, die Tortur sei vorbei. Doch kaum steht der Mann, umschlingt Dongmei seinen Hals noch einmal mit den Armen, hängt sich an ihn und macht es jetzt im Stehen, mindestens eine Minute lang. Es ist ein Wunder, dass der hagere Kerl unter dem Gewicht und den harten Stößen nicht zusammenbricht, doch er hält durch. Danach ist es wirklich vorbei. Der Schmale bekommt zur Belohnung eine Flasche Bier, muss aber Dongmei noch einen Kuss auf die Wange hauchen.
Der Schlusssong wird von dem Clown dargeboten, doch keiner hört mehr zu, weil alles schon zur Tür stürzt. Auch das ist eine Variante des schnellen chinesischen Abschieds. Ich aber bleibe noch ein bisschen sitzen und überlege: Das, was da auf der Bühne lief, ist doch wahrscheinlich auch das, was Dongmei in Yingshan normalerweise mit Männern macht. Warum aber wurde ich verschont? Es gibt eigentlich nur eine Erklärung: weil ich kein Chinese bin. Zum ersten Mal bin ich dafür dankbar.