Im Wilden Westen
Tibet – für die einen das Dach der Welt, für die anderen das größte Verkehrshindernis des Planeten. Unser Held übersteht Höhenkrankheitspest und Erdrutschcholera. Die Belohnung: chinesische Volksbefreiungssoldaten mit einer süßen Überraschung.
Okay, das war’s wohl, denke ich, als ich am nächsten Morgen um sechs ganz allein im stockdunklen Hotelfoyer sitze. Bart und Dorje haben sich auch eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit nicht blicken lassen. Tschüss Tibet, tschüss Lhasa, tschüss Mount Everest. Ich überlege, was bloß ich als Nächstes machen soll. Zwar gibt es täglich einen Bus von hier nach Markham, der nächsten größeren Ansiedlung hinter der Provinzgrenze auf tibetischem Gebiet. Aber den kann ich nicht nehmen. Man wird mir ohne Permit überhaupt kein Ticket verkaufen, und falls ausnahmsweise doch, wird mich die Polizei spätestens in Markham aus dem Bus fischen. Ich könnte natürlich auch versuchen zu trampen, aber ohne Genehmigungen ist auch das nahezu unmöglich. Ich habe zwar die nötigen Papiere, nur sind sie nicht in meinem Besitz. Wie bei allen Jeep-Touren üblich, bleiben sie in den Händen des Führers. Ich bin also Bart völlig ausgeliefert und kann hier nichts anderes machen, als zu warten und zu hoffen, dass er doch noch kommt. Das tut er nach einer weiteren Viertelstunde, gut gelaunt. «Verschlafen», sagt er ohne ein weiteres Wort der Entschuldigung. Ich glaube, ich bin inzwischen wirklich ein bisschen paranoid.
Es gibt aber auch immer wieder einen Anlass. «Heute sitze ich mal vorne. Nur die ersten Kilometer», sagt Bart überraschend, als ich in den Jeep steigen will. «Wieso? Kann es Probleme an der Grenze geben?» – «Nein», sagt Bart, «du hast ja die Permits.» – «Und warum kann ich dann nicht vorne sitzen?» Darauf gibt er keine Antwort. Natürlich, ich hatte vergessen, dass man in China niemals die Warum-Frage stellen darf.
Tatsächlich aber hat Bart recht. An der Grenze geht alles reibungslos. Der Polizist auf der Sichuaner Seite muss gerade erst aufgestanden sein, denn er steht an der Straße und steckt sich das Hemd in die Hose. Die Passagiere in dem vorbeifahrenden Jeep sieht er nicht. Dann ist die Strecke frei, und wir biegen nach rechts ab auf eine lange Brücke. Sie führt über den Jinsha. Übersetzt heißt das goldener Sand, und den Namen hat der Fluss wegen seiner gelben Farbe. Ich freue mich, den Fluss zu sehen, denn er ist eine alte Reisebekanntschaft, von der ich kurz hinter Chongqing das letzte Mal Abschied nahm. Weiter flussabwärts ändert der Jinsha nämlich seinen Namen in Chang Jiang oder Jangtse. In der Mitte der Brücke fliegt ein blaues Schild an uns vorbei, auf dem etwas in Tibetisch und Chinesisch steht. Ich kann natürlich beides nicht lesen, doch es muss Autonome Region Tibet heißen, weil der Jinsha die Grenze zwischen Sichuan und Tibet bildet. Yippieh, nach mehr als zwei Monaten Ungewissheit habe ich es geschafft. Ich bin in Tibet!
Dabei wollte ich, wenn ich ehrlich bin, eigentlich nie in meinem Leben hierher, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Die westliche Begeisterung für diese Region der Erde und ihre Bewohner war mir eigentlich immer sehr fremd. Die Tibetfotos, die ich kenne, zeigten meistens eine karge Mondlandschaft, durch die vielleicht noch ein paar rotgewandete Mönche liefen. Nicht unbedingt mein Ding. Auch den im Westen so beliebten und von einigen Tibetern immer noch hochverehrten Dalai Lama kann ich nicht sonderlich leiden. Er mag ja heute andere Positionen vertreten. Doch das Tibet, an dessen Spitze er bis zum Einmarsch der Chinesen stand, war ein feudaler Staat, in dem der Klerus und der Adel die einfachen Tibeter ausplünderten wie bei uns die absolutistischen Fürsten im Mittelalter. Tibet war auch ganz und gar kein friedliches Land, wie man im Westen gerne glaubt, ohne etwas Genaueres zu wissen. Mord und Totschlag regierten, selbst etliche der bisherigen Dalai Lamas wurden nicht alt. Allein fünf der zwölf, die es seit Verleihung des Titels durch den mongolischen Khan im Jahr 1578 gegeben hat, wurden bei politischen Intrigen von den eigenen Leuten umgebracht.
Suspekt ist mir der aktuelle, der 14. Dalai Lama – die ersten beiden kamen posthum zu diesem Titel –, und zwar unter anderem wegen der vielen merkwürdigen Freunde, die er im Westen hat. Dabei sind mir die Heerscharen ahnungsloser Schauspieler und Popmusiker noch relativ egal. Aber wer in Deutschland einen Politiker zum besten Freund hat, der ansonsten Ausländer am liebsten sieht, wenn sie wieder gehen, und der sich von der Bild-Zeitung mit einem «Osgar» genannten Medienpreis auszeichnen lässt, der kann kein richtig guter Mensch sein.
Der entscheidende Grund dafür, dass ich diesen Mann ablehne, ist seine Haltung den Chinesen gegenüber und das Vokabular, das er gebraucht. Zwar ist unbestreitbar, dass den Tibetern im Laufe der Geschichte von chinesischer Seite Unrecht widerfahren ist, aber das einen «Holocaust» zu nennen, wie es der Dalai Lama zum Beispiel in einer Rede 1987 vor dem Menschenrechtsausschuss des US-Kongresses tat, ist mehr als nur Geschichtsklitterung. In dieser Rede präsentierte der Dalai Lama übrigens auch seinen bis heute aktuellen und im Westen hochgelobten «Fünf-Punkte-Friedensplan» für Tibet. Dabei sprach er unter anderem davon, China betreibe die «Endlösung des tibetischen Problems» durch Ansiedlung von Han-Chinesen in der Region. Punkt zwei seines «Friedensplans» beinhaltet deshalb nicht nur die Forderung, die chinesische Besiedelung zu stoppen, sondern die in Tibet und in den sonstigen tibetischen Siedlungsgebieten Chinas lebenden Chinesen wieder dorthin zu schicken, wo sie einst hergekommen sind. Letztlich fordert der Dalai Lama also nichts anderes als ein ethnisch bereinigtes Tibet, in dem die «tibetische Rasse» (so der Dalai Lama in einer Rede am 27. März 2006 im indischen Dharamsala) machen kann, was sie will. Weil mir aber alle ethnisch motivierten Nationalisten zuwider sind, kann ich damit natürlich nicht einverstanden sein.
Dass ich trotz dieses ganzen Bündels an Aversionen gegen den Mann, der sich für das Staatsoberhaupt aller Tibeter hält, jetzt dennoch in Tibet bin, liegt sicher nicht nur daran, dass die 318 eben auch durch Tibet führt. Selbst Paul Theroux’ schöner Satz: «Man muss Tibet sehen, um die Chinesen zu verstehen» spielt für meine Entscheidung nicht die wichtigste Rolle. Nein, am meisten hat mich wohl gereizt, dass es so schwierig ist, in diese Ecke der Welt zu kommen. Alexandra David-Néel, der ersten Europäerin, die 1924, als Mann verkleidet, die damals von den Engländern gesperrte Stadt Lhasa erreichte, ging es ähnlich: «Was mich dazu brachte, nach Lhasa zu reisen, war, mehr als alles andere, das absurde Verbot, das Tibet von der Außenwelt abriegelt.»
Außerdem ist es dumm, irgendwo aus Prinzip nicht hinzufahren. Es kann nie schaden, sich selbst ein Bild von den Dingen zu machen, denn meistens sieht es vor Ort anders aus als gedacht. So muss ich zum Beispiel sehr schnell meine Vorstellungen von der tibetischen Landschaft korrigieren. Zwar sieht es direkt hinter der Grenze tatsächlich so trostlos und öde aus wie auf dem Mond. Wir fahren auf einer Schotterpiste einen Fluss entlang, der dunkelrotes Wasser führt, und sind von düsteren, mit Gestrüpp bewachsenen Bergen umgeben. Doch dieses Bild ändert sich sofort, als die Wolken verschwinden. Yaks sonnen sich auf der Straße und stehen gemächlich auf, sobald sich unser Jeep nähert, ein hellgrüner Linienbus aus Lhasa macht am Straßenrand Rast, und dunkelgrüne Wiesen leuchten im tibetischen Licht. Dann tauchen inmitten wogender Gerstenfelder kleine Dörfer auf. Eigentlich unterscheidet sich diese Landschaft kaum von der in Westsichuan. Nur die Passstraßen sind noch länger und gewundener. Der Grund dafür ist nicht, dass die Pässe sehr viel höher lägen. Es geht einfach nur viel tiefer runter. Der Osten Tibets wird von einigen sehr großen Flüssen durchströmt, die sich tief in die Berglandschaft eingegraben haben. Der erste ist der Jinsha, der zweite der Ngom Chu (tibetisch) oder Lancang Jiang (chinesisch), der unter dem Namen Mekong weitaus bekannter ist. So heißt der Fluss weiter südlich, in Laos, Thailand, Kambodscha und Vietnam. Diese Flüsse und ihre Canyons bringen auch eine neue Dramatik in die Landschaft.
Als wir ein paar Kilometer vor der Mekong-Schlucht halten, weil ich tibetische Bauern dabei fotografieren will, wie sie vor einer alpinen Kulisse ihre Gerste mit Sicheln ernten, höre ich ein leises Zischen. «Äh, Bart», rufe ich dem Guide zu, «ich glaube, der linke Hinterreifen verliert Luft.»
Für Bart ist das kein Grund zur Beunruhigung: «An der Strecke», meint er, «gibt es überall Werkstätten, wo man den Reifen flicken lassen kann.» Also fahren wir weiter, immer tiefer in den Mekong-Canyon hinab. Kurz bevor der Fluss in Sicht kommt, hockt plötzlich ein seltsames Tier auf der Straße. Erst als es zum Flug ansetzt und seine enormen Flügel ausbreitet, erkenne ich, dass es sich um einen großen Geier handelt. Er flieht auf einen kleinen Hügel, über dem auch ein Schwarm schwarzer Raben kreist. «Luftbestattung», weiß Bart ausnahmsweise. Das ist die traditionelle Form des Umgangs der Tibeter mit ihren Toten. Der Körper wird zerstückelt, und die Einzelteile werden an bestimmten Stellen in den Bergen ausgelegt, als Vogelfutter. Die Seele des Toten wird so befreit und kann danach reinkarnieren.
Wir rasten auf dem Grund des Canyons an der einzigen Mekong-Brücke weit und breit. Allein sitzen wir in einem schäbigen Restaurant, neben dem noch einige andere schäbige Häuser und Holzhütten stehen. Davor baumelt ein Käfig mit einem Papagei, der partout nicht mit Bart sprechen will; das geschieht dir recht, denke ich. Unterhalb der ungeteerten Straße fließt zwischen steilen Felswänden eingeklemmt der dunkelrote Mekong. Nevada, Colorado, Utah könnte das hier sein, und wenn jetzt noch ein Trupp Indianer in den Canyon ritte, würde mich das nicht wundern. Dazu passt, dass es plötzlich richtig heiß geworden ist. Und noch etwas hat sich verändert. Der Hinterreifen zischt nicht mehr. «Dorje meint», sagt Bart, «dass der Reifen wieder in Ordnung ist.»
Das muss eins von diesen tibetischen Wundern sein, von denen man in der Tibetliteratur immer wieder liest. Das Wunder ist aber auch ungemein praktisch, denn so spart Bart das Geld für die Reparatur, und wir können auf den nächsten Pass. Es ist der Dungda La, nicht nur ein Doppelpass, sondern auch der erste Pass auf der ganzen Strecke, der knapp über fünftausend Meter hoch ist. Bevor es losgeht, müssen wir aber an einem Polizeiposten vor einer geschlossenen Schranke warten. Mit uns stehen etwa zwanzig weitere Jeeps Schlange. Es sind fast alles Mietwagen, und drinnen sitzen chinesische Offroad-Touristen, denen wir seit Markham immer wieder begegnet sind. Es sind ganze Kolonnen unterwegs, denn der Osten Tibets ist in den letzten Jahren für Autofahrer, die in den Millionenstädten des Ostens nur im Stau stehen, zu einem großen Autoabenteuerspielplatz geworden. Aber nicht nur Offroader haben diesen Teil Chinas für sich entdeckt. Auf den letzten Kilometern haben wir auch immer wieder chinesische Mountainbiker überholt, die sich zu Hunderten die Pässe rauf-und wieder runterquälen.
Ein paar Radfahrer ziehen gerade an der Schranke vorbei, da wird Dorje in die Polizeistation gerufen. Als er wieder rauskommt, übersetzt Bart, dass die Polizisten ihn ermahnt haben, vorsichtig zu sein und Ausschau zu halten. «Vor ein paar Tagen ist ein Jeep von der Passstraße gestürzt. Sie haben ihn und die Insassen immer noch nicht gefunden.» Nach diesen ermutigenden Worten dürfen wir weiterfahren. Wir schrauben uns so lange hoch, bis der Mekong unter uns nur noch eine kleine rote Schlange ist, die sich durch die Landschaft windet. Auf der ersten Passhöhe angekommen, gibt es eine kleine Überraschung. Dorje stellt fest, dass sich der Reifen doch nicht per Wunder repariert hat. Das ist nicht zu übersehen. Der Reifen ist sehr platt.
Immerhin kann sich Dorje bei einem chinesischen Fahrer eine Luftpumpe ausleihen. Mit der schafft er per Hand und sehr viel Kraft wieder ein wenig Druck auf den Reifen, während ein anderer chinesischer Jeep-Tourist dieses Topereignis begeistert fotografiert. So kommen wir bis ins nächste, nur wenig tiefer gelegene Dorf. Hier stehen zwar ein paar mit Kalaschnikows bewaffnete Soldaten rum, aber zu Barts Überraschung gibt es keine Autowerkstatt. Also wechselt Dorje neben einem Wildwasserbach den Reifen gegen das Reserverad, neugierig beäugt von zwei Khampas, die mit vollbeladenen Maultieren langsam Richtung Passhöhe ziehen. Wir erreichen sie eine knappe Stunde später. Schon von weitem kann ich sehen, dass dieser Pass nochmal eine Nummer imposanter ist als alle, die wir bisher überquert haben. Eine halbe Stunde lang fahren wir auf eine gewaltige dunkle Felswand zu, knapp davor biegen wir nach rechts ab. Die Wand und die Passhöhe liegen im Schatten schwarzer Wolken, aus denen es kräftig schneit. Schnee am ersten August, das hatte ich auch noch nie. Ich will von dieser Szenerie ein Foto machen, aber so schnell ich aus dem Jeep raus bin, so schnell sitze ich auch wieder drin: «Jetzt verliert rechts hinten Luft. Los, Dorje, schnell weiter.»
Dorje drückt sofort aufs Gas. Wir kommen noch gerade so über den verschneiten Pass. Ein paar Serpentinen später ist aber auch dieser Reifen platt. Wenigstens sind wir jetzt rund dreihundert Meter unterhalb des höchsten Punkts und außerhalb der Schneefallzone. Das aber ist anscheinend immer noch zu hoch für mich. Als ich auf einen kleinen Hügel steige, um den havarierten Jeep zu fotografieren, beginne ich nach Luft zu schnappen. Dazu packt mich starker Schwindel, und Übelkeit steigt auf. Scheiße, das muss die Höhenkrankheit sein, vor der alle Reiseführer warnen. Und es erwischt mich ausgerechnet jetzt, wo wir hier festgenagelt sind. Ich mache sofort, dass ich von dem Hügel runterkomme, und setze mich in den Jeep. So geht es etwas besser. Atemprobleme und Übelkeit bleiben, aber wenn ich mich nicht bewege, hört wenigstens der Schwindel auf.
Trotzdem wäre es besser, wenn ich bald ein paar hundert Meter tiefer käme. Bei Symptomen wie diesen sollte das eigentlich sofort passieren. Der Lonely Planet schreibt, dass Höhenkrankheit schon ab dreitausend Metern tödlich sein kann, «obwohl die normale Spanne zwischen dreitausendfünfhundert bis viertausendfünfhundert Metern liegt». Wir sind hier aber auf mindestens viertausendsiebenhundert Metern, und die Aussichten auf Rettung sind schlecht. Bart will einen anderen Mitsubishi-Jeep anhalten und dessen Fahrer den Reservereifen abschwatzen. Doch ausgerechnet heute fahren nur Toyota-Jeep-Kolonnen vorbei, und Toyota-Reifen passen nicht.
Am Ende ist es Dorje, der die beste Idee hat. Er hält einen Mopedfahrer an und fährt mit ihm in den nächsten Ort, den defekten Reifen zwischen sich und den Fahrer gepackt. Nach anderthalb Stunden kommt er mit dem geflickten Reifen zurück. Gevatter Höhenkrankheitstod hat dieses Mal noch ein Einsehen, als wir ein paar hundert Meter tiefer sind, geht es mir schon entschieden besser. Ich zünde mir auf den Schrecken erst einmal eine schöne «Mitte-Süd-See»-Zigarette an, von denen ich mir eine Stange aus Chengdu mitgenommen habe. Mir bleibt trotzdem ein leichtes Zittern, selbst als wir am Abend endlich Zogang erreichen. Die Stadt liegt allerdings mit dreitausendachthundert Metern auch mehr als tausend Meter höher als Batang, das mir inzwischen unendlich weit entfernt scheint. Dabei liegen die beiden Städte nur hundertneunzig Kilometer auseinander. Doch auch wenn wir nur knapp zwölf Stunden unterwegs waren, kommt es mir so vor, als wären wir zwei Tage gefahren. Oder besser noch: geritten, denn auch in Zogang werde ich das Gefühl nicht los, irgendwo im amerikanischen Westen gelandet zu sein. Die kleine Stadt mit höchstens achttausend Einwohnern hat man entlang der hier breiten und betonierten 318 gebaut, und an ihrem Eingang liegt ein großes Fort. Dort ist allerdings nicht die Kavallerie stationiert, sondern die Volksbefreiungsarmee. Zogang ist auch nicht besonders schön, bis auf einen schroffen Felsen, der in der Abendsonne leuchtet, während die Stadt, die er überragt, mit ihrer einzigen großen Straße schon längst im Dunkeln liegt. Hier steht ein verrotztes tibetisches Kind in einer offenen Garage auf einem Billardtisch und versucht, mit einem viel zu großen Queue die Kugel zu stoßen. Tibeter in Tracht rauchen vor ihren Läden, und vor mir auf dem Bürgersteig verblutet gerade ein Huhn, dem jemand den Kopf abgeschnitten hat.
Dafür, dass die Stadt zu China gehört, ist es erstaunlich ruhig. Die Tibeter rufen mir nichts zu, nicht einmal «Tashi Delek». Sie scheinen mir sowieso distanzierter zu sein als die Chinesen. Die sind die Einzigen, die lärmen. Aus einem chinesischen Laden dröhnt laute Popmusik, ein Titel von Jay Chou, dem taiwanesischen Robbie Williams. Auch die chinesischen Mädchen benehmen sich, als lebten sie noch im warmen Sichuan, und trotzen den tibetischen Temperaturen in Miniröcken. Das sind alles Dinge, die dem Dalai Lama nicht gefallen, aber mir.
Ich schaffe nur diesen kleinen Bummel durch die Stadt und gehe gleich nach dem Abendessen schlafen. Im Bett läuft noch einmal mein allererster Tag in Tibet vor meinem inneren Auge ab: die Einreise im Morgengrauen, die Überquerung zweier der größten Flüsse Asiens, der Geier auf der Straße, vier Pässe (oder waren es fünf?), zum ersten Mal im Leben über fünftausend Meter, zwei platte Reifen und Nahtoderlebnis Nummer drei. Gar nicht mal so übel. Ich wundere mich nur, wie einfach es am Ende war, so weit nach Tibet reinzufahren, ohne kontrolliert zu werden. Bis auf einen waren alle Schlagbäume an den Polizeistationen offen, und nie würdigte mich ein Polizist auch nur eines genaueren Blicks.
Allerdings wäre wohl spätestens hier in Zogang Schluss für mich, hätte ich keinen Führer und keine Permits. Bart muss meine Anwesenheit und Übernachtung sofort nach unserer Ankunft bei der Polizei melden, die sich das Recht vorbehält, Ausländer jederzeit zu überprüfen. Heute macht man kurz vor zehn davon Gebrauch. Ich bin gerade dabei einzuschlafen, da klopft es an der Tür. Davor steht ein Mann in Uniform und fragt nach meinen Permits. Ich begreife allerdings nicht so ganz, was das soll. Schließlich müsste er doch wissen, dass meine Genehmigungen in der Hand meines Führers sind. Aber wahrscheinlich will er genau das von mir hören. Danach zieht er jedenfalls zufrieden ab.
Mein zweiter Tag in Tibet wird noch eine Idee aufregender verlaufen als der erste. Das deutet sich am nächsten Morgen an. Dorje betet viel länger als gewöhnlich. Ich hatte schon in den letzten Tagen bemerkt, dass der Fahrer jedes Mal nach dem Losfahren leise für ein paar Minuten die Lippen bewegte, ohne dabei die Straße aus den Augen zu verlieren. Heute aber betet er mindestens fünfzehn Minuten. Dabei macht die Straße hinter Zogang überhaupt keinen schlechten Eindruck. Sie verläuft parallel zu einem ruhigen Fluss, der durch eine saftig grüne Landschaft fließt. Doch als wir nach ein paar Stunden Fahrt bei Kilometer 3709 den höchsten Punkt des Zar-Gama-La-Passes erreichen, ändert sich das Bild abrupt. Eine Serpentinenstraße, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellt, führt von hier aus hinab in einen zweitausend Meter tiefen, knochentrockenen Canyon. Ich kann die langgezogenen Kurven nicht zählen, aber ich weiß, dass es sich bei dieser Passstraße um den gefährlichsten Streckenabschnitt der ganzen 318 handeln soll. Immer wieder stürzen Busse oder LKWs zu Tal oder werden von Erdrutschen begraben. Schon von hier oben kann ich erkennen, dass Teile der Straße von dicken Felsbrocken und Geröllbergen halb blockiert sind. Die Chancen, dass es einen auf diesem vierzig Kilometer langen Streckenabschnitt erwischt, stehen nicht schlecht. Ich zünde mir eine Zigarette an und denke: Besser erschlagen werden als ersticken.
Nach meinem letzten Zug beginnt Dorje sofort damit, den Jeep hinabzusteuern. Nach zwei Stunden auf der wohl größten Achterbahn der Welt haben wir glücklich die Sohle des Canyons erreicht. Hier fließt der Salween, noch einer der großen Ströme Asiens, rund zweitausendfünfhundert Kilometer weiter südlich mündet er an der Küste Myanmars in den Indischen Ozean. Anders als auf der Bergwiese in Westsichuan möchte ich hier niemals stranden. So heiß, trocken und vegetationslos wie dieser Canyon ist, so stelle ich mir höchstens noch das Tal des Todes in Nevada vor. Schon wieder Wilder Westen also.
Gerade als ich anfange, mich zu entspannen, passiert dann doch noch etwas. Kurz nach der Überquerung des Salween über eine von Soldaten schwer bewachte Brücke gibt es einen Stau. Der Grund: Die Straße ist verschwunden. Eine Steilwand aus knochentrockenem Mergel ist abgebrochen und hat die 318 bei Kilometer 3764 mehrere Meter unter sich begraben. Wir und ungefähr zwanzig Busse, Laster und Minibusse können nicht weiter. Hat Dorje also doch nicht lange genug gebetet? Das kann man auch anders sehen. Wie es scheint, ist das Malheur vor einer halben Stunde passiert, denn der Berg rutscht immer noch ein bisschen. Wir könnten also auch genauso gut unter diesen Tonnen von Schutt begraben sein.
So schlimm ist der Bergrutsch am Ende aber gar nicht. Kaum stehen wir im Stau, ist auch schon Militär da, das die Unglücksstelle sichert. Ein Soldat verspricht, eine Planierraupe sei unterwegs: «In zwei Stunden geht es weiter.» Außerdem muss ich gestehen, dass mir die Sache gar nicht ungelegen kommt. Ein Bergrutsch, dem ich knapp entkommen bin, fehlt mir noch in meiner Abenteuersammlung. Später kann ich damit angeben, wobei ich das Erlebnis sicher noch etwas ausschmücken werde. Schließlich bin ich der einzige Ausländer weit und breit, der Zeuge wurde.
Doch da habe ich mich wohl zu früh gefreut. Kaum habe ich mir meine Heldengeschichte ausgemalt, stehen vier Männer neben mir an der Absperrung. Sie alle tragen Khakihosen mit vielen Taschen, Fotoapparate, Basecaps und lange Nasen. Ganz klar: Weiße, Europäer, Kaukasier. Meinesgleichen, jedenfalls äußerlich. Als ob das nicht hart genug wäre, deutet einer von ihnen auf die gerade eintreffende Planierraupe, macht den Mund auf und sagt in schönstem Hessisch: «Eins muss man den Chinesen lassen. Fix sind sie, selbst am Ende der Welt.» Ich bin sprachlos. Doch innerlich tobe ich: «Was habt ihr hier zu suchen? Das ist meine Straße. Haut bloß sofort wieder ab. Am besten, euch erwischt der nächste Steinschlag.»
Leider nützen meine Verwünschungen nichts. Die vier Eindringlinge bleiben stehen wie festgenagelt. In der Zwischenzeit hat die Planierraupe den Bergrutsch weggeräumt, und es geht weiter, auch wenn der Berg an der Einsturzstelle immer noch bröckelt. Eine Stunde später sitzen Dorje, Bart und ich in einem kleinen Nest beim verspäteten Mittagessen. Kaum haben wir bestellt, geht die Restauranttür auf, und hereinspaziert kommen meine neuen Bekannten. Sie bringen sogar noch Verstärkung mit, denn insgesamt besteht die Gruppe aus zehn Leuten. Diese zehn sind nicht nur allesamt in einem fortgeschrittenen Alter – die Ältesten gehen sicher auf die siebzig zu –, es sind auch alles Ehepaare. Nun ist es nicht so, dass ich etwas gegen andere Deutsche im Ausland habe. In Wuhan habe ich mich zum Beispiel gerne mit ihnen getroffen. Aber das hier ist etwas anderes. Wofür mache ich diese Reise und nehme alle Entbehrungen, Demütigungen und Nahtoderlebnisse auf mich, wenn letztlich jedes Offenbacher Rentnerkaffeekränzchen so etwas von Deutschland aus buchen kann?
Immerhin sind sie nicht auf meiner Route gekommen. Das erzählt mir ihr chinesischer Führer, der sich zu uns an den Tisch setzt. Die Gruppe ist in der südlich von Tibet gelegenen Provinz Yunnan losgefahren und erst seit zwei Tagen auf der 318 unterwegs. Trotzdem bin ich beunruhigt, denn bis Lhasa wird die Gruppe nicht nur auf meiner Straße reisen, sondern auch in denselben kleinen Städten übernachten. Dann werde ich mir wahrscheinlich jeden Tag Gespräche anhören müssen wie das, was gerade am Nebentisch läuft: «Pah, Bergrutsch. Wir waren letztes Jahr in Mozambique. Da liegen überall neben der Straße Minen. Das war wirklich gefährlich. Da konnte man nicht mal hinter einen Busch zum Austreten.»
Den ganzen Nachmittag drückt mir die Anwesenheit der Deutschen aufs Gemüt, denn ich bin mir sicher, dass ich sie am Abend in der Stadt Rawok wiedertreffen werde. Rawok liegt an einem der schönsten Seen Tibets, hat aber nur drei Pensionen und zwei Restaurants, sodass man sich kaum aus dem Weg gehen kann. Als wir am Abend eines der beiden Lokale betreten, entdecke ich auch sofort meine Landsleute ganz hinten in dem langen Schlauch an einem großen runden Tisch. Ich will mich schon in mein Schicksal fügen, da sehe ich, dass die vermeintlichen Deutschen in Wirklichkeit ein Trupp chinesischer Soldaten sind. Ich bin sehr erleichtert. Noch schöner: Einer der Soldaten trägt eine goldene Papierkrone auf dem Kopf, die offensichtlich aus einem McDonald’s stammt. Das ist erstaunlich, denn die nächste Filiale ist mindestens tausendfünfhundert Kilometer entfernt.
Die Krone wird ein Geschenk sein, denn der Soldat feiert Geburtstag. Auf dem Tisch stehen zwei große Sahnetorten. Und kurz nachdem wir uns an einen anderen Tisch gesetzt haben, stehen seine Kameraden auch schon auf, um «Shengri Kuaile» zu singen, die chinesische Version von «Happy Birthday». Danach schneidet das Geburtstagskind die Torte an und gibt jedem seiner Gäste ein Stück auf einem Pappteller. Dann aber passiert etwas Unerwartetes. Ein Soldat nimmt sein Tortenstück in die Hand, stellt sich vor dem Geburtstagskind auf und drückt ihm das Sahnestück langsam ins Gesicht. Das ist das Signal für alle anderen, es ihm gleichzutun. Der Geburtstagssoldat bleibt allerdings nichts schuldig. Er greift mit einer Hand in die zweite Torte und klatscht die Sahne dem erstbesten Angreifer ins Gesicht. Bald kämpft jeder gegen jeden, und man verfolgt sich mit gezückten Tortenstücken durch das ganze Restaurant. Selbst als ein Vorgesetzter, erkennbar an den Schulterstücken, den Raum betritt, wird er nicht verschont. Die Zuschauer, die der Schlachtentwicklung interessiert folgen, stören die Kämpfer nicht im Geringsten. «Und, Bart», frage ich, «bereust du es manchmal, nicht zur Armee gegangen zu sein?»
Der hat keine rechte Meinung. Ich aber bin begeistert. Mir fällt eine Strafarbeit wieder ein, die ich vor mehr als drei Jahrzehnten als kleiner maoistischer Soldat bei der Bundeswehr verfassen musste, weil ich mal wieder beim «Innere Führung und Recht»-Unterricht gestört hatte. In diesem Papier pries ich wie schon im Unterricht die chinesische Volksbefreiungsarmee als eine ultrabasisdemokratische Veranstaltung, wo Rangunterschiede nicht viel gälten und von den Soldaten alle Befehle diskutiert und kritisiert werden könnten. Damals widerlegte mich mein Vorgesetzter, ein Hauptmann mit 68er-Hintergrund. Er kannte sich in den militärischen Schriften meines Idols besser aus als ich und widersprach mir Punkt für Punkt mit Mao-Zitaten. Doch hier im tibetischen Wilden Westen kann ich mit eigenen Augen sehen, dass ich damals wohl doch recht hatte.
Die Tortenschlacht endet erst, als auch die drei Kellnerinnen in das Scharmützel verwickelt werden sollen. Sie fliehen in eins der beiden Separees und schließen die Tür von innen ab. Einer der Soldaten versucht prompt, sie einzutreten. Da schreitet die Wirtin ein: «Jetzt ist Schluss», befiehlt sie. Die Soldaten gehorchen aufs Wort. Sie reinigen notdürftig ihre verschmierten Uniformen und ziehen dann lachend und bester Laune ab. Auch ich gehe nach dieser Einlage gut gelaunt schlafen. Die Deutschen tauchen nämlich aus rätselhaften Gründen nicht mehr auf, obwohl in diesem Dorf zehn Ausländer wirklich nicht zu übersehen sein können. Vielleicht hat jemand mein Flehen erhört …