Miss Sumo

Unser Held macht sich Gedanken über das Copyright und die Kopierlust des Westens. Achttausend Kilometer östlich von Mainz sucht er den Erfinder des Buchdrucks, findet aber nur ein verschorftes Knie. Abends ringt der Held mit seinem Gewissen und einer dicken Frau.

Anqing hatte mir gezeigt, wie schwer es ist, etwas über einen Ort zu erfahren, wenn man nicht lesen und kaum sprechen kann und auf Eingebungen im Fieberwahn vertrauen muss. Ich hoffe, in Yingshan, Station Nummer fünf dieser Reise, wird es einfacher sein. Der Ort, der mitten in den Dabie-Bergen liegt, soll nur lächerliche 400 000 Einwohner haben. Und außerdem ist das, was ich hier suche, auch wesentlich konkreter als «Gelassenheit» und «Geduld». Ich will etwas über Bi Sheng erfahren, den Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Bi Sheng ist auf sein Druckverfahren irgendwann zwischen den Jahren 1041 und 1048 gekommen. Und wenn auch seine Lettern nur aus leicht zerbrechlichem gebranntem Lehm waren, so druckte er doch ziemlich genau vierhundert Jahre früher als Johannes Gutenberg.

Nicht wenige Leute vermuten sogar, Gutenberg habe bei Bi Sheng abgekupfert. Paul Theroux schreibt: «Es gibt eindeutige Beweise, dass Gutenberg seine Technologie von den Portugiesen bekommen hat, die sie wiederum von den Chinesen lernten.» Das wird von der neueren westlichen Wissenschaft bezweifelt, die glaubt, Gutenberg sei von allein auf den Buchdruck gekommen, weil die Buchdruckerei damals in Europa in der Luft lag. Verdächtig ist die Sache trotzdem, denn auch das chinesische Porzellan wurde ja angeblich in Deutschland von Johann Friedrich Boettger – bzw. Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, wie man heute meint – noch einmal erfunden. Eindeutig geklaut hat der Westen andere chinesische Erfindungen, wie – und das ist nur eine kleine Auswahl – Nudeln, faltbare Regenschirme, Drachen, den Kompass, Seide, Papiergeld, Stahl und Toilettenpapier. Bezahlt wurde nie, denn als die Westler die Erfindungen abkupferten, war das Copyright noch nicht erfunden. Wenn die Chinesen aber heute ein paar Gucci-Taschen, Ritter-Sport-Schokoladetafeln oder Rolexuhren kopieren, redet alle Welt von geistigem Diebstahl, statt einfach froh zu sein, dass China nicht den Rest der Welt auf Billionen verklagt, allein für das Nachkochen von Stahl.

Toll wäre natürlich, wenn ich im Yingshaner Bi-Sheng-Museum einen bisher übersehenen Hinweis finden würde, dass der Drucker gute Kontakte zu Portugiesen hatte. Dafür würde man mich wahrscheinlich sofort zum Chinesen schlagen. Allerdings bin ich im Moment immer noch in Anqing und müsste erst einmal nach Yingshan gelangen. Und das ist schon wieder komplizierter als gedacht.


Als mein Bus morgens um sechs rückwärts aus seiner Lücke setzt, weiß ich jedenfalls noch nicht, ob ich am selben Tag auch in Yingshan ankommen werde, obwohl die Stadt nur hundertsechzig Kilometer entfernt ist. Ich habe mal wieder nur ein Ticket in die nächste größere Stadt. Doch das macht nichts. Hauptsache, es geht in die richtige Richtung. Inzwischen ist auch das Rücksetzen auf den Busbahnhöfen für mich ein vertrautes Ritual geworden. Es wird dabei rhythmisch mit einer Trillerpfeife gepfiffen, und immer pfeift eine Frau. Denn die chinesischen Busbahnhöfe werden hauptsächlich von Frauen geschmissen. Sie verkaufen die Tickets, kontrollieren die Passagiere vor dem Einsteigen und außerdem jeden einzelnen Bus bei der Abfahrt auf seine Sicherheit. Auf der Strecke wird der Bus dann noch einmal gecheckt, meistens an der Stadtgrenze. Hier werden die Passagiere im Bus gezählt, um zu verhindern, dass der Busfahrer Leute auf eigene Rechnung transportiert. Unserem Fahrer gelingt es heute trotzdem. Am Kontrollpunkt lässt er sich ganze vier Passagiere bescheinigen, die seit dem Busbahnhof im Bus sitzen. Dann fährt er zurück und hält auf einem versteckten Parkplatz hinter Anqings Großmarkt. Dort stürmt eine Meute Jugendlicher den Bus. Das gibt ein schönes Extrageld, das der Fahrer nur mit dem Schaffner zu teilen braucht. Danach geht es weiter auf der 318 nach Nordwesten. Der Fahrer feiert seinen Bonus, indem er heulsusige Xinjiang-Balladen über die Anlage dröhnen lässt, die Jugendlichen kontern mit Hardrock aus ihren aufgedrehten Handys. Trotzdem schafft es mein Nachbar, an meiner Schulter einzuschlafen.

Bei Streckenkilometer fünfhundertsiebzig wird er geweckt, als der Schaffner mich an einer Kreuzung recht rüde aus dem Bus schmeißt. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Wahrscheinlich wird es die Stadt Qianshan sein, weil ich bis hierhin ein Ticket habe. In seinem unverständlichen Anhui-Dialekt schreit mir der Busfahrer irgendwas hinterher, während bereits zwei Fahrradrikschafahrer auf mich einteufeln. Nach zehn Minuten Teufelei weiß ich, dass es am Ortseingang einen Busbahnhof geben soll, von wo ein Bus nach Yuexi fährt, einer Stadt auf dem Weg nach Yingshan. «Du musst dich beeilen, sonst ist der Bus weg», schreit der Rikschamann. Also lasse ich mich von ihm fahren. Tatsächlich fährt der Bus fünf Minuten später los. Er rollt allerdings nur bis zur nächsten Kreuzung, wo er noch eine Stunde wartet, um noch mehr Passagiere einzusammeln. Die Kreuzung kenne ich übrigens. Es ist dieselbe, an der mich der Rikschafahrer aufgelesen hatte.

Trotz der Warterei ist der Bus schon um die Mittagszeit in Yuexi, einer kleinen Stadt mitten in den Dabie-Bergen, an einem flachen, breiten Fluss gelegen. Die Luft hier oben ist viel frischer und angenehmer als die schwülheiße Atmosphäre, die unten am Jangtse herrscht, und ich spiele schon mit dem Gedanken zu bleiben. Doch zu meiner Überraschung gibt es noch am frühen Nachmittag einen Bus direkt nach Yingshan. Ich bereue es nicht, gleich weitergefahren zu sein, denn die Strecke von Yuexi nach Yingshan entpuppt sich als die bisher schönste der ganzen Reise. Die 318, die unten im Tal eher einer Autobahn ähnelte, ist jetzt nur noch ein schmales Band, das sich durch eine Berglandschaft schlängelt, die entfernt an die Toskana erinnert. Mit jedem Kilometer werden die Berge höher. Dünne weiße Wasserfälle stürzen aus Hunderten von Metern in von Kiefern bewachsene Schluchten. Mit jedem Kilometer geht es auch in der Zeit zurück. Aus langweiligen Klinkerhäusern werden mit grauen Ziegeln gedeckte Lehmhäuser, und Bauern mit breitkrempigen Hüten legen Stroh auf die Fahrbahn, damit es von den Reifen der Autos gedroschen wird.

Im Bus herrscht gute Stimmung, obwohl kein Fernseher läuft. Besonders prächtig amüsiert sich ein Mann um die vierzig zwei Reihen vor mir. Er hat sich aber auch ein hochinteressantes Spaßobjekt ausgeguckt: mich nämlich. Er schaut die ganze Zeit nach hinten und starrt mich ungläubig staunend an. Er lacht auch immer wieder und äfft mein Chinesisch nach, wenn ich meinem Sitznachbarn eine Antwort gebe. Zweifellos handelt es sich bei dem Mann um einen der vielen ehrenamtlichen Laowaiforscher Chinas, also Leute, die das seltsame Verhalten von Ausländern akribisch studieren und auf die man allerorten trifft.

Allerdings macht dieser Forscher seinen Job nicht besonders. Nach einer Weile schläft er einfach ein, obwohl ich ihm eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken biete. Ich nutze die Gelegenheit, um heimlich ein Foto von seinem nackten, verschorften Knie zu machen, das er in den Gang gestreckt hat – denn auch ich habe eine anthropologische Ader. Eine halbe Stunde später wacht der Forscher wieder auf. Er dreht sich sofort zu mir um, deutet auf sein Knie und fragt: «Hast du vielleicht heimlich mein verschorftes Knie fotografiert, du Bastard?» Das ist jetzt peinlich. Wie hat er das überhaupt gemerkt? Lachend wiederholt der Mann seine Frage, und allmählich verstehe ich, was er wirklich meint, nämlich so was wie: «Hast du vielleicht Lust, mein verschorftes Knie zu fotografieren?» Ich bin erleichtert, dass wir uns nicht prügeln müssen, und natürlich lasse ich mir nicht anmerken, dass ich das Bild schon habe. Ich fotografiere grinsend das Knie nochmal. Dann zeige ich dem merkwürdigen Mann das Foto auf dem Display. Er kommentiert es mit einem meckernden Lachen. Wahrscheinlich notiert er sich dabei im Kopf: «Sind von Schorf fasziniert. Quantensprung in der Ausländerforschung.»


Als der Bus bei Streckenkilometer 701 die Provinzgrenze zwischen Anhui und Hubei überschreitet, bin es dann ich, der eine interessante Entdeckung macht. Auf den 701er-Kilometerstein (wahrscheinlich noch in Anhui) folgt Kilometer 693. Auch die Kilometer 694 bis 701 gibt es doppelt, bis es schließlich mit Kilometer 702 so weitergeht, als sei nichts gewesen. Offenbar ist die Verständigung der Straßenbauabteilungen zwischen den beiden Provinzen nicht die beste. Die falsche Zählung bedeutet aber auch, dass meine Nationalstraße nicht 5386 Kilometer lang ist, sondern mindestens 5394. Wenn ich noch ein paar Kilometer mehr entdecke, wird aus ihr vielleicht noch die längste Straße der Welt.

Am Nachmittag gegen fünf rollt unser kleiner Bus in Yingshan ein. Schon jetzt merke ich, dass es nicht einfach werden wird, mein neuestes Forschungsprojekt zu realisieren. Ich hatte mir eine kleine beschauliche Bergstadt vorgestellt, doch Yingshan ist noch chaotischer als die bisherigen chinesischen Städte. Es gibt keine Straßenbeschilderungen, noch nicht einmal auf Chinesisch. Dafür wimmelt es in den Straßen von Mopeds und Motorrädern, wie ich das sonst nur aus den Ländern Südostasiens kenne. Motorisierte Zweiräder sind aus den großen chinesischen Städten längst verbannt, um mehr Ordnung auf den Straßen zu bekommen. In Yingshan scheint man keinen Wert darauf zu legen. Stattdessen muss es hier ein Gesetz geben, das die Bürger auffordert, ohne Unterlass Krawall zu machen. Die Stadt steht unter Dauerbehupung, und alle zehn Minuten wird geschossen. Okay, das ist Feuerwerk, das die Chinesen übrigens auch erfunden haben, weil sie nichts mehr fürchten als eine stille Welt.


Ich checke im erstbesten Hotel ein. Es heißt «he Hotel of Chu Dong». Es hieß mal anders, aber das «T» ist aus der Leuchtschrift über dem Eingang gefallen. Drinnen sieht es aus wie in den Kulissen für einen französischen Existenzialistenfilm aus den fünfziger Jahren. Die Wände in den riesigen Zimmern sind mindestens vier Meter hoch. Dafür lösen sich die stockfleckigen Tapeten ab, und es riecht muffig. Die gepolsterten Stühle stecken noch in ihrer Transportfolie. Das ist hierzulande üblich, weil die Chinesen glauben, so könnten sie die ganzen Sachen irgendwann nochmal als neu verkaufen. Es steht auch ein Schreibtisch am Fenster, auf dem Hotelbriefpapier und Briefumschläge liegen. Abgesehen davon, dass ich gar nicht an den viel zu niedrigen Schreibtisch passe: Ist ein Schreibtisch mit Briefpapier und Umschlägen nicht so etwas wie der Blinddarm eines Hotelzimmers – ein überflüssiges Relikt aus grauer Hotelvorzeit –, weil niemand mehr Briefe schreibt, auch in China nicht?


Am nächsten Morgen will ich mich sofort auf die Suche nach dem Bi-Sheng-Museum machen. Ich finde auch sofort einen Neues-China-Buchladen, von dem jede chinesische Stadt mindestens einen hat. Der Laden ist düster, fast menschenleer und eine Enttäuschung. Es gibt noch nicht einmal einen Stadtplan von Yingshan, und als ich nach dem Bi-Sheng-Museum frage, weiß die Buchhändlerin nicht, wovon ich rede. So kann ich mir keine Verdienste um meine neue Heimat erwerben. Ich schwöre mir aber, dass ich nicht dasselbe wie in Anqing mache und auch hier einem Phantom hinterherjage. Ich werde einfach spazieren gehen und mir ansehen, was in einer chinesischen Kleinstadt so los ist.

Nicht allzu viel. Am braunen Xi-Shui-Fluss waten sehr braun gebrannte Männer in Badehosen durchs Wasser. Sie schieben Lastwagenreifenschläuche vor sich her, in denen sie irgendetwas aus den schmutzigen Fluten sammeln. Vielleicht sind sie auf Flusskrebse aus, das ist nicht zu erkennen, denn bisher hat noch keiner etwas gefangen. In den Straßen sitzen die Händler vor ihren Läden und warten stoisch auf Kunden, die Plastikwannen, Stahlrohre oder Obst und Gemüse kaufen wollen. In der riesigen Wartehalle des Busbahnhofs haben die Angestellten ein Netz gespannt und spielen Federball. Und vor der Halle kackt ein kleiner Junge gerade mitten auf die Straße.

Der einzige Park der Stadt liegt auf einem kleinen Hügel. Auf seiner Spitze steht eine Pagode mit zwei Türmen, die aus revolutionären Tagen stammen muss. Ein roter Stern krönt sie, zu ihren Füßen schneeweiße Büsten von Offizieren oder Generälen. Wahrscheinlich soll die Pagode an das 25. Korps der Roten Armee erinnern, das sich von Yingshan auf den Langen Marsch machte, auf dem Mao den nationalistischen Truppen Chiang Kai-sheks entkam. Der ganze Park ist in einem miserablen Zustand. Geländer und Mauern zerbröckeln, an der Pagode sind einige Scheiben eingeschmissen, und das Museum, das an die Soldaten erinnern soll, hat geschlossen. Der Eingang zur Pagode ist verrammelt, sodass ich nicht der heiligsten Touristenpflicht nachkommen kann, dem Auf-Türme-Klettern.


Dafür steige ich am Nachmittag auf einen der Berge, die Yingshan einrahmen, und finde hier auf halber Höhe versteckt hinter hohem Schilfgras einen kleinen Tempel. Es ist mehr ein ummauerter Garten, in dem unter einem Schutzdach ein Buddha auf der Seite liegt. Ich weiß von meinen Reisen durch Südostasien, dass liegende Buddhas entweder einfach schlafen oder gerade ins Nirwana eingehen. Ich habe aber vergessen, woran man das unterscheiden kann. Es ist sehr ruhig und friedlich in dem Garten, denn nach hier oben dringt kaum ein Geräusch aus der Stadt. Nur ringsherum im Wald schreien seltsame Vögel. Eine Sorte klingt wie ein pfeifender Wasserkessel, der allerdings den Dampf nicht ausstößt, sondern ansaugt. Dann folgt ein langer Triller. Eine andere Art gibt ein widerliches Lachen von sich. Und in einem mit Entengrütze bedeckten Teich schwimmen ein paar Schildkröten, die schnell wegtauchen, als ich mich über eine kleine Brücke dem Buddha nähere.

Sein Anblick macht mir mit einem Mal ein schlechtes Gewissen, und angesichts der Abgeschiedenheit des Ortes kommt mir eine Idee. Wie wäre es, wenn ich mich bei Buddha für meinen kulturrevolutionären Ausfall auf Jiu Hua Shan förmlich entschuldigte? Hier sieht es ja keiner. Außerdem liegen auf dem Altar ein paar nicht abgebrannte Räucherstäbchen, das kann kein Zufall sein. Schaden, denke ich, kann es nicht. Ich zünde also drei von den Stäbchen an, nehme sie zwischen meine gefalteten Hände und verbeuge mich je dreimal in jede Himmelsrichtung. Nach Süden tue ich es besonders schmissig. Sofort brennt irgendetwas teuflisch in meinem Nacken. Es muss die Spitze des glühenden Räucherstäbchens sein, die durch den Verbeugungsschwung dorthin geflogen ist. «Okay, Buddha», murmele ich. «Ich hab’s versucht. Aber das wird nichts mehr mit uns in diesem Leben.»

Beim Verlassen des Gartens höre ich etwas rascheln und sehe dann, wie eine lange, schwarzglänzende Schlange im Schilf verschwindet. Ich beschleunige meinen Schritt, da erklingt hinter mir ein lautes, widerliches Lachen. Einer dieser Vögel scheint sich über mich lustig zu machen. Ich bin froh, als ich wieder unten in der Stadt bin, unter Menschen. Ich winke sogar einer ondulierten Frau zu, die mir über die Straße hinweg den ersten halbwegs vollständigen englischen Satz in dieser Stadt zuruft: «Hello, come here!» Ich will der Aufforderung gerade Folge leisten, da merke ich, dass sie in der Tür eines Massagesalons steht.


Der zweite Mensch, der in Yingshan mit mir spricht, benutzt sogar zwei deutsche Wörter. Es ist ein sonnenbebrillter Mopedfahrer, der auf dem Bürgersteig fährt, weil die Straße wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Als er mich sieht, steigt er sofort ab und gibt mir die Hand wie einem alten Bekannten: «Aus welchem Land kommst du?» – «Tugendland», antworte ich wie immer ehrlich. Da reißt der Mann den rechten Arm hoch und ruft freudestrahlend: «Cheil Xitele.» Auch wenn man das kaum versteht, soll das «Heil Hitler» heißen. Ich zeige ihm instinktiv einen Vogel. Das ist vielleicht nicht besonders schlau, denn damit, so habe ich gelesen, bescheinigt man in China seinem Gegenüber besondere Intelligenz.

Der Hitlergruß kommt für mich nicht völlig aus blauem Himmel. In Peking bin ich letztes Jahr mal in eine Veranstaltung von Uniformfetischisten geraten, auf der neben Ausgehuniformen der Roten Armee, der NVA, der Bundeswehr und des KGB auch die der Waffen-SS und Wehrmacht getragen wurden. Eine gespenstische Versammlung, vor allem, weil gerade die deutschen Uniformen aus ihren Trägern Deutsche zu machen schienen.

Auch von anderer Seite hatte ich schon gehört, dass der berühmteste Deutsche aller Zeiten bei einigen Chinesen in hohem Ansehen steht. Woher diese Faszination kommt, ist allerdings nicht klar. Ich hoffe aber sehr, dass man das «Heil Hitler»-Gebrüll nur praktiziert, weil man es absurd und lustig findet.

Trotzdem habe ich für heute genug. Eine Schlange, ein glühendes Räucherstäbchen und jetzt das! Wenn ich Hitlergrüßer sehen will, dann fahre ich nach Mecklenburg-Vorpommern und nicht ins Landesinnere von China. Und auch wenn ich offiziell gar nicht danach gesucht habe, bin ich doch ein wenig enttäuscht, weil ich im ganzen Ort keine Spur von dem Drucker Bi Sheng gefunden habe. Aber was hatte ich mir auch erhofft? Dass ich auf der Straße einen Brief von irgendwelchen Portugiesen auflese, in dem steht: «Lieber Herr Bi Sheng, wir machen Ihnen ein Angebot, das Sie nicht abschlagen sollten»? Na, wenigstens hätten sie ihm ein Denkmal errichten oder eine Karaokebar nach ihm benennen können.


Nach diesem Tag kann ich wirklich etwas Entspannung vertragen. Ich habe in meinem Hotel einen Massagesalon gesehen und überlege, ob ich mich da mal richtig durchkneten lasse. Allerdings ist der Besuch einer Massageeinrichtung in China auch mit einem gewissen Risiko verbunden. Ein chinesischer Freund erzählte mir die Geschichte eines Arbeitskollegen, der sich nach dem Besuch eines solchen Etablissements für ein halbes Jahr im Gefängnis wiederfand. Natürlich war der Salon – wie viele Salons in China – nichts anderes als ein Puff, und der Kollege hatte sich von der Masseuse mehr als nur massieren lassen. Das ist in China zwar verboten, aber durchaus nicht unüblich und in den meisten Fällen folgenlos, wenn nicht gerade die Polizei vorbeikommt. Andererseits sind durchaus nicht alle Massagesalons in China Puffs, und eine gute chinesische Massage ist nach dem Segelwagen, einem von Wind angetriebenen Auto, vielleicht das Zweitbeste, was die Chinesen je erfunden haben.

Die einzige Möglichkeit herauszufinden, um was für eine Art Salon es sich bei dem in meinem Hotel handelt, ist hineinzugehen. Das Risiko, so rede ich mir gut zu, hält sich in Grenzen. Die Masseurin wird es sicher nicht schaffen, mich zu vergewaltigen, ergo kann ich nicht im Gefängnis landen. Als ich die Massageabteilung im vierten Stock betrete, bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher. Ein junger Typ mit einem Brilli im Ohr steht an der Rezeption, und zwei Mädchen räkeln sich in sofagroßen Massagesesseln. Eine ist sehr dünn und lieblich, die andere so kräftig gebaut wie eine angehende Sumoringerin. Doch, die könnte alles mit mir machen, denke ich, unter ihren Händen könnte ich sogar sterben.

Als Miss Sumo mich sieht, macht sie einen kleinen Kiekser und springt wie elektrisiert aus ihrem Sessel: «Ich will, ich will. Okay?» Ich weiß auch nicht, warum, aber ich höre meinen Mund sagen: «Xing!» Das heißt so viel wie «in Ordnung». Auf dem Weg zum Massage-Separee mustere ich Miss Sumo genauer. Sie hat ein schlichtes, von einer Ponyfrisur eingerahmtes Gesicht und einen Riesenbusen und trägt zur olivfarbenen Camouflage-Hose ein ebensolches T-Shirt, das ihre mächtigen Oberarme voll zur Geltung kommen lässt. Hm. Es sieht ganz so aus, als habe mich die Armee der Liebe doch noch gekriegt.

Auch die rote Puffbeleuchtung an der Decke des Separees deutet darauf hin. Um meine Nervosität zu überspielen, frage ich Frau Sumo nach ihrem Namen. Mit einem Ruck zieht sie die dunklen Vorhänge vors Fenster und sagt mit süßer Stimme: «Dongmei.» Ich setze mich auf eine der Massageliegen, ziehe erst einmal Schuhe und Strümpfe aus und bin dann etwas unschlüssig, was ich tun soll. In einem seriösen Massagesalon bekäme ich jetzt eine Art weiten Schlafanzug, durch den es sich seriös massieren lässt, doch Dongmei macht keine Anstalten, mir andere Kleidung zu bringen. Also lege ich mich in voller Montur auf die Liege, sicher ist sicher. Dongmei holt mir noch einen Tee und sagt leise in die Stille: «Du bist mein erster Ausländer.» Dann beugt sie sich über mich und legt los.

Ich merke sofort, dass sie es nicht kann. Sie presst ein bisschen am Kopf und drückt lahm auf Arme und Beine. Das ist zwar nicht sehr angenehm, doch besser zu ertragen als der schmachtende Blick, mit dem sie mich ansieht. Dazwischen drückt sie auch noch mit dem Zeigefinger ganz unvermittelt auf meine Nasenspitze und sagt neckisch: «Ich mag deine große Nase!» Dass große Nasen in ganz Ostasien beliebt sind, hat sich wohl auch schon im Westen rumgesprochen. Wie verrückt viele Chinesen nach Großnäsigen sind, vielleicht noch nicht. Einer auch nicht schlecht ausgestatteten deutschen Freundin von mir machte man einmal das Kompliment: «Dein Gesicht ist so wunderbar dreidimensional.»

Ganz so nasenverrückt ist Dongmei offenbar nicht, denn nach dem Nasetippen muss ich mich auf den Bauch legen. Nun steigt Dongmei auf meine Oberschenkel und versucht, meinen Rücken zu dehnen, indem sie meine Arme nach hinten zieht. Das gehört tatsächlich zu einer chinesischen Massage. Nicht dazu gehört, dem Massierten die Oberschenkel zu zerquetschen und die Arme halb aus den Gelenken zu wuchten. Anschließend trommelt sie noch ein bisschen auf meinem Rücken rum, dann scheint die Massage beendet. Dongmei macht jedenfalls nichts mehr. Dabei sind erst zehn Minuten vergangen, und wir hatten fünfzig Minuten ausgemacht. «Ist die Massage fertig?», frage ich so harmlos wie möglich. «Massage willst du?», fragt sie verwundert zurück, setzt sich wieder an das Kopfende und beginnt mit der Rumdrückerei von vorn. Dabei seufzt sie ein paar Vokabeln, die ich nicht verstehe, und wahrscheinlich ist das auch besser. Ich überlege die ganze Zeit, wie ich diese Drückerei zu einem guten Ende bringe, bevor sie wieder auf meinen Oberschenkeln sitzt und wuchtet. «Okay, Dongmei», sage ich entschlossen in die Stille, «das war’s.» Sie seufzt noch einmal tief und sieht mich mit großen Augen an. «Können wir hier noch ein bisschen sitzen bleiben?», fragt sie schließlich kleinlaut. Ich verstehe. Es sind erst fünfundzwanzig Minuten rum, und wenn wir jetzt nach draußen gehen, denkt Brilli an der Rezeption, ich sei nicht zufrieden. Also sitzen wir – ich auf meiner Massageliege, Dongmei auf der Liege gegenüber –, und keiner weiß, was er jetzt machen soll. «Magst du chinesische Mädchen?», fragt Dongmei plötzlich. – «Sicher, meine Frau ist Chinesin.» Ich hole meine Brieftasche raus und zeige ihr das Foto. «Sie ist sehr schön!», ruft Dongmei aus und schlägt sich die Hände verlegen vors Gesicht. Dabei sieht sie gar nicht mehr zum Fürchten aus, sondern nur noch wie ein sanftes, trauriges, etwas zu groß geratenes Provinzmädchen.

Ich will sie irgendwie trösten und sage: «Du bist auch schön.» – «Nein», protestiert sie und greift nach einem Kissen, «ich bin fett.» Sie presst sich das Kissen vor den Bauch und starrt an mir vorbei ins Leere. Ich würde jetzt wirklich gerne gehen, aber ich kann ja nicht, weil draußen Brilli lauert. Also sitze ich weiter da wie festgenagelt, starre die Wand an, grinse ab und zu mal zu Dongmei hinüber und schweige, schweige, schweige. Dongmei schweigt auch. Schließlich, nach hundertzwanzig Ewigkeiten, mache ich der Pein ein Ende: «Dongmei, ich will bezahlen.» Sie nickt sofort, und gemeinsam gehen wir zur Rezeption. Ich zahle umgerechnet drei Euro achtzig, und Brilli fragt, ob ich zufrieden war. «Ja», sage ich, «die Massage war ausgezeichnet.» Ich fühle mich tatsächlich ganz erleichtert und entspannt, fast wie neugeboren. Denn das Wichtigste ist doch: An mir ist noch alles dran, und ich schmore nicht im Gefängnis.


Ich habe plötzlich sehr großen Hunger. Also gehe ich auf den Nachtmarkt an der Kreuzung vor dem Hotel. Ich bestelle mir eine Nudelsuppe und gegrillte Fische. Ich löffele gerade die Suppe in mich hinein und frage mich dabei, wie wohl normalerweise eine Massagesession von Dongmei aussieht, da knufft mich jemand in die Seite. Es ist meine üppig geformte Tischnachbarin, die mich auch gleich anspricht: «Ausländer, erkennst du mich wieder?» Ich überlege. Wie viele üppig geformte Frauen mit ondulierten und gefärbten Haaren kenne ich in der Provinz Hubei? Natürlich, das muss die Hello-Masseuse vom Nachmittag sein. Sie hat ein junges Mädchen im Schlepptau, das mit an ihrem Tisch sitzt und ohne Unterbrechung telefoniert. Sie ist höchstens siebzehn oder achtzehn, hat ein einfältiges Gesicht, aber eine teure Handtasche. «Klar kenne ich dich», sage ich. «Von da oben.» Die Antwort freut die Hello-Ondulierte, und sie lächelt mich breit an. Dann deutet sie mit einer Kopfbewegung auf das Mädchen und zwinkert mehrmals heftig. Heißen soll das wohl: «Für das entsprechende Kleingeld kannste die haben.» Ich bin nun doch etwas erschüttert. Mensch, Yingshaner, in eurer Stadt wurde der Druck erfunden und nicht der Puff.