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Ein weiteres Gespräch mit dem Ausguckposten
NACH DEM ABENDESSEN, einem vorzüglichen Krabbentopf, schickte Desperandum seinen Kajütenjungen Meggle zu mir und ließ mir ausrichten, ich möchte zu seiner Kajüte kommen. Ich ging hin; Desperandum saß in seinem Drehstuhl. Der Schreibtisch vor ihm war mit verstreuten Papieren übersät. Darüber hing eine einzelne Tranlampe; sie warf bizarre Schatten über Desperandums mächtiges, bärtiges Gesicht.
Desperandum lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. »Sie haben kürzlich einiges Interesse an der Wissenschaft gezeigt, Newhouse«, sagte er ohne Einleitung, »also habe ich gedacht, ich erkläre Ihnen ganz genau, was ich heute getan habe und was ich bewiesen habe.«
»Das ist sehr zuvorkommend, Käpt'n.«
»Nehmen wir die Tatsachen, und untersuchen wir sie ganz sachlich«, sagte Desperandum in einem Tonfall, der so gespielt leidenschaftslos war, daß Mißtrauen sich in mir breitmachte. »Die Leine blieb in unterschiedlichen Tiefen hängen, dann wurde sie auf dem Weg nach unten abgetrennt. Was schließen Sie daraus?«
»Verspieltheit.«
Desperandum blickte mich starr an. »Ich habe einige Berechnungen durchgeführt«, sagte er, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. Er zeigte auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. Ich schaute sie mir an. »Berechnungen, die auf den Eigenschaften granulierten Gesteins beruhen. Sehen Sie, ich habe das spezifische Gewicht des Felsgesteins genommen, dazu die elektrostatische und chemische Bindung als Funktion des Oberflächenbereichs. Diese Daten habe ich in eine wohlbekannte geologische Formel für die Bildung metamorphischen Felsens eingesetzt.«
Ich schaute weiter auf die Papiere auf dem Schreibtisch. Es war ein wenig schwierig, die Daten auf dem Papier zu erkennen, aber ich versuchte es. »Heraus kommt, daß die Dynamik des Staubmeeres komplexer ist, als wir es bisher vermutet haben«, fuhr Desperandum gesprächig fort. »Unter bestimmten Bedingungen, die hier an der Oberfläche nicht hergestellt werden können, wird der Staub unter Druck zu langen horizontalen Streifen flachen Felsens verschmolzen. Diese Streifen sind ständig in Bewegung, verkleinern sich; sie sind äußerst instabil. Aber sie sind stabil genug, eine Lotleine aufzuhalten, und ihre Kanten sind dünn und scharf wie Feuerstein. Sie können schneiden.«
»Das war es also«, sagte ich. Mir war gerade klargeworden, daß die Papiere, die ich die ganze Zeit untersuchte, tatsächlich mit Zahlen bedeckt waren. Aber es gab keine Anzeichen für irgendwelche Berechnungen. Zwar entdeckte ich drei oder vier wahllos hingeschriebene Multiplikationszeichen und zwei große Integrale, aber sie hatten nichts mit den eigentlichen Zahlen zu tun. Es gab keine Summen. Nur Zahlen. Auch sehr große Zahlen, Zahlen in den Millionen und Milliarden, als gewännen die Zahlen zunehmende Bedeutung und einen stärkeren Bezug zur Wirklichkeit, wenn man ihre Stellenzahl vermehrte. Die anderen Papiere waren genauso. Sinn- und wahllose Kritzeleien.
»Ja, so ist es«, sagte Desperandum freundlich. »Es gibt auch noch eine Bestätigung dafür. Es ist leicht einzusehen, daß solche Barrieren außergewöhnlich starke Strömungen verursachen können. Stellen Sie sich beispielsweise vor, daß eine Felsbarriere, die zwei unterschiedliche Temperaturbereiche trennt, plötzlich verschwindet. Es würde sofort zu Turbulenzen kommen. Vielleicht entstände dabei ein Sturm.«
»Sehr überzeugend«, sagte ich. Unsere Blicke trafen sich in einem schnellen Aufblitzen gegenseitigen Argwohns.
Später in dieser Nacht, viel später, wachte ich von einem leisen Auftreten auf der Treppe auf. Nur ein Wesen konnte so leise gehen: Dalusa.
Die Nacht war fast völlig dunkel, so dunkel, daß seltsam verschwommene Flecken, purpurn und kastanienbraun, nebelhaft durch mein Blickfeld schwebten. Als ich von meinem Matratzenlager auf dem Küchenboden nach oben durch die Luke blickte, konnte ich einen einzelnen schwachen, staubgetrübten Stern erkennen.
Es war eine kalte Nacht auf dem Staubmeer. Der Staub besaß nicht die wärmespeichernden, klimamäßigenden Eigenschaften des Wassers. Ich schlief auf meiner Matratze, eine Decke aus schwarzen und weißen Sechsecken bis ans Kinn gezogen.
»Dalusa«, sagte ich. In der Stille wirkte meine Stimme unnatürlich laut.
»Ich wollte mich unterhalten«, flüsterte sie. Ich hörte, wie sie auf mich zutrat. Waren ihre Augen im Dunkeln besser als meine? Vielleicht konnte sie die infraroten Wellen sehen, die ich ausstrahlte, oder ihr reichte das Licht eines einzigen Sterns. Jedenfalls kam sie unbeirrt näher, zog den Rand der Decke sorgfältig um mein Kinn und legte ihre Wange auf meine Brust. Die Decke trennte uns, aber ich konnte ihre Körperwärme und ihr Gewicht spüren. Sie war so leicht wie ein Kind.
Mein Puls schlug schneller; ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Was hältst du von den Spielereien des Käpt'n?«
»Das ist nichts Neues«, sagte sie leise und schmiegte sich noch enger an mich. Sie legte ihre Hände auf meine Oberarme, die unter der Decke waren. Ich spürte ein plötzliches Bedürfnis nach einem Schuß Flackern. Ich versuchte, es zu vergessen.
»Wie meinst du das?«
»Ich habe drei Fahrten mit dem Käpt'n gemacht«, sagte sie. »In der ganzen Zeit habe ich vielleicht zwanzig Tiefenmessungen gesehen, und nie hatte er Erfolg. Manchmal akzeptiert er das erste Ergebnis. Manchmal fährt er mit den Messungen fort. Es gibt nie zwei gleiche Situationen.«
»Du meinst, das hat er alles schon einmal gemacht?«
»Immer und immer wieder. Jedesmal mit einer neuen Crew, außer mir.«
Ich lachte in die Dunkelheit hinein. Dalusa bewegte sich auf mir. Die ganze Situation war von solch tragischer Komik, daß es nur zwei menschliche Reaktionen darauf gab: lachen oder sich betrinken. Es war zu spät in der Nacht, um zu trinken. »Warum tut er das? Warum verbeißt er sich darin?«
Dalusa bewegte sich, und ohne es zu sehen, konnte ich spüren, daß sich ihr Gesicht wenige Zentimeter über dem meinen befand. Ihr warmer Atem, der schwach nach fremdartigen Gewürzen roch, berührte meine Nase und meinen Mund. »Ist dir je der Gedanke gekommen, daß Kapitän Desperandum geisteskrank ist?«
Ein übermächtiges Gefühl des Deja-vu machte sich in mir breit. »Sag nur nicht, er sei davon besessen«, sagte ich flüsternd.
»Aber es ist so«, sagte Dalusa freundlich. »Du weißt doch, daß in sehr alten Menschen der Drang zu sterben allmählich immer stärker wird. Der Tod kommt auf Wegen, die niemand versteht. Aber ich glaube, man sagt, man kann leben, wenn man einen Sinn sieht, ein Ziel, etwas, das einem soviel bedeutet, daß jede Körperzelle davon weiß und seinetwegen am Leben bleibt.«
Geistesabwesend versuchte ich, sie zu umarmen, wobei ich die Decke zwischen uns behielt. Aber ich hatte vergessen, daß sich ihre Flügel seitlich an ihrem Rumpf befanden, von den Schultern bis zur Taille hinab. Ich richtete es so ein, daß meine Hände auf ihrem Gesäß lagen.
Unbeirrt fuhr Dalusa fort. »Genau das will Desperandum. Er will leben, immer weiterleben. Aber das Bewußtsein ist trickreich. Wenn man gegen sich selbst Krieg führt, kann man nur verlieren.«
»Ich habe volles Vertrauen zum Kapitän«, sagte ich. Ich war sicher, daß er einen Weg finden würde, sich selbst umzubringen.
Langsam hob ich meine Knie, und Dalusa schmiegte sich an meine Leistengegend. Sie legte ihr spitzes Kinn auf meine Brust. »Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch.« Es war noch immer die Wahrheit.
Einige Sekunden schwiegen wir. »Ich kann hören, wie sich dein Blut bewegt«, flüsterte Dalusa.
Es folgten einige Minuten äußerster Frustration. Danach fühlte ich, daß ich den Höhepunkt eines neuen Gefühls erreicht hatte, eines Gefühls, das mir bisher unbekannt war. Es war ein grotesker Zwitter aus Begierde und Zorn, der seinen Gipfelpunkt im Schmerz fand. Dalusas plötzliches wimmerndes Aufkeuchen, als ich ihren Ellbogen in einen schraubstockgleichen Griff nahm, war Musik in meinen Ohren.
Schließlich traf mich die Erkenntnis meines Sadismus schlagartig, und ich ließ ihren Arm los.
Ganz nahe bei meinem Ohr sog Dalusa röchelnd den Atem ein. Ich knirschte mit den Zähnen. »Es war unbefriedigend, kein Höhepunkt …«
Meine klagenden Worte wurden plötzlich unterbrochen, als Dalusa mich in den Magen schlug. Ihre geballte Faust trug die Kraft ihrer Schultern und Brustmuskeln; sie traf so hart, daß ein leuchtendroter Blitz vor meinen Augen auftauchte und die Luft aus meinen Lungen entwich.
»Besser?« fragte Dalusa freundlich.
Ich ballte die Faust, um ihr die Zähne einzuschlagen, aber plötzlich merkte ich, daß es tatsächlich besser war. Das war mein erster Einblick in die Freuden des Schmerzes.
»Du hast mir weh getan«, sagte ich.
»Das tut mir leid«, erwiderte sie zerknirscht. »Du hast damit angefangen; ich dachte, das sei es, was du willst. Sei bitte nicht böse.« Ich merkte an ihrer verkrampften Haltung, wie elend sie sich fühlte.
»Ich bin nicht wie du«, sagte ich nach langem Schweigen. »Du kannst nicht erwarten, daß ich Schmerzen wie du erleide. Ich kann nicht für dich bluten, Dalusa. Ich kann nicht - und ich will nicht. Wenn du dir das nicht klarmachst, sollten wir die ganze Geschichte vergessen.«
»Wir werden sehen, wie es sein wird«, flüsterte sie, und ihr dichtes Haar fiel sanft über mein Gesicht.