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Ein Gespräch mit dem Ausguckposten
IM MORGENGRAUEN SETZTEN WIR SEGEL und nahmen Kurs auf die Krillgründe nahe der Seemöwen-Halbinsel. Das Frühstück bestand aus Haferschleim und erforderte meinerseits wenig Mühe; der Kapitän und seine Maate aßen Gebäck und geräucherten Tintenfisch.
Die Mannschaft aß auf Deck in einem langgestreckten Kombüsenzelt. Selbst ohne Maske ist der nullaquanische Matrose, wenn er auf See ist, ungewöhnlich wortkarg. Ich bemerkte, daß Calothrick in der Nacht seine Maske bemalt hatte; jetzt trug er auf jeder Wange einen blauen gezackten Blitz. Das Zeichen war einzigartig, kein eingeborener Nullaquaner hatte jemals einen Blitz gesehen.
Nach einigem Nachdenken entschied ich mich für ein gebrochenes Herz als mein eigenes Motiv.
Die Mittagsmahlzeit erwies sich als schwieriger. Mein Vorgänger hatte mir arg zugerichtete Utensilien hinterlassen, große Töpfe und Schüsseln von zweifelhafter Sauberkeit und ein Regal voll unbeschrifteter Gewürze. Ich bin stolz auf meine Beherrschung der gastronomischen Kunst,, aber diese primitiven Bedingungen behinderten mich doch sehr
ich ließ Meggle, den Kajütenjungen, die Töpfe säubern, während ich die Gewürze untersuchte. Eins hatte einen scharfen metallischen Geschmack, der an rostiges Eisen erinnerte; das zweite besaß entfernte Ähnlichkeit mit Meerrettich; ein drittes entsprach unserem Senf, hatte aber einen bitteren Nachgeschmack. Das vierte war Salz. Was das fünfte war, habe ich nie herausgefunden. Ein einziger Hauch überzeugte mich, daß es verdorben war.
Ich zog eine Kiste Schiffszwieback aus dem Vorratsraum nebenan und schaffte es, ihn schmackhaft zu machen. Es war eine heldenhafte Aufgabe, aber ich wurde durch die ungeteilte Aufmerksamkeit belohnt, die die Walfänger ihrem Essen zollten. Ohne ihre Masken sahen sie alle gleich aus. Bis auf gelegentliche Rülpser schwiegen sie so verbissen, daß ich mich fragte, ob sie eine Meuterei planten.
Sie schienen ein mürrischer Haufen zu sein. Alle trugen khakibraune oder blaue Schlodderhosen und Kordhemden. Ihre Arme waren gebräunt, ihre Gesichter blaß mit schwachen Kerben an den Seiten, wo die Staubmasken anlagen. Sechs der Männer hatten sich von den Schläfen über den Kopf einen schmalen Streifen ausrasiert, um einen dichteren Sitz zu erreichen. Die Crew war bis zum letzten Mann mit Symbolhalsbändern geschmückt, dünnen Metallketten, an denen eines oder mehr Symbole der Teile Gottes klimperten; denn nach dem merkwürdigen nullaquanischen Glauben war das Höchste, was ein Mensch erwarten konnte, die Aufmerksamkeit eines geringen Bruchteils der Gottheit. Wachstum, Glück, Liebe, Einfluß - alle normalen Seemannssymbole waren vertreten, einige auch auf Ringen und Armreifen. Die Schmuckstücke selbst wurden nicht als magisch getrachtet, sondern dienten nur als ein Brennpunkt für Gebete. Obwohl ich nicht religiös war, besaß ich selbst einen Platin-Schöpfungsring - ein Künstlersymbol.
Die Männer aßen mechanisch, die Gesichter leidenschaftslos, als wären sie es nicht gewohnt, Gefühle auszudrücken oder als wären die blassen Gesichter nur eine weitere Maske, wie von unsichtbaren Bändern gehalten.
Sie aßen an einem langen, kunststoffbeschichteten Tisch, der mit dem Deck verschraubt war. Am Ende des Zelts stand ein zweiter Tisch wie der Querbalken eines T. Auf ihm stand das Essen. Zwischen den beiden Tischen war gerade genug Platz für die Männer, ihre Plastikteller zu nehmen und sich selbst zu bedienen.
Calothrick, des monotonen Mahlens der Kiefer müde, versuchte mit dem ergrauten Veteranen neben sich ein Gespräch anzufangen. »Schönes Wetter heute«, sagte er.
Alle Männer hörten zu essen auf. Die Gabel in der Hand starrten sie auf den unglückseligen Calothrick, wobei sie ihm das gleiche klinische Interesse widmeten, das ein Arzt vielleicht für einen Furunkel aufbringt. Schließlich, als sie aus seinem verlegenen Schweigen folgerten, daß er nichts mehr zu sagen hatte, aßen sie weiter.
Es war ohnehin eine unglückliche Gesprächseröffnung gewesen. In Nullaqua gab es kein Wetter. Nur Klima.
Meine erste Begegnung mit der fremdartigen Frau, Dalusa, hatte ich bei der letzten Mahlzeit des Tages. Die Sonne war schon hinter dem Westrand des Nullaqua-Kraters gesunken, und der Abend wurde durch den staubgefilterten rosigen Schimmer erhellt, der von den Klippen vierhundert Meilen östlich reflektiert wurde. Ich arbeitete in der Küche, als sie durch die Luke kam.
Dalusa war gut einen Meter fünfzig groß. Schwarze, pelzbedeckte Fledermausschwingen an knöchernen Streben verlängerter Mittelhandknochen und Fingerglieder, legten sich um ihren Körper. Sie hatte an jeder Hand zehn Finger; fünf trugen die Schwingen, die übrigen waren frei und ähnelten bis hin zu dem roten Lack auf den Fingernägeln einer menschlichen Hand. Ihre Arme waren von ungewöhnlicher Länge; sie hätte bis zu ihren Knien hinabgereicht, hätte sie sie nicht gewohnheitsmäßig in den Ellbogen gebeugt und die Hände vor der Brust verschränkt.
Ich spürte momentane Überraschung und war nicht in der Lage zu sagen, ob sie eine Fledermaus war, die zu einer Frau umgewandelt worden war, oder eine Frau, die eine Fledermaus zu sein versuchte.
Dalusas Gesicht war von einer verfeinerten gemeißelten Schönheit, die nur von einer chirurgischen Veränderung stammen konnte. Ein Künstler hatte das Skalpell geführt.
Sie trug ein lockeres, extrem leichtes weißes Gewand, eigentlich nur eine Art milchig-trüber Schleier, der von ihren muskulösen Schultern bis auf die Knie hinunterhing. Ihre Beine stimmten irgendwie nicht. Ihr Gang war ein wenig schief, fast ein Watscheln. Es schien offenkundig, daß sie mit Beinen geboren worden war, die sich von ihren jetzigen pseudomenschlichen Gliedmaßen radikal unterschieden.
Dalusa hatte schulterlanges schwarzes Haar, das von dem gleichen trüben Glanz wie der samtene Pelz auf ihren Schwingen war.
Sie sprach. Ihre Stimme war ein leiser, melodischer Bariton, so erstaunlich in seiner zarten klanglichen Andersartigkeit, daß ich beinahe nicht auf ihre Worte achtete.
»Sind Sie der Koch?«
»Jawohl, Madam«, sagte ich nach einer Pause. »John Newhouse aus Venedig, Erde. Was kann ich für Sie tun?«
»Jonnuhaus?« wiederholte sie blinzelnd.
»Jawohl.«
»Mein Name ist Dalusa, ich bin der Ausguckposten. Möchten Sie meine Hand schütteln?«
Ich schüttelte ihre Hand. Ihr Griff war schwach und ihre Hand außergewöhnlich heiß, aber nicht feucht. Offenbar war ihre Körpertemperatur um einige Grade höher als die eines Menschen.
»Sie reden ja«, sagte sie, »das ist schön. Von den Matrosen spricht keiner mit mir - eine Art Brauchtum, denke ich. Ich vermute, sie glauben, ich bedeute Unglück.«
»Wie kurzsichtig von ihnen«, sagte ich.
»Und Kapitän Desperandum ist sehr verschlossen. Sagten Sie nicht, Sie kämen von der Erde?«
»Ja.«
»Das ist die Geburtsstätte der Menschheit, nicht wahr? Sie und ich, wir werden einmal darüber sprechen müssen. Ich bin sehr daran interessiert. Ich wollte Ihnen eigentlich sagen, daß ich die Erlaubnis habe, meine eigenen Mahlzeiten zuzubereiten. Ich fürchte, ich muß einen Teil Ihrer Küche in Anspruch nehmen.«
»Vielleicht mögen Sie meine Art zu kochen nicht. Ich kenne auch andere Arten.«
»O nein, nein, das ist es nicht. Aber es gibt Spurenelemente … und ich bin gegen Proteine in der Nahrung allergisch. Und dann sind da noch Bakterien. Ich muß viele Vorschriftsmaßnahmen treffen.«
»Dann werden Sie wohl oft hier sein.«
»Ja. Ich bewahre meine Nahrungsmittel in dieser Kiste auf.« Mit ihren unnatürlich verlängerten Armen wies sie auf einen blauen, von Metallbändern umgebenen Behälter. Er stand unter einem Eisentisch, der am Küchenboden festgeschraubt war.
Ich prüfte ein halbes Dutzend aufgehender Törtchen im Herd, während die fremdartige Frau ihre Kiste hervorzog und öffnete. Sie nahm einen Messingtopf und besprühte ihn dann mit antibiotischem Allzweck-Aerosol.
»Ist das Ihre erste Walfängerreise?« fragte ich.
Sie schüttelte ein halbes Dutzend biskuitähnlicher Fleischscheiben in den Topf, streute Gewürze darüber und setzte den Topf auf die Waltranpfanne. Ich betätigte ein paarmal die Handpumpe, um sicherzugehen, daß sie gleichmäßig brannte.
»O nein; das ist meine dritte Reise mit Kapitän Desperandum. Nach dieser Fahrt werde ich wohl genug Geld zusammengespart haben, um den Planeten zu verlassen.«
»Wollen Sie ihn unbedingt verlassen?«
»Unbedingt!«
»Warum sind Sie dann überhaupt hierhergekommen?«
»Freunde haben mich mitgenommen. Zumindest dachte ich, sie seien meine Freunde. Aber sie haben mich hier zurückgelassen … Ich habe sie nicht verstanden. Vielleicht konnte ich es nicht.«
Ein schwacher, beißender Hauch bratenden fremdartigen Fleischs kam vom Herd. »Eine grundlegende psychologische Dichotomie«, vermutete ich.
»Nein. Ich bin sicher, das kann es nicht sein. Nein, mit meinen eigenen Leuten war es noch schlimmer. Ich habe nie zu ihnen gepaßt, bin nie akzeptiert worden. Ich war nie kikiye'.« Ihr veränderter Mund machte verzerrte Bewegungen, um das Wort auszusprechen.
»Deshalb haben Sie sich also verändern lassen.«
»Was dagegen?«
»Ganz und gar nicht. Sie sind also hier zurückgeblieben, brauchen Geld und haben bei Desperandum angeheuert?«
»So ist es.« Sie nahm einen biegsamen Spachtel aus der Schublade, besprühte ihn mit Aerosol und wendete die Fleischscheiben. »Sonst wollte mich niemand nehmen.«
»Und Desperandum nimmt's nicht so genau.«
»Richtig. Er ist natürlich ein Fremder, und er ist auch sehr alt. Glaube ich.«
Das waren schlechte Neuigkeiten. Es war nicht abzusehen, welches bizarre Verhalten ich von Desperandum zu erwarten hatte. Menschen werden gerissen und ihre Motive seltsam, wenn die unterbewußte Todessehnsucht sich als verräterisch herausstellt.
»Er scheint ein ganz anständiger Kerl zu sein«, sagte ich und lächelte. »Zumindest hat er einigen Geschmack bewiesen, indem er Sie angeheuert hat.«
»Sie sind sehr freundlich.« Sie nahm einen schmutzigen Teller aus dem Regal, schabte ihn mit grobem Sand aus und sterilisierte ihn dann. Sie hob den Topf vom Feuer und spießte ein Stück Fleisch mit einer langen Gabel auf. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich hier esse?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Die Männer im Kombüsenzelt mögen es nicht, wenn ich mit ihnen esse.«
»Ich würde meinen, Ihre Gesellschaft sei ein großer Vorzug.«
Sie legte ihre Gabel beiseite. »Mr. Jonnuhaus …«
»John.«
»John, ich zeige dir etwas.«
Sie streckte ihre rechte Hand aus. Ich schaute sie an. Ein roter Hautausschlag zog sich über ihre Finger. Ich griff nach ihrem Arm. »Du hast dich verbrannt.«
»Nein! Faß mich nicht an!« Sie sprang zurück und entfaltete rasch ihre Schwingen. »Siehst du, du hast meine Hand geschüttelt. Deine Hand war ein wenig feucht, und sie trägt Enzyme, Fette, Mikroorganismen. Ich bin allergisch, John.«
»Ich habe dich verletzt.«
»Es ist nichts. In einer Stunde wird es weg sein. Aber verstehst du jetzt, warum die Matrosen …? Ich kann nie jemanden berühren. Oder jemanden erlauben, mich zu berühren.«
Einige Sekunden lang schwieg ich. »Das ist ein Unglück«, sagte ich schließlich. Beim Anblick des Hautausschlags breitete sich ein Übelkeit erregendes Gefühl in mir aus, das sich verdoppelte und verdreifachte, als ich ihre Erklärung hörte.
Sie faltete ihre Schwingen wieder zusammen, so daß sie wie eine Toga in glatten Falten herabfiel, und richtete sich schwerfällig zu voller Größe auf. »Ich weiß, daß es zu anderen Dingen führt, wenn ein Mann und eine Frau sich berühren. Diese Dinge würden mich umbringen.«
Meine Übelkeit nahm zu. Ich fühlte mich ein wenig schwach. Ich hatte mich von Dalusa nicht wirklich angezogen gefühlt, als ich sie das erste Mal sah. Aber als ich von ihrer Unerreichbarkeit erfuhr, spürte ich einen plötzlichen Taumel der Begierde.
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Ich mußte dir das sagen, John, aber ich hoffe, wir werden trotzdem gute Freunde sein.«
»Dafür sehe ich kein Hindernis«, sagte ich bedächtig.
Sie lächelte. Dann nahm sie mit ihren rotlackierten Fingernägeln eine Scheibe Fleisch von ihrem Teller und aß genüßlich davon.