7
Arnar
DIE LUNGLANCE MUSSTE GEDOCKT UND ÜBERHOLT werden. Kapitän Desperandum ließ Kurs auf die Drudenfuß-Inseln nehmen. Nullaquas drittgrößte Ansiedlung, Arnar, war auf der größten dieser Inseln erbaut.
Es kostete drei Tage, uns in den Hafen zu schleppen. Nachdem er mit verschiedenen Schiffsbaufirmen telefoniert und alles zu seiner Zufriedenheit in die Wege geleitet hatte, versammelte Desperandum die Crew und gab uns allen Landgang. Er selbst blieb an Bord.
Die Männer trampelten über die Gangway und die verschrammten Metalldocks zu einem der riesigen Aufzüge an der Arnar-Felswand. Die mächtige Kabine lief auf stromführenden Metallschienen zu der Stadt über uns. Mürrisch füllten die Männer den Aufzug und schlossen die Sicherheitsschranke hinter sich. Ich war unter ihnen, ebenso Calothrick. Dalusa war nirgendwo zu sehen; wahrscheinlich flog sie auf Aufwinden zu der Stadt hinauf. In den letzten drei Tagen hatte ich nicht mehr mit Dalusa gesprochen. Sie hatte etwas von ihrer konzentrierten Nahrung aus der Küche geholt und sich in ihr Zelt auf dem Deck zurückgezogen. Ich war zu ihr gegangen, um mit ihr zu sprechen, aber sie hatte die Maske aufbehalten, als ich ihr Zelt betrat. Es war unmöglich, auch nur eine einseitige Unterhaltung aufrechtzuerhalten, wenn sie mir mit der porzellanweißen
Maske gegenübersaß, auf der die blutrote Träne unter dem rechten Auge einen grotesken Kontrapunkt bildete. Vielleicht bedauerte sie ihr Handeln, vielleicht war sie noch immer an den Nebenwirkungen des Kusses erkrankt, wahrscheinlich traf beides zu. Ich wollte sie nicht quälen.
Der zweite Maat drückte einige Schalter, und der Aufzug begann träge die Felswand hochzusteigen. Die Hafenanlagen, Walfänger und Handelsschiffe unter uns schrumpften langsam; die Luft wurde nach und nach klarer, so daß ich von meiner Position am Geländer nach unten auf einen dünnen gräulichen Dunst schauen konnte, der die Oberfläche des Staubmeeres trübe machte. In der Ferne leuchtete die entgegengesetzte Kante des Nullaqua-Kraters, so klein wie immer, aber jetzt, da wir uns oberhalb des Dunstes befanden, waren die Konturen viel schärfer. Der Felsen nahm nun sechs Grad des westlichen Horizonts ein. Man konnte sich kaum vorstellen, daß er aus einer Vielzahl abfallender Klippen, siebzig Meilen hoch, bestand; er sah vielmehr wie eine sich zusammenballende Sturmfront aus, aus der graue Gewitterausläufer in den Himmel ragten. Aber das reichte aus, einem das Gefühl zu geben, man lebte in einer Schüssel. Im Osten, hinter uns, bedeckten die Klippen des Ostrands fast die Hälfte des Himmels. Am Fuß der Felsen kam der Morgen am Mittag. Die ersten Stunden des Tages wurden vom Glanz der Westklippen erhellt, die über die Atmosphäre hinausragten und das reine Sonnenlicht mit mondgleicher Intensität reflektierten.
Die Luft klarte immer mehr auf und nahm die gnadenlose wolkenlose Klarheit aller Inselstädte Nullaquas an. Ich riskierte es, meine Maske abzunehmen. Sie war rein. Ich tat einen tiefen Atemzug und drehte mich zu Calothrick um.
Alle Matrosen starrten mich düster und unfreundlich an, als hätte ich gegen die Etikette verstoßen. Ich zog die Maske wieder über.
Schließlich erreichte der Aufzug die Spitze der Klippe und blieb mit einem Klicken vor einem weiten, mit Metall ausgelegten Gang stehen, der an der offenen Seite mit einem zwei Meter hohen Drahtzaun gesichert war. Damit wurde verhindert, daß selbst die betrunkensten nullaquanischen Seeleute über den Klippenrand strauchelten und ihre Körperflüssigkeit auf den Felsen weit unten vergeudeten. Der zweite Maat packte das Sicherheitsgeländer des Aufzugs und ließ es mit einem Kreischen aufschwingen. Ich machte mich bereit, den Aufzug zu verlassen.
Plötzlich rannten alle Matrosen wie ein einziger Körper vorwärts; ihre überraschende Bewegung ließ mich rasselnd gegen den Drahtzaun prallen.
Ich stolperte hinter ihnen her und merkte, daß wir uns auf der Starcross Street befanden, dem Herzen des Bordellviertels. Beide Seiten der breiten Avenue waren mit Bars, Nachtclubs, Ringkampfarenen, Automatenhallen und Häusern mit schlechtem Ruf gesäumt.
Plötzlich riß Flack seine karierte Maske vom Gesicht und ließ ein ohrzerreißendes Geheul hören. Wie auf ein Kommando zogen die übrigen Matrosen ihre Masken ab und hängten sie in die Ringe an ihren Gürteln ein. Inzwischen hatte Flack lauthals einen ritualisierten Singsang angestimmt:
»Ich bin Flack, der erste Maat der Lunglance, des schönsten Schiffs in der Flott!«
Die übrigen Matrosen johlten zustimmend.
»Ich bin zäh wie Federstahl und so groß wie der Großmast! Im Beton hinterlasse ich meine Fußabdrücke, und ich lasse Felsen mit meiner bloßen Faust zerbersten! Ich kann einen fliegenden Fisch mit meinen Blicken töten und einen Hai in einem fairen Kampf totbeißen! Harpunen sind meine Zahnstocher, und meine Nägel mache ich mit Schmiedehämmern sauber!«
Flack legte die Hände auf die Hüften und vollführte einen schnellen Hüpfschritt. Dann sprang er in die Luft und ließ seine Hacken dreimal zusammenklappen, ehe er wieder landete. Die Lunglance-Crew brach in tobenden Beifall aus. Inzwischen hatte sich schon eine Menschenmenge um uns versammelt, meist grell gekleidete nullaquanische »Maßliebchen« und ihre Zuhälter. Auch ein Dutzend haarnasiger nullaquanischer Halbstarker waren da, und einige rivalisierende Seeleute, die man an den gebräunten Armen und den blassen Gesichtern erkennen konnte.
Jetzt setzte Grent zu seiner Rede an: »Zurück, Leute, zurück, macht mir Platz, sonst schaffe ich Platz über euren massakrierten Körpern! Kommt mir nicht zu nahe, denn ich stehe Klassen über euch! Ich kann meinen Arm in den Ozean stecken und Kiesel von seinem Grund auflesen! Legt euch mit mir nicht an, tut es nicht, sonst trete ich die Nullaqua-Mauer nieder und lasse alle eure Luft verströmen! Mit einer Hand knüpfe ich einen Knoten in den Großmast, mein Atem schmilzt Stahlblech …«
Mir war klar, daß dies eine Weile so weitergehen würde. Ich zupfe an Calothricks Ärmel, und wir schlüpften unauffällig aus der Menge hinaus.
»Hee, Mann, willst du einen schnellen Schuß? Komm, gehen wir die Gasse hinauf«, sagte Calothrick und zog seine Pipette aus dem Gürtel. Ich folgte ihm in den düsteren Schatten, der von einem Tätowiersalon auf die Straße geworfen wurde. Grinsend zog Calothrick sein Kunststoffetui heraus und schlürfte eine erschreckende Dosis Flackern heraus. Er reichte mir die Pipette.
»Monty, soviel kann ich nicht nehmen«, sagte ich.
»Ach was, John, das ist doch keine Dosis für einen rotblütigen Mann wie dich«, protestierte Calothrick. Er nahm mir die Pipette aus den Fingern, legte den Kopf in den Nacken und drückte sich die ganze Dosis in den Hals.
»Siehst du?« Er steckte die Pipette wieder in den Behälter und saugte schlürfend eine weitere Überdosis an.
»Ich nehme weniger«, sagte ich. »Wir müssen alles, was wir können, für die Leute im Neuen Haus sparen.«
»Ach, wir werden 'ne Menge haben. Wie viele Wale werden wir denn noch töten? Zwanzig, dreißig? Du könntest gallonenweise Stoff haben, wenn wir zurückkehren. Bist du sicher, daß du keinen Schuß willst?«
»Keinen von dieser Größe.«
»Wie du willst«, meinte Calothrick achselzuckend und schluckte eine zweite Dosis.
»Du hast es verdünnt«, schlußfolgerte ich plötzlich. Ich nahm den Behälter aus seinen steifen Fingern und füllte die Pipette zu einem Viertel. »Auf Ericald Svobold«, sagte ich. »Möge er in dem Frieden ruhen, den er verdient.«
»Wer?«
»Ericald Svobold. Er war der Entdecker des Flackerns. So hat man es mir jedenfalls erzählt.«
Ich schluckte die Dosis runter. Die Reaktion kam sofort, und sehr stark; ein Stromstoß jagte mein Rückgrat entlang und wandelte mein sorgfältig arrangiertes Nervensystem in eine zufällige, chaotische Masse sprühender Funken und Verschmelzungen. Wie Calothrick lehnte ich mich hilflos grinsend an die Wand.
Ganz nahe an meinem Ohr ertönte eine Stimme. »Gute Laune, Schätzchen?«
Hastig ließ ich den Flackern-Behälter in mein Hemd gleiten und bemühte mich, meine derangierten Kräfte zu sammeln. »Was?«
Ein nullaquanisches Maßliebchen in mittleren Jahren, das Gesicht mit einer dünnen Schicht bunten Puders auf den Wangenknochen verziert, war in der Gasse nähergekommen, als ich weggetreten war. »Willst du ein bißchen Spaß haben, Seemann?«
»Ich, äh, ich weiß nicht …«
»Ich glaube, ich muß mich hinlegen«, brabbelte Calothrick und sank gegen die Wand.
Die Frau half ihm auf die Füße. »Komm schon, Schätzchen. Ich weiß einen Platz für dich.« Sie legte seinen Arm über ihre stämmigen Schultern und griff hinter ihn, um seine Brieftasche mit mütterlichen Fingern abzuklopfen. Sie zwinkerte mir zu. Meinem vom Flackern ausgedörrten Verstand erschien ihr Gesicht glasig und unerträglich hell. »Adieu und traniges Glück, Walfänger. Guck mal bei Madam Annie rein. Frag nach Melda.«
Es war eine enorme Erleichterung, als sie beide fort waren. Ich lehnte an der Wand und atmete die kühle Luft ein. Die Dinge schienen von selbst wieder in die Reihe zu kommen, und eine verschüttete Erinnerung nagte an meinem Unterbewußtsein. Eine Besorgung … ah ja, der Schnaps.
Mit äußerster Vorsicht ging ich auf die Straße hinaus und trat auf einen schmalen, langsamen Gleitweg. Schließlich glitt ich an einer Kneipe vorbei, die etwas weniger heruntergekommen aussah als die meisten, und verließ den Gleitweg. Auf hohen Blockbuchstaben, mit grünem Lack bemalt, der die selbstleuchtenden Säfte des nullaquanischen Planktons enthielt, stand dort: »Merkles Bar und Grill«.
Ich ging hinein und stellte einen Fuß auf die Messingstange vor der Theke. Merkle, ein untersetzter, glatzköpfiger Mann mit gebräuntem Gesicht und einem gezwirbelten Schnurrbart, tauchte vor mir auf.
»Was soll's sein, Seemann?«
»Gib mir 'nen Schuß vom alten Rotauge«, brummte ich auf Original-Seemannsart.
»Was, zum Teufel, ist das denn?«
Ich erklärte es ihm. »Tut mir leid, so was wirst du hier nirgendwo finden«, sagte Merkle. »Nichts, was stärker als zwanzig Grad Normalstärke ist.«
»Warum nicht?«
»Weil es ungesetzlich ist.«
Ich hätte es eigentlich wissen müssen. »Gib mir ein Bier«, sagte ich. Selbst die relativ schwachen Getränke reichten nicht aus, einen entschlossenen nullaquanischen Seemann im Stande der Nüchternheit zu halten. Ich spülte den Geschmack des Flackerns aus meiner Kehle, als ich plötzlich den Ausbruch eines lauten Streitgesprächs zwischen den Gästen am Ende der Theke hörte. Es klirrte und knallte, als jemand einen verbeulten Messing-Bierkrug gegen irgendeinen Kopf schlug. Diesem Geräusch folgte das schnelle Klatschen von Fingerknöcheln, die auf Zähne trafen.
»Das haben wir hier nicht so gerne«, brüllte Merkle und ergriff eine lange Aluminiumkeule, die mit Messingnägeln besetzt war. »Geht raus und tragt euren Streit wie Gentlemen aus.«
»Ich schlage ihm die Zähne ein«, versprach einer der Streithähne und trank den Rest des Biers aus dem verbeulten Messingkrug. Als ich mich über die Theke lehnte und an den blassen, trunkenen Gesichtern der Matrosen vorbeischaute, erkannte ich Blackburn, den Harpunier der Lunglance. Er und sein Gegner, ein muskulöser Nullaquaner, dessen Nasenhaar unentwirrbar mit einem mächtigen roten Schnauzbart verflochten war, gingen unter einer von der Decke herabhängenden Walfischtranlampe hindurch nach draußen.
Ich trank mein Bier aus, nahm das Trinkgeld, das auf einem runden, kunststoffüberzogenen Tisch für eine Kellnerin lag, und zahlte.
»Liefert ihr außer Haus?« fragte ich.
»Ja, sicher; Seemann.«
Ich bestellte drei Liter vom stärksten Bier, die er zur Lunglance liefern sollte. Die Adresse unseres Docks schrieb ich auf einen Kunststoffblock. Dann ging ich.
Draußen waren Blackburn und sein Kontrahent noch immer zugange. Ich quetschte mich durch die Menschenmenge, die sich versammelt hatte und zusah, wie die beiden sich auf dem Pflaster beharkten. Das Haar in einem von Blackburns Nasenlöchern war blutgetränkt, und sein Gegner hatte eine aufgeplatzte Lippe. Nicht mehr in der Lage, auf die Füße zu kommen, schlugen sie sich abwechselnd in den Leib. Ihre Schläge wurden immer schwächer, aber da die Widerstandskraft der beiden Männer ebenfalls nachließ, hatten die Schläge die gleiche Wirkung wie am Anfang. Bei jedem Treffer öffneten sie den Mund, brüllten auf, stießen kurze, tiefe Schreie aus, von keuchenden Atemzügen unterbrochen.
Schließlich, von blauen Flecken übersät und japsend, klammerten sie sich hilflos aneinander und atmeten röchelnd und stoßweise ein und aus.
Langsam, mit geradezu quälender Konzentration, ballte der schnauzbärtige Seemann seine Faust. Blackburn hob schwach eine Hand. »Zum Teufel«, sagte er durch geschwollene Lippen. »Gehen wir ein Stück die Straße hoch und legen uns hin.«
»Jawoll«, sagte der andere nickend. Enttäuschtes Murmeln stieg aus der Menge, als die beiden sich zitternd gegenseitig auf die Füße halfen und Arm in Arm auf ein Bordell auf der anderen Straßenseite zutaumelten.
Es war Zeit zum Mittagessen, schloß ich nach einem Blick zur Sonne. Ich nahm den Gleitweg, der von der Starcross Street zu einem achtbareren Teil der Stadt führte. Dort hielt ich an einem kleinen Straßenrestaurant und genehmigte mir ein Beefsteak. Es war nicht gerade vom Besten; die nullaquanischen Gewürze, die bei seiner Zubereitung verwendet worden waren, gaben der Soße einen dünnen Beigeschmack von Säure, und der Salat, der dazu gereicht wurde, war mit ausgesprochen erschreckender Ahnungslosigkeit zusammengestellt. Ich ging, ohne ein Trinkgeld zu geben, und beschloß, zur Lunglance zurückzukehren und mich nach Dalusa umzusehen.
Mein Fortkommen wurde durch einen Menschenauflauf auf der Starcross Street etwas behindert. Mehrere Lunglance-Matrosen waren daran beteiligt, und wenn sie mich gesehen hätten, hätten sie wahrscheinlich darauf bestanden, daß ich mitmachte. Ich nahm einen Umweg durch die Schneiderstraße. Vielleicht hatte es hier wirklich einmal Schneider gegeben, aber falls das zutraf, so waren sie inzwischen durch Maskenverkäufer ersetzt worden. Ein Laden nach dem anderen säumte die Straße, und in den Schaufenstern lagerte eine erstaunliche Vielfalt von Farben. Ich hatte noch einige in meinem Seesack, die ich zusammen mit meiner Maske auf der Hochinsel gekauft hatte. Das schien schon Jahre her zu sein. Aber es waren nur zwei Monate.
In Erinnerung an die irritierend langsame Geschwindigkeit des Aufzugs erwartete ich eine ähnlich lange Fahrt, um die Hafenanlagen unten zu erreichen. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als der Apparat so schnell fiel, daß meine Füße tatsächlich einige Zentimeter über dem Boden schwebten. Meine Begleiter im Aufzug hatten ihre Masken bereits angelegt; sie schwebten mit solcher Würde, als gehörten sie zu einem Konföderationsgericht, das gerade ein Todesurteil aussprach. Hastig schnallte ich meine Maske vom Gürtel und zog sie mir über, ehe der Staub Gelegenheit hatte, meine ungeschützten Augen und Lungen anzugreifen.
Als wir das letzte Viertel der Strecke vor uns hatten, setzte eine so starke Bremsung ein, daß ich in die Knie ging. Benommen trat ich auf die Hafenanlagen hinaus und atmete tief ein. Auf Meereshöhe war die Luft voller und dichter.
An Bord der Lunglance waren Schiffbauer dabei, das Deck neu zu beziehen. Sie klebten lange Streifen Walknochen-Plastik mit einem dünnen wäßrigen Leim auf das Deck. Neue Masten waren schon eingesetzt, und ein halbes Dutzend Handwerker ersetzten die zerrissenen Seile durch neue Trossen. In meiner Maske pfiff ich leise vor mich hin. Es hatte eine beträchtliche Summe gekostet, diese Arbeit so schnell erledigt zu bekommen. Die meisten Walfängerkapitäne hätten sich in einer ähnlichen Situation an die Filiale ihrer Walfängerfirma gewandt, aber Desperandum besaß solchen Rückhalt nicht. Er mußte mit seinem eigenen Geld dafür aufkommen. Beeindruckend.
Dalusas Zelt war an Deck nicht aufgebaut. Nicht sonderlich überraschend. Schiffsbauer bezogen die Stelle, wo es normalerweise stand, mit neuem Kunststoff. Vielleicht war Dalusa irgendwo in der Luft. Ich beschloß, Desperandum zu fragen, ob er wußte, wo sie sich aufhielt. Obwohl meine Besessenheit - ich fragte mich bereits, ob ich sie Liebe nennen sollte - nicht Desperandums volle Zustimmung fand, war ich mir einigermaßen sicher, daß er es mir sagen würde.
Die Luke zu Desperandums Kajüte stand offen, also ging ich die Treppe hinab zum Speiseraum. Desperandum hatte die ganze Zeit an Bord gegessen; die Überreste mehrerer Mahlzeiten, schmutzige Teller mit erstarrtem Fett, bedeckten den Tisch des Kapitäns.
Ich nahm meine Maske ab und klopfte an der Tür zu Desperandums Kajüte. »Herein«, knurrte Desperandum.
Ich stieß die Tür auf und bemerkte sofort eine angespannte Stille. Desperandum saß in seinem Drehstuhl; an der Koje stand, steif dem Kapitän zugewandt, der nullaquanische Matrose Murphig.
»Aha, Newhouse«, sagte Desperandum mit vorgetäuschter Herzlichkeit.
»Störe ich?« fragte ich.
»Nein, nein. Matrose Murphig hat mir gerade einen recht interessanten Vorschlag gemacht. Möchten Sie ihm davon erzählen, Murphig?«
Murphig starrte nur mißmutig an die Wand.
»Nein? Na gut. Murphig hat erfahren, daß ich so etwas wie ein Wissenschaftler bin, und er ist zu mir gekommen, um … über eine Lehre zu reden.«
Ich sagte nichts.
»Aber ich fürchte, daß Matrose Murphig und ich in unseren Vorstellungen über wissenschaftliche Methoden ziemlich radikal voneinander abweichen. Matrose Murphig hat ausgeprägte Meinungen.«
Murphig hatte offensichtlich die Grenzen seiner Selbstbeherrschung erreicht. »Sie glauben, wir seien Barbaren, nicht wahr?« sagte er verbissen. »Sie kommen aus dem Nirgendwo in diesen glänzenden interstellaren Schiffen und glauben, Sie haben es mit einer Rasse von Untermenschen zu tun. Gott weiß, wir sind Sünder. Gott weiß, wir haben einige unserer Ideale verloren, aber das gibt Ihnen nicht das Recht, uns und unsere Ideen wie Dreck zu behandeln.«
Desperandum lächelte einnehmend. »Matrose Murphig ist verärgert, weil ich ihm eröffnet habe, daß seine Ideen eher mythisch als wissenschaftlich sind.«
»Wir sind nicht blind«, stellte Murphig verdrossen fest. »Wir sind keine Idioten. Wir reden nicht darüber, aber wir wissen, daß es unter dem Staub etwas gibt, etwas sehr Altes, Scheußliches und Starkes. Es … sie … sind seit Millionen von Jahren dort unten gewesen, meilenhoch Staub über ihren Köpfen; sie haben gelernt, gelebt, werden stärker, bis sie weise sind auf eine Art, die wir möglicherweise nicht verstehen können, weil sie wie … wie Götter der Tiefe sind.«
»Götter der Tiefe«, sagte Desperandum analytisch. »Eine klassische Form des Aberglaubens. Verstehen Sie richtig, Murphig: Daß ich Ihr Angebot zurückwies, bedeutet nicht, daß ich Sie persönlich nicht schätze. Sie sind ein ausgezeichneter Seemann. Aber mehr auch nicht.«
»Und was ist mit den Haien?« fragte Murphig. Sein Mund straffte sich. »Ich habe sie beobachtet. Ich habe alles beobachtet.« Er spießte mich mit einem schnellen Blick auf. »Sie sind immer da, wenn wir einen Wal töten. Sie können ihn nicht sehen. Sie können das Blut nicht riechen, weil der Staub es aufsaugt. Ihre Ohren sind winzig, sie können es nicht hören. Aber sie wissen, wenn etwas gestorben ist. Ich habe gesehen, wie Sie einen aufgeschnitten haben, Käpt'n. Ich weiß, daß ihr Gehirn sehr klein ist. Aber sie sind schlau und verschlagen; sie haben mehr Intelligenz, als man es irgendeinem Raubtier zubilligen darf.«
»Das hatten wir doch schon erledigt«, sagte Desperandum resignierend.
»Sie haben Lotsenfische, erinnern Sie sich? Sicherlich haben Sie die auch beobachtet, kleine Tiere mit Flügeln und großen, perfekt funktionierenden Augen.«
Murphig schwieg.
»War es das, was Sie sagen wollten, Matrose?«
»Nur noch eins, Käpt'n«, erwiderte Murphig, wobei seine Stimme vor unterdrückter Erregung vibrierte. »Am Ende der Reise werden wir sehen, wessen Ideen Gottes eigener Wahrheit mehr entsprechen. Aber das will ich noch sagen: Sie bringen Ihr Leben - und vielleicht noch mehr als Ihr Leben - in Gefahr, wenn Sie sich in Dinge einmischen, die Sie nicht verstehen.«
Urplötzlich brach Desperandum in dröhnendes Gelächter aus. Schließlich hörte er auf und wischte Lachtränen aus seinen kleinen, von Runzeln umgebenen Augen. »Ich bitte um Pardon, Murphig, wenn es mir nicht gelungen ist, Ihrem Volk den rechten Respekt zu erweisen. Aber bis jetzt ist mir noch nie klar geworden, welches Potential für Belustigungen in Ihnen steckt.«
Murphigs bleiches Gesicht wurde noch bleicher. Mit schwerfälligen, knotigen Händen zog er seine mit Zielscheiben bemalte Staubmaske über, ging durch die Kajütentür und rannte, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
»Es hat mir kein Vergnügen bereitet, ihn auf diese Art zurechtzustutzen«, sagte Desperandum ernst. »Ich mag die Einstellung dieses Mannes. Aber das ist der Gen-Bestand. Wenn ein Planet nur von Mystikern, von religiösen Fanatikern, besiedelt wird, dann werden die Verschrobensten unter ihnen, die mit dem geringsten ausgleichenden Anflug von Vernunft … nun ja, ich bin ganz sicher, Sie verstehen, was ich meine, Newhouse.«
»Ja, Sir, das tue ich.«
»Und wenn diese Situation durch eine von Grund auf starre und konservative Kultur kompliziert wird … tja, es ist eine Frage des Menschenmaterials. Aus Holz kann man kein Oszilloskop machen.«
»Sehr richtig«, stimmte ich zu.
Desperandum lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück; mit einem Quietschen gab die Lehne nach. »Was kann ich für Sie tun, Newhouse?«
»Ah ja, die Ausguckfrau. Ich meine, mich zu erinnern, daß unser letztes Gespräch über dieses Thema ziemlich abrupt unterbrochen wurde.«
Ich sagte nichts, versuchte aber, ein wenig verärgert auszusehen. »Wissen Sie, wo sie ist, Sir?«
»Ich habe große Achtung vor Ihnen, Newhouse, als Mann, als Terraner und natürlich als Koch. Seit ich in den Krater gekommen bin, ist das das erste Mal, daß ich annehmbar gegessen habe.«
»Danke, Sir.«
»Und auch vor Dalusa habe ich viel Respekt. Sie war bei meinen beiden früheren Fahrten dabei. Aber Ihre Beziehung betrachte ich mit einiger Besorgnis. Ich frage mich, ob Sie je über die Art der Motivation nachgedacht haben, die eine Person dazu bringt, ihren Planeten, ihren Körper, sogar ihre ganze Spezies zu ändern.«
»Sie hat irgend etwas darüber erwähnt, daß sie nie richtig dazugehörte.«
»Sie war ein Außenseiter«, sagte Desperandum unverblümt. »Sie war abstoßend. Keiner aus ihrem … äh … Stamm wollte sie berühren oder mit ihr reden. Sie war eine Paria.
Dann kam die Expedition, Geschöpfe wie Götter in infektionssicheren Anzügen. Sie waren bereit zu reden. Sie waren bereit, ihre Ideen jedem mitzuteilen, der zuhören wollte. Also wurden sie in Fetzen zerrissen. Berufsrisiko.« Desperandum zuckte die Achseln. »Und so starben Dalusas Peiniger in schrecklichem Todeskampf, vergiftet vom Blut ihrer Opfer. Als die nächste Expedition kam, die unvermeidlich war, traf sie Dalusa vorbereitet. Und sie ging mit ihnen fort und legte sich unters Messer.«
»Eine löbliche Entscheidung«, sagte ich.
Desperandum runzelte die Stirn. »Es ist nicht klug, menschliche Maßstäbe an Fremde anzulegen, das weiß ich. Aber ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß Dalusa geistig nicht normal ist?«
»Käpt'n, es gibt keine objektiven Maßstäbe, um geistige Gesundheit zu messen. Wie Sie selbst sagen, ist es absurd, menschliche Maßstäbe an sie anzulegen, und wenn sie nach ihren eigenen Maßstäben nicht normal wäre, kann ich leider nicht erkennen, welche Belastung das für mich haben sollte. Schließlich habe ich keine Vorstellung davon, was bei ihren Artgenossen als normal gilt. Aber nach dem, was Sie mir erzählt haben, scheinen sie ausgesprochen unerfreulich zu sein.«
»Und wenn das, was ich Ihnen erzählt habe, etwas mit Blut zu tun hat?« fragte Desperandum. »Menschliches Blut, der Mittler ihres Heils. Und was, wenn ich Ihnen sage, daß Blut ihre Besessenheit ist, sogar ein sexueller Fetisch?«
»Dann würde ich Sie fragen, Käpt'n, wo Sie Ihre Information herhaben?«
Einige Sekunden war es still. »Ich glaube, das würde ich Ihnen dann nicht sagen«, sagte Desperandum schließlich.
»Nun denn, um zu unserem früheren Gesprächsthema zurückzukehren: Ich möchte, daß Sie den jungen Murphig scharf im Auge behalten. Er wird das Schiff nicht plötzlich verlassen.
Für einen nullaquanischen Walfänger ist das undenkbar. Aber er verhält sich in letzter Zeit merkwürdig. Manchmal träge, manchmal fast überdreht, als stände er unter dem Einfluß einer …« Ich hielt den Atem an, während Desperandum nach einem Wort suchte, » …einer Art religiöser Erregung. In einer Kultur wie der hiesigen muß man mit einem solchen Syndrom rechnen. Wenn es an Bord der Lunglance Unruhe gibt, wird Murphig vermutlich in ihrem Zentrum sein.«
»Ich werde ihn beobachten, Käpt'n«, versprach ich.
»Prima. Ach, übrigens, könnten Sie beim Hinausgehen die Reste vom Eßtisch abräumen?«
»Käpt'n«, sagte ich sanft, »was ist mit meiner Frage?«
In diesem Moment wußte ich mit Sicherheit, daß Desperandum ein alter Mann war. Ein bestürzter, fast erschreckter Ausdruck huschte über sein Gesicht, so wie ich ihn vorher schon beim alten Timon Hadji-Ali und bei den Undines gesehen hatte. Eine verzweifelte Suche unter den angehäuften Jahrhunderten der Erinnerung; Erinnerungen, die von einem unzulänglichen menschlichen Gehirn aufgestaut und verzerrt wurden.
Aber Desperandum fand es schnell: »Dalusa. Sie ist in der Küche und wartet. Wartet auf Sie.«
Ich stapelte das fettige Geschirr übereinander und zog meine Maske über. Dann trug ich es auf Deck, wo die Handwerker immer noch eifrig arbeiteten, und ging in die Küche.
Es war dunkel. Mit dem Ellbogen drückte ich den Lichtschalter an und setzte das Geschirr auf die Anrichte.
Dalusa saß auf dem Stuhl neben der Tür, die zum Vorratsraum führte. Sie hatte noch immer ihre Maske auf; ihre Hände waren von ihrem Hals verschränkt, und ihre Schwingen hingen wie schwarze Samttücher von ihren Armen.
Ich schwang mich neben dem Geschirr auf die Anrichte und blickte ihr ins Gesicht. Ich nahm meine Maske ab. »Ich will mit dir reden, Dalusa. Willst du deine Maske nicht abnehmen?«
Dalusa griff nach dem Elastikband hinten an ihrer Maske und streifte es langsam über ihren Kopf. Ihr Bemühen, die Situation zu dramatisieren, war so offensichtlich, daß ich ungeduldig wurde. Aber ich hielt mich zurück.
Langsam hob sie die Maske vom Gesicht und hielt sie immer noch zwischen uns, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Dann ließ sie sie plötzlich sinken.
Ich konnte spüren, wie das Blut aus meinem Gesicht wich; ich könnte schwören, daß ich fühlte, wie es durch Millionen Arterien in meinen Hals tropfte und entwich. Ich sah Dalusas bleiches, zerstörtes Gesicht grau werden. Ich schauderte, fühlte mich übel und packte die Kante der Anrichte mit beiden Händen.
Dalusa sah aus, als hätte sie an einem Schwamm voll Säure gesaugt. Ihr Mund war geschwollen und abstoßend; ihre Lippen waren so aufgequollen und entstellt, daß sie wie kleine rote Würstchen wirkten. Weiße Fetzen feuchter, roter Haut klebten an den Rändern ihrer Lippen, und ihr entstellter Mund war mit schwarzen und gelben schwärenden Blasen übersät.
Ich schaute weg. Dalusa begann zu reden. Ich war so verblüfft, daß sie in der Lage war zu sprechen, daß ich ihre Worte beinahe nicht aufnahm. Sie sprach langsam und lispelnd, ihre Lippen schienen auf unnatürliche Weise aneinanderzuhaften. Bei jedem Konsonant öffneten sie sich klebrig.
»Siehst du, was du mir angetan hast?«
»Ja«, sagte ich. Es würde ihre Qual nur noch steigern, wenn ich darauf hin wies, daß es eher ihre Verantwortlichkeit als meine war.
Aber sie sagte nichts, und die Stille dehnte sich schmerzlich aus. Schließlich sagte ich: »Ich hatte keine Ahnung, daß es so schlimm sein würde. Die Strafe steht in keinem Verhältnis zu dem kleinen Funken Freude - Gott ist grausam zu dir, Dalusa.«
Ihr Mund bewegte sich mühsam, aber ich konnte kein Wort hören. »Was?« fragte ich.
»Liebst du mich?« wiederholte sie. »Wenn du mich liebst, ist alles in Ordnung.«
»Ja, ich liebe dich«, sagte ich. Und obwohl der Satz als Lüge begonnen hatte, wurde mir, als ich ihn ausgesprochen hatte, bestürzt klar, daß ich die Wahrheit gesagt hatte.
Dalusa begann lautlos zu weinen, dünne glänzende Tränen rannen mit unnatürlicher Geschwindigkeit über ihre bleichen, vollkommenen Wangen, um die geschwollenen Ränder ihres Mundes zu berühren. Unwillkürlich stand ich auf, um sie zu umarmen, hielt aber dann inne. Nicht zum ersten Mal, und sicher nicht zum letzten Mal, wurde ich von peinigender Frustration zerrissen.
»Du glaubst mir nicht«, sagte ich, und meine Gedanken vollführten einen plötzlichen intuitiven Sprung. »Du möchtest, daß ich ebenso leide wie du. Deine Liebe besteht aus Schmerzen, also kannst du mir nicht glauben, solange ich deine Qual nicht teile.«
Dalusa stöhnte - ein merkwürdiger gutturaler Laut, der meine Haare zu Berge stehen ließ. »Warum? Warum können wir einander nicht berühren? Was habe ich getan? Was hat man mir angetan?«
»Wußtest du, daß ich ein Paar Handschuhe habe?« fragte ich.
Dalusa starrte mich an und brach in hysterisches Lachen aus. »Handschuhe auf einem Walfängerschiff?« Plötzlich sprang sie mit einem Rascheln ihrer Schwingen von dem Stuhl auf, griff nach ihrer Maske und rannte unbeholfen die Stufen hinauf und durch die Luke.
Ich setzte mich auf den Stuhl und schnupperte. Dalusa benutzte Parfüm.