5

Die Lüge

 

»ERZÄHLE MIR VON DER ERDE«, sagte Dalusa.

»Gern.« Wie oft hatte ich die Lüge erzählt, und wie vielen Frauen? Ich konnte es nicht mehr zählen. Vor über zwanzig Jahren war die eingegebene Unwahrheit wie eine voll erblühte Rose in meinem Kopf aufgegangen, bewässert von panischer Angst, befruchtet von jugendlichem Romantizismus. Unzählige Male hatte ich mit Widerwillen gehandelt; unzählige Male hatten meine jugendlichen Brauen sich in geheucheltem Schmerz aus geheuchelten Erinnerungen zusammengezogen. Aber mit Dalusa war das anders, Dalusa verdiente etwas Besseres. Ich beschloß, für sie so gut zu lügen, wie noch niemals zuvor.

»Ich kann dir nicht von dem ganzen Planeten erzählen«, sagte ich, meine Worte bedachtsam wählend, »nur von den wenigen Hektar da und dort, die das Schicksal mir zu sehen gewährte. Vor vierunddreißig Jahren wurde ich in Venedig geboren, einer alten Stadt, einst eine Nation. Sie war auf einer Insel gebaut, und man nannte sie die Braut des Meeres. Venedig wurde von einem Ausläufer des Weltozeans umschlungen, ein großes Salzmeer, genannt die Mitte der Welt. Als Kind schaute ich auf das Meer, sah, wie schaumgekrönte Wellen an das Gestade brandeten, bis meine Augen vom Glitzern der Sonne auf der unbeständigen Oberfläche des Wassers schmerzten. Es schien, daß der Ozean nie aufhörte und den Planeten wie eine zweite Lufthülle umgab. In den blauen, salzigen Meeren der Erde ist genug Wasser, um das Staubmeer mehr als dreißigmal zu versenken.

Aber zurück zu Venedig. Stell' dir eine prächtige goldene Stadt vor, so alt, daß die Felsen unter ihr trügerisch werden. Eine Stadt, einst herrlich und stolz, glänzend und schön, im Besitz der über die Jahre angehäuften Beute der sieben Meere. Es gab keine Seestreitmacht, die der venezianischen glich, keine Herrscher, die Venedigs Dogen gleichkamen. Venedig war die Königin unter den Städten Italiens und Böhmens, wie ein großer Diamant unter Saphiren. Von den Städten der Erde war Venedig die erste, die die Sterne erreichte. Natürlich wurde Venedig gegründet, lange bevor der Mensch zu fliegen verstand, aber venezianisches Genie machte den lang gehegten Traum zur Wirklichkeit. Hölzerne Vögel, erdacht vom Gehirn des unsterblichen Leonardo da Venecia, schwebten durch den Himmel Venedigs und trugen die rot-silbernen Banner der Stadt …

Aber das Land begann zu schwanken. Zuerst verschwendete man kaum einen Gedanken daran. Es gab viele, die Lösungen vorschlugen, und genug Reichtum, um sie zu verwirklichen. Ein Deich zum Meer? O nein, Venedig ist von Schlammbänken umgeben. Vielleicht ist die ganze Insel zum Schwimmen zu bringen? Aber die Natur antwortete auf jedwede solcher Bemühungen mit Feuer und Erdbeben. Der Felsen unter der Stadt war nicht stabil, sondern mit Höhlen durchsetzt, und winzige flüssige Feuer siedeten in ihm. Die Gefahr einer Flutkatastrophe war zu groß. Der Niedergang geschah langsam; oftmals gab es Zeiten relativer Stabilität, in denen die Bürger einander anblickten und sahen, wie die Verzweiflung langsam dahinschmolz. Aber kaum kam es zu einer Erneuerung ihrer Zuversicht, da gab es neue Erschütterungen - ein dumpfer Verfall. Und dann betrog ihr Bräutigam die Braut des Meeres.

Zu meiner Zeit lebten die Venezianer im dritten und zweiten Stockwerk teilweise versunkener Gebäude. Die Bevölkerung war nicht einmal ein Zehntel derer in Venedigs Glanzzeit. Ich stamme aus einer uralten Adelsfamilie. An meine Kindheit erinnere ich mich sehr gut. Viel Zeit verbrachte ich damit, meine alte schwarze Pagode durch die versunkenen Straßen zu staken oder zu rudern. Ich erinnere mich an die versunkenen, zerstörten Pylonen, die mit Anemonengirlanden untergegangenen Statuen, an die Seeigel, die stachelbewehrt über die versunkenen Mosaikgesichter venezianischer Madonnen, die vom Sand getrübt wurden, krochen. Manchmal tauchte ich bei der Suche nach Schätzen in das kalte Wasser und kam schmutzig und von schleimigen Pflanzen verschmiert nach Hause, um dem milden, traurigen Tadel meiner Mutter entgegenzutreten …« An dieser Stelle brach meine Stimme für einen Augenblick. Meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Kind war; gewiß tat es im Innern noch irgendwo weh. Und das war mein eigenes Leben, das waren meine eigenen Lügen, ein Surrogat meiner selbst, auf meine eigene Persönlichkeit verpflanzt. In dieser Nacht floß es über wie nie zuvor, obwohl ich dem Ganzen jenen marinierten, gekünstelten Erzählstil geben mußte, den die Terraner so mögen. Meine eigene Schöpfung, meine eigene Lüge, meine eigene Seele. Meine Kunst. Tränen traten in meine Augen.

»Es war eine beengende Kultur, über alle Lebendigkeit hinaus stilisiert, immer noch schön, wie der vollständig bewahrte Leichnam einer jungen Braut. Und ich war völlig allein. Oftmals verließ ich Partys oder einen Dichterwettstreit, um die Wasserstraßen in meiner schwarzen Pagode zu durchstreifen. Viele der venezianischen Gebäude waren verlassen, Theater, Herrschaftshäuser, Gasthäuser zerbröckelten in feuchtem Zerfall. Ich hatte nichts gegen einen leichten Schimmelüberzug, und oft stieg ich durch leere Fensterhöhlen und watete mit meiner Laterne über verschlammte Böden. Oft sammelte ich merkwürdige Muscheln …«

»Was?« unterbrach Dalusa.

»Muscheln. Die Hautskelette toter Wasserorganismen. Manchmal fand ich die muschelbewachsenen Überreste früherer Kulturen. Die Scherbe einer griechischen Amphore, eine blitzende Aluminiumkanne aus dem Industriezeitalter, irgendein verwaschenes Bruchstück einer verlorenen Erinnerung …«

»Warum bist du fortgegangen?«

»Ich wurde älter. Man redete von Heirat, von einer Verbindung mit einer alten Familie, die noch verbrauchter als die unsere war. Plötzlich wußte ich, daß ich eine weitere Woche in Venedig nicht aushalten könnte, nicht noch einen Tag dieser sanften Melancholie, nicht noch eine Stunde schierer Verzweiflung. Ich hätte in eine andere Stadt fliehen können. Paris, Portland, Angkor Wat …, aber ein Planet allein schien zu klein. Ich habe Venedig verlassen und seitdem nie mehr wiedergesehen. Und mir bedeutet es auch nichts mehr.«

Meine Stimme bebte. Das tat mir weh bis ins innerste Mark. Diese erfundene Geschichte war mir viel näher als meine tatsächliche Kindheit, diese elenden Jahre der Ablehnung und Verachtung, durch das unrechtmäßig erworbene Vermögen meines Vaters nur teilweise versüßt. Ich hatte versucht, meine rüpelhaften, stockdummen Kameraden zu vergessen, ebenso wie die Anstrengungen meines Vaters, mich in seine Form zu pressen, ebenso der Tranquilizer eröffnet. Dann die stimulierenden Drogen, zuerst die zugelassenen, dann eine ganze verbotene Galaxis vielfarbiger Pillen, Freude in Kapselform. Ich hatte versucht, den Schmerz zu vergessen, und zum Teil auch mit Erfolg. Aber ich hütete die Erinnerungen an diese Drogen wie einen Schatz. Ich wußte: Endlich hatte ich eine Laufbahn gefunden, die mir lag. Innerhalb weniger Jahre war ich ein Dealer, ein Mitglied einer seltsamen, aber einträglichen Subbranche der Pharmazie. Ich hatte es nie bereut. Später bin ich eingeschlafen.

 

Am nächsten Morgen waren die Matrosen ungewöhnlich redselig. Einer der größten, mit Namen Perkum, unterbrach sich mitten beim Kauen, um zu bemerken: »Wißt ihr was? Unser Käpt'n ist wirklich ein komischer Kerl.«

Die anderen nickten und wandten sich wieder ihrer Mahlzeit zu.

Kapitän Desperandum war an diesem Tag überall, nahm Staubproben mit angeleinten Eimern, sezierte einen toten Lotsenfisch, machte sich Notizen über das Verhalten der Haie. Vor den Augen der ganzen Besatzung nahm er meinen abgetrennten Walfangspaten und bog ihn mit bloßen Händen zusammen. Nachdem sie das gesehen hatte, kehrte die Crew mit doppelter Energie an die Arbeit zurück.

Am späten Morgen hatten wir den Rand der Krillgründe erreicht. Desperandum warf hinter dem Schiff ein Schleppnetz aus und zog einige hundert Pfund Plankton an Bord. Es ergoß sich wie ebenso viele Pfunde Juwelen auf Deck, nuggetgroße Organismen in jeder erdenklichen geometrischen Form: Pyramiden, Tetraeder, Oktaeder, sogar Dodekaeder, die in ihrer Silikonhülle glitzerten und unter den Stiefeln des Kapitäns zu grünen Streifen zerquetscht wurden.

Um Mittag fanden wir einen weiteren Wal, der gemächlich durch den Staub pflügte und Plankton mit einem Lärm kaute, als zermahle er Packeis. Drei andere Besatzungsmitglieder unterzogen sich dem Blutabzapfritual. Blackburn kehrte an seine Harpunierkanone zurück und schoß die erste Harpune überraschenderweise vorbei. Der zweite und dritte Schuß saßen jedoch, und als das Schiff näher herankam, feuerte er eine vierte Harpune fast aus Kernschußweite; sie bohrte sich in die Lungen des Geschöpfs, so daß es würgte und rötliches Blut ausstieß. Es starb unter Zuckungen.

Dalusa löste sich aus der archimedischen Spirale, die in der Luft ihr Erkundungsraster bildete. Von Süden näherten sich Haie mit Höchstgeschwindigkeit, aber sie waren zwei Meilen entfernt. Es blieb viel Zeit, den Wal zu schlachten; die Haie würden zu spät kommen, um mehr als die Überreste zu bekommen. Ich fragte mich, wieso sie überhaupt wußten, daß der Wal tot war. Hatten die fliegenden Fisch das Ungeheuer aus der Luft ausgemacht? Oder gab es eine subtilere Methode?

Im Süden ragte die mächtige mondfarbene Wand des Nullaqua-Kraters empor, insbesondere der monströse Vorsprung der Seemöwen-Halbinsel.

Ein breiter weißer Streifen verlief in etwa einem Viertel der Höhe über den Felsen der Halbinsel. Ich wußte, daß dieser Streifen in Wirklichkeit zwei Meilen Land waren, vollgepackt mit weißen Seemöwen, die dort nisteten, kreischten und in unglaublicher Anzahl umherstreiften. Der Überlebensraum war für die Seemöwen strikt begrenzt; unten würden sie von herabfallendem Guano ersticken, oben würden sie verhungern, während sie von und zu ihren Nestern pendelten. Unterhalb des weißen Streifens war es gräulich-grün. Dort kämpften zähe Flechten verzweifelt ums Überleben und klammerten sich an die in Jahrhunderten angehäuften Schichten ausgetrockneter Exkremente.

Irgendwo in diesem gewaltigen grauen Streifen befand sich ein kleiner dungbedeckter Klumpen - das HochinselKriegsschiff Progress. Diese Stelle war an die vierhundert Meter hoch in der Felswand - dorthin war das Schiff vor dreihundert Jahren in der Staubspringflut der Glimmerkatastrophe geschleudert worden. Jahrzehntelang war das Wrack sichtbar gewesen, sein glänzendes zerrissenes Metall ein Mahnmal, ein Symbol der Schuld für Generationen von Nullaquanern. Jahrelang konnte man mit einem Fernglas die zerschmetterten Mumien der Progress-Besatzung erkennen, die Körper vollkommen konserviert, die aufgerissenen Münder mit den geschwärzten Zungen; allmählich häufte sich grauer Guano über sie. Tonne auf Tonne herabregnenden Vogeldrecks begrub das Wrack nach und nach, haftete wie Eis an der verwickelten Takelage, tropfte wie graue Stalaktiten auf den metallenen Rumpf. Inzwischen war das Wrack vollständig eingehüllt und mit Flechten überzogen, von der Zeit begraben wie ein niemals erfüllter Kindheitswunsch oder eine unglückliche Liebesaffäre, die von den angehäuften Nichtigkeiten des Alltagslebens eingeebnet wird. Es war der Schlußpunkt des nullaquanischen Bürgerkriegs gewesen, und die vermeintliche Strafe für Sündigkeit hatte sich zu einem erdrückenden moralischen Sieg der dahingemetzelten Beharrer entwickelt, fanatischen Fundamentalisten von der allerschlimmsten Sorte. Es stimmte, daß sie ein Jahr vor der Katastrophe bis zum letzten Mann massakriert worden waren, aber dennoch schloß sich noch jetzt, nach dreihundert Jahren, ihre tote Hand um die lebenden Kehlen Nullaquas.

Verstandesmäßig wußte ich dies alles, aber für das Auge handelte es sich nur um eine Felswand mit einem weißen Streifen und einem grünen Streifen.

Plötzlich sah ich in der Ferne das grüne Aufblitzen von Flügeln. Die Haie kamen.

Ich spürte, wie jemand über meine rechte Schulter blickte. Ich drehte mich um.

Und starrte direkt in ein Augenpaar, dunkle Augen, fast wie die meinen, Augen, die von den Kunststofflinsen einer Staubmaske eingerahmt wurden, die mit einer weißen und einer grünen Zielscheibe geschmückt war. Der Mann, Murphig, hatte genau meine Größe. Der ganze Kontakt dauerte nur eine Sekunde. Dann wandten wir uns beide unbehaglich ab, um das Herankommen der Haie zu beobachten. Sie näherten sich schnell. Ich erschauerte. Ich war mir nicht sicher, warum; die Haie waren es nicht.

Überraschenderweise zeigten die Haie und ihre geflügelten Freunde keine Neigung, die Besatzung anzugreifen. Statt dessen machten sie sich gemächlich über die dahintreibenden, staubüberzogenen Eingeweide her, die wir über Bord geworfen hatten. Mit einem Scharfsinn, der schon nicht mehr tierhaft war, wußten sie, daß der Wal bereits verarbeitet worden war. Ein Angriff konnte nichts einbringen. Und sie blieben außer Reichweite unserer Walfangspaten.

Ich kehrte in meine Küche zurück und begann damit, mein Gebräu durch eine provisorische, aber funktionierende Destillieranlage laufen zu lassen, die ich aus einigen losen Kupferrohren zusammengeflickt hatte. Beim Mittagessen machte ich Dalusa plausibel, daß es sich um eine Destillieranlage handelte und daß ich vorhatte, Weinbrand herzustellen. Sie verlor sofort ihr Interesse; Alkohol übte auf sie keine Anziehungskraft aus.

Vor dem Abendessen hatte ich etwa fünfundzwanzig Gramm einer wäßrigen schwarzen Flüssigkeit gewonnen. Das Schwarzmarkt-Flackern, das ich aus reinem nullaquanischen Eingeweideöl raffiniert hatte, war fast durchsichtig gewesen. Ich fragte mich, ob ich versuchen sollte, dieses neue Gebräu zu filtern.

Das Abendessen verlief ereignislos. Ich stapelte die unzerbrechlichen Geschirrstücke in einem großen, grob gewebten Sack und trug sie in die Küche. Dort traf ich Dalusa. Auf der Truhe vor ihr lag ausgebreitet eine große nullaquanische Seemöwe, tot. Blaßpurpurne Flüssigkeit rann aus drei Löchern in ihrer Brust. Dalusa starrte in versunkener Faszination auf den toten Vogel. Ihre eigenen Flügel waren zusammengefaltet, ihre Hände vor der Brust verschränkt.

Mit lauten Schritten kam ich die Treppe hinunter, aber sie zeigte kein Anzeichen, daß sie meine Gegenwart wahrnahm. Ich schaute auf den Vogel. Er hatte eine Flügelspannweite von etwa einem Meter zwanzig; seine gelben Augen, glasig und tot, waren von den Lidern halb bedeckt, die sich vom Unterrand des Auges nach oben bewegten. Der Schnabel war mit winzigen, konischen Zähnen gesäumt.

Die Füße waren völlig fremdartig; lange schwarze, gewebeähnliche Netze, am Fußansatz mit knöchernen Knötchen verstärkt. Ganz offensichtlich fischte er, indem er über den trüben Staub flog und aufs Geratewohl mit seinen Netzen einfing, was sich unter der Oberfläche befand.

Ich schaute über Dalusas Schulter. Sie blickte nicht auf, sondern starrte weiter auf den Vogel. Ein dicker Tropfen lavendelfarbenen Bluts rann langsam über eine seiner Brustfedern und tropfte auf die Truhe. Im Gesicht des Ausguckpostens stand keine Reue, nur Versunkenheit, verquickt mit einem Gefühl, für das ich keinen Namen fand. Vielleicht war kein Mensch dazu in der Lage.

»Dalusa«, sagte ich sanft.

Sie sprang in die Höhe und breitete ihre Schwingen ein wenig aus; der angeborene Reflex jeder fliegenden Kreatur. Ihre Füße verursachten Klicklaute, als sie das Deck wieder berührten. Ich blickte hinab. An jedem Fuß trug sie Sandalengeflecht aus Walhaut. Bänder legten sich quer über den Rist und wanden sich die Waden hinauf. Vom Ansatz der Zehen krümmten sich an jedem Fuß drei rostfreie Stahlhaken nach oben, fünfzehn Zentimeter lang und mit Metallzacken versehen.

Künstliche Klauen.

»Du bist auf der Jagd gewesen«, stellte ich fest.

»Ja.«

»Und hast diesen Vogel gefangen?«

»Ja.«

»Wirst du ihn essen?«

»Ihn essen?« wiederholte sie ausdruckslos. Verwirrt blickte sie mich an. Sie war verehrungswürdig. Ich spürte einen plötzlichen starken Drang, sie zu küssen.

Ich fand meine Fassung wieder. »Du trägst Klauen«, sagte ich.

»Ja!« sagte sie, beinahe trotzig. »Wir hatten alle welche, in den alten Zeiten.« Schweigen. »Hast du gewußt, habe ich dir erzählt, daß ich dabei war, als eure Leute meine zum ersten Mal getroffen haben?«

Ich blinzelte. »Eine wissenschaftliche Expedition?«

»Ja, das haben sie gesagt.«

»Sicher von der Akademie finanziert«, sagte ich zu mir selbst.

»Was?«

»Ach, nichts. Was ist geschehen?«

»Sie haben mit uns gesprochen«, sagte Dalusa. Langsam strich sie mit einem blassen Finger am Flügel des Vogels entlang.

»Wie schön sie gesprochen haben. Von meinem Platz in den Schatten ging mein Herz hinaus zu ihnen. Wie weise sie waren. Wie anmutig in der Art, wie sie gingen und stets den Boden berührten. Sie waren so fest und sicher. Aber die Älteren hörten zu und wurden zornig. Sie flogen von oben auf sie hinab und zerrissen die Menschenwesen, zerfetzten sie mit ihren Klauen. Ich konnte nichts tun, ich, nur ein Kind und nicht kikiye'. Ich konnte sie nur lieben und in der Dunkelheit für mich alleine weinen. Aber sogar ihr Blut war schön, reich und rot, wie Blumenblüten. Nicht wie das von diesem Ding …«

An der Luke ertönte ein dreifaches Klopfen. Calothrick. »Komm' rein«, rief ich. Calothrick trat ein und zog seine Maske ab. Wie erstarrt blieb er stehen, als er Dalusa sah.

»Ihr habt etwas zu besprechen«, sagte sie plötzlich. Sie zog die Ofenklappe auf, packte zwei Topflappen vom Haken an einem Schrank und zog eine zugedeckte Schüssel heraus. »Ich esse bei den Matrosen.«

»Nein, bleib!« sagte ich.

Eine Sekunde lang blieb sie stehen und sah mich mit solcher Gefühlsintensität an, daß ich zurückfuhr. »Wir werden später miteinander reden.« Sie nahm ihre Maske vom Tisch, eine porzellanweiße Maske mit einem einzelnen roten Blutstropfen aus dem Winkel des rechten Auges. Sie ging die Treppe hinauf; Calothrick, der herabkam, machte einen großen Bogen um sie. Sie ging hinaus, die Luke schlug zu.

»Unheimlich«, sagte Calothrick kopfschüttelnd. Strähnen seines wirren blonden Haars fielen über seine Augen. Er strich sie mit einer Hand zur Seite. Seine Fingernägel waren schmutzig. »Sag mal … du willst doch nicht mit diesem … ähmm …« - er suchte nach einem Substantiv und konnte es nicht finden - »mit ihr weitermachen, oder?«

»Ja und nein«, antwortete ich. »Ich könnte, wenn es irgendeinen Zweck hätte. Aber es hat keinen.«

»Damit?« fragte Calothrick ungläubig. Er sprach schriller als sonst. Ich musterte ihn aufmerksam. Ganz sicher, das Weiße in seinen Augen zeigte leichte gelbe Flecken - der Entzug des Flackerns. Er litt. »Was ist mit Millicent?«

»Ja, natürlich, sie ist immer da«, log ich geschmeidig. Nach der Art und Weise, in der sie mich betrogen hatte, würde ich sie nicht einmal mit der Kneifzange anfassen. »Aber was ist Liebe schließlich anderes als eine emotionale Besessenheit …?«

»Verursacht von sexueller Enthaltung, ja, ja, das kenne ich«, sagte Calothrick. »Aber diese Fledermaus-Frau verursacht mir 'ne Gänsehaut. Sie sieht ja prima aus, aber das ist doch alles Chirurgie, nicht? Ich meine, wenn die Skalpelle nicht an ihr rumgemacht hätten, hätte sie große Ohren, Klauen und Fänge. Sie hat ihr eigenes Zelt, weißt du. Die Jungs sagen, sie schläft mit dem Kopf nach unten. Hängt mit den Zehen an der Firststange.«

Ich war verärgert. »Mmm«, sagte ich. Ich wechselte das Thema. »Was hältst du vom Verhalten der Haie?«

»Haie? Keine Ahnung. Murphig hat vor einiger Zeit mit mir darüber gesprochen. Er verbringt 'ne Menge Zeit damit, Dinge zu beobachten, weißt du, er guckt sie einfach nur an. Er sagt, sie können den Tod über einige Entfernung hinweg riechen. Vielleicht sagt er, können sie ihn riechen, bevor er eintritt. Der Bursche ist genauso beknackt wie Desperandum. Ach ja, wo wir gerade von Murphig sprechen … was macht das Zeug?«

Ich öffnete eine Schranktür und nahm die Metallflasche heraus. Auf dem Grund war eine dünne Schicht des Syncophins. »Grausig«, sagte Calothrick, als er an der Flasche schnüffelte. Er zog sein Plastiketui aus dem Hemd und schüttete ein dünnes Rinnsal der Flüssigkeit hinein. »Oi, oi! Es ist schwarz«, bemerkte er, während er den Behälter verschloß. »Also, morgen als erstes, dann kriegt Murphig es.«

»Nicht zuviel«, warnte ich. »Es könnte außerordentlich starkes Zeug sein.«

»Klar, schon in Ordnung. Ich werde vorsichtig sein«, sagte Calothrick ungeduldig. »Ach, übrigens, guckst du dir heute nacht das Plankton draußen an? Toller Anblick.« Er befestigte seine Maske wieder, steckte das Flackern in sein Hemd und ging durch die Luke hinaus.

Ich setzte mich auf den Küchenstuhl und fing an, die Destillieranlage gewissenhaft zu säubern. Früher oder später würde ich etwas Schnaps darin destillieren müssen, und wenn es nur dazu diente, einen möglichen Verdacht Dalusas zu zerstreuen. Ich fragte mich, wieso ich von dieser Frau angezogen wurde. Es gab vermischte Motive, entschied ich.

Und die vielfachen Freuden, die ihre Gesellschaft bereitete, waren dabei nicht die kleinsten. Es mag Ihnen merkwürdig erscheinen, lieber Leser, aber versetzen Sie sich bitte an meine Stelle. Hat sich Ihre Freundin, Ihre Geliebte, Ihre Begleiterin schon einmal vorgebeugt und heiß auf Ihren Nacken gehaucht? Erinnern Sie sich an den quasi-erotischen Schauder, den Ihr Rückgrat hinabgesandt hat? Dann stellen Sie sich einen ähnlichen Reiz von Dalusa vor, deren Körpertemperatur die eines Menschen überstieg. Erinnern Sie sich an die ansteckende Erregung, die Ihnen vermittelt wird, wenn der Herzschlag Ihrer Partnerin sich beschleunigt? Der von Dalusa war fast doppelt so schnell wie der einer normalen Frau. Wenn die Vorstellung von der Frau als einem Objekt des Rätselhaften Sie reizt - nun, Dalusas fremde Herkunft verlieh ihr eine stete romantische Hülle. Und sie war schön. Was machte es schon, wenn ihre klassische Lieblichkeit das Geschenk chirurgischen Könnens war? Sie werden gewiß zustimmen, daß es die Seele im Innern ist, die wir lieben, eher als das reine Äußere. Sie stimmen dem zu, ob Sie es glauben oder nicht.

Das war die wesentliche Facette ihrer Anziehungskraft. Aber es gab eine starke unterschwellige Kraft, die Dalusa vielleicht mit Bedacht gepflegt hatte.

Jeder von uns hat sadomasochistische Eigenschaften. Meine schienen, auch wenn ich sie gut unter Kontrolle hatte, ziemlich stark zu sein. Ich hatte mir schon vor langer Zeit eingestanden, daß der Gebrauch von Drogen mich umbrachte. Diese Vorstellung war nur ein weiterer Teil meines Selbstbilds geworden. Aber Grausamkeit gegen sich selbst ist der erste und entscheidende Schritt zur Grausamkeit gegen andere.

Ich überdachte das alles, und es langweilte mich. Ich beschloß, an Deck zu gehen und mir das Plankton anzusehen, das Calothrick erwähnt hatte. Ich zog meine Staubmaske über.

Als ich durch die Luke trat, huschten die letzten Sonnenstrahlen über den Ostrand des nullaquanischen Kraters. Es war Nacht.

Aber es gab Sterne, und aus dem Meer um uns herum stieg ein schwacher grüner Glanz auf. Ich ging zur Reling und sah, daß um die Lunglance herum sich Quadratmeilen von Krill erstreckten, die in lebendem Licht brannten. Es war großartig. Plötzlich lächelte ich unter meiner Maske. Ich war froh, daß ich die Dinge getan hatte, die mich hierhergebracht hatten. Ich war froh zu leben, denn ich brauchte mein Leben, um das hier zu sehen.

Als ich an der Reling lehnte, flatterte vor mir plötzlich eine dunkle, geflügelte Gestalt, und in den dicht zusammengedrängten Kristallen tat sich ein schmaler, dunkler Streifen auf. Ein glühendes Kristallbündel bewegte sich mit der Leichtigkeit einer Schwalbe aus der Masse hinaus und befand sich plötzlich genau über mir. Grüne Kohlenstücke ergossen sich um mich herum, fielen wie Lava-Nuggets aus einem erkalteten Vulkan herab, prasselten über das Deck.

Die Haare in meinem Nacken wurden vom Luftzug ihrer Schwingen bewegt, als Dalusa neben mir niederging. Ein schwarzes gewebeähnliches Netz war noch immer an einem ihrer Knöchel befestigt.

Sie hatte mir im abgetrennten Fuß der Seemöwe Juwelen gebracht.