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Eine seltsame Enthüllung

 

AM VIEREN TAG UNSERER FAHRT machte ich eine merkwürdige Entdeckung. Es geschah, während ich den Laderaum des Schiffs nach etwas durchsuchte, das meinen einigermaßen anspruchsvollen Gaumen anregen konnte. Ich untersuchte ein Bierfaß mit meinem Seemannsmesser, als die Spitze der Klinge abglitt und mir das Messer aus der Hand flog. Als ich in der Dunkelheit einer Ecke des Laderaums nach ihm suchte, bemerkte ich plötzlich einen haarfeinen Spalt im Schott. Es handelte sich um die Nahtstelle einer getarnten Tür. Meine Neugier war geweckt. Die Tür besaß einen Riegel, den ich schnell fand; und so entdeckte ich, daß die Lunglance eine versteckte Kabine besaß.

In der engen Nische befanden sich verschiedene Einzelteile eines Motors, vervollständigt durch Batterien, einen Propeller, zwei große Sauerstofftanks und einen Zuber voll Leim. Der Leim war außergewöhnlich zäh. Ich fand mein Messer und tauchte die Klinge hinein. Ich mußte kräftig ziehen, um es wieder herauszubekommen. Ich verschloß den Zuber wieder, schloß die versteckte Tür, ging an Deck und warf das Messer über Bord. Es war unmöglich, den Leim abzubekommen, und es hätte mein Wissen um das Geheimnis verraten.

Wegen seiner Lage über einem tiefen Loch hat das Staubmeer längere Nächte als Tage. In dieser Nacht hatte ich viel Zeit, über meine Entdeckung herumzurätseln. Vor allem der Propeller verblüffte mich. Diese Geräte werden auf See niemals benutzt, weil sie Staubwolken aufwirbeln.

In einem war ich sicher: Nur Kapitän Desperandum konnte für die versteckte Nische verantwortlich sein, da nur er die Änderungen hatte anordnen können. Die meisten Walfängerkapitäne standen im Dienst einer Firma an der Küste, aber die Lunglance war im Besitz Desperandums.

Und damit fanden die Merkwürdigkeiten unseres Kapitäns noch kein Ende. Am nächsten Morgen befahl Desperandum plötzlich, alle Segel zu reffen. Die Lunglance lag still im Staub.

Desperandum kam aus seiner Kabine und trug mindestens zweihundertfünfzig Pfund hochwertigster Angelschnur. Das Deck ächzte unter seinem Gewicht, denn er selbst wog an die dreihundertsechzig Pfund. Er holte einen Haken von der Größe meines Arms hervor, befestigte einen Klumpen Haifischfleisch daran und warf ihn über Bord. Dann zog er sich in seine Kabine zurück und verlangte sein Frühstück. Eilends gehorchte ich. Er aß, schickte seine Maate hinaus und rief mich dann in seine Kabine.

Desperandums Kajüte war spartanisch ausgestattet; eine maßgefertigte Koje, einen Meter achtzig lang und einen Meter fünfzig breit; ein wuchtiger Drehstuhl aus Metall und ein Arbeitstisch, der von der Wand heruntergeklappt wurde. Kartenausschnitte von Nullaqua, handgezeichnet auf billigem, schnell gilbendem Diagrammpapier, waren mit Heftwachs an den Wänden befestigt. In der verglasten Vitrine zu meiner Rechten befanden sich Glaszylinder mit verschiedenen präparierten Proben nullaquanischer Fauna. Der ausgestopfte Kopf eines großen fleischfressenden Fischs war auf einer an die Heckwand geschraubten Metallplatte angebracht. Seine Kiefer klafften weit auf und enthüllten verfärbte, sägeblattartige Zähne. Darunter waren dicke Glasfenster, die einen Ausblick auf das unbewegliche graue Staubmeer erlaubten. Der Westrand des Kraters erhob sich am Horizont; er leuchtete im Sonnenlicht wie eine riesige Mondsichel.

»Newhouse«, sagte der Kapitän, während er sich mit einem Ächzen in den Drehstuhl setzte. »Sie kommen von der Erde. Sie wissen, was Wissenschaft ist.« Desperandum sprach leise und krächzend.

»Ja, Sir«, sagte ich, »und ich habe größten Respekt vor der Akademie.«

»Die Akademie.« Desperandums Widerwille war unverkennbar. »Sie irren, Newhouse, und Sie irren beträchtlich, wenn Sie wirkliche Wissenschaft mit diesem total altersschwachen Narrenhaufen in Verbindung bringen. Was kann man von Männern erwarten, die dreihundert Jahre aufbringen müssen, nur um den Doktortitel zu erlangen?«

»Ja, Sir«, sagte ich und stellte ihn auf die Probe. »Alte Leute neigen in der Tag manchmal dazu, sich zu verrennen.«

»Genau!« sagte er. Desperandum war scharfsinniger, als er aussah. »Ich bin Wissenschaftler«, sagte er. »Ohne Doktortitel, vielleicht, ein falscher Name, möglicherweise, aber das ist alles nur Firlefanz. Ich bin hier, um etwas herauszufinden, und wenn ich etwas herausfinden will, dann räume ich jedes Hindernis aus dem Weg. Ist Ihnen klar, wie wenig wirklich über diesen Planeten bekannt ist? Oder über diesen Ozean?«

»Die Menschen leben seit fünfhundert Jahren hier, Käpt'n.«

»Fünfhundert Jahre voller Einfaltspinsel, Newhouse. Reden wir von Mann zu Mann.« Mit seiner fleischigen, von blonden Haaren bewachsenen Hand wies er auf eine Metallbank neben der Tür. Ich setzte mich. »Alle wesentlichen Fragen über Nullaqua sind immer noch unbeantwortet. Die ersten Erkundungstrupps - mit Unterstützung der Akademie, wohlgemerkt - nahmen ein paar Proben, erklärten den Ort für bewohnbar, und zogen wieder ab. Beantworten Sie mir diese Frage, Newhouse: Warum enthält alles, was hier lebt, Wasser in seinem Gewebe, obwohl es nie regnet?«

Ich rief mir die Bücher ins Gedächtnis, die ich gelesen hatte, bevor ich nach Nullaqua gekommen war. »Nun ja, ich habe gehört … man sagt, es gebe eine Art schlammigen Untergrund tief unter der Oberfläche … irgend etwas über wasserhaltige Pilze, die zur Vermehrung an die Oberfläche treiben. Sie platzen auf, und das Plankton absorbiert das Wasser.«

»Keine schlechte Theorie«, sagte Desperandum abwägend. »Ich will der erste sein, der sie beweist. Damit wir uns richtig verstehen, ich habe nichts dagegen zu verdienen. Sie kriegen Ihren Anteil von einer erfolgreichen Fahrt wie jeder andere auch.«

»Darum habe ich nie Angst gehabt, Käpt'n.«

»Aber da sind viele kleine Fragen, die an meinem Verstand nagen. Was verursacht die Strömungen im Staub? Wie tief reicht er? Was lebt dort unten, welche Arten von Aasfresser gibt es? Wie finden sie ohne Sicht und ohne Echo-Orientierung ihre Nahrung? Wie atmen sie? Es ist die Undurchsichtigkeit des Meers, die mich rasend macht, Newhouse. Ich kann nicht hineinsehen.

Und dann noch etwas. Wir wissen, daß dieser Ort unbewohnbar war, als die Alte Kultur hier war. Warum haben sie Vorposten auf der luftleeren Oberfläche errichtet?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich scherzend. »Vielleicht haben sie sich vor etwas gefürchtet?«

»Ich fürchte mich nicht«, stellte Desperandum fest. »Aber wir müssen auch an die Besatzung denken. Die Leute können möglicherweise nicht verstehen, was ich tue; sie haben es nie verstanden. Sie sind den Leuten näher als ich; falls sie anfangen, unruhig zu werden, teilen Sie es mir mit. Ich werde dafür sorgen, daß es am Ende der Fahrt eine Prämie für Sie gibt.«

»Sie können sich auf mich verlassen, Käpt'n«, sagte ich, um ihn bei Laune zu halten. »Sie können vielleicht auch den jungen Calothrick in Betracht ziehen. Er kommt von der Außenwelt und ist noch näher bei der Crew als ich.«

Desperandums flache breite Stirn kräuselte sich, als er darüber nachdachte. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich mag ihn nicht. Trauen Sie ihm nicht. Er hat etwas Schmieriges an sich.«

Das überraschte mich. Calothrick und schmierig? Ich nahm mir vor, ihn daraufhin zu prüfen. Vielleicht hatte er Entzugssymptome.

Desperandum fuhr fort. »Jedenfalls danke ich für den Vorschlag. Sie sind entlassen. Ach, übrigens, zu Mittag Vogelfisch-Kasserolle!«

»Aye, aye, Sir.« Ich ging.

Wie merkwürdig, dachte ich. Warum gab sich Desperandum mit derart Nutzlosem wie Wissenschaft ab?

Meine Träumerei wurde durch einen Schrei von Flack, dem ersten Maat, unterbrochen. Kapitän Desperandum hatte etwas am Haken.

Voller Eifer trippelte Desperandum aus seiner Kabine. Er hatte das Ende der Angelleine um die Trommel einer Winde geschlungen und befahl nun, sie sofort einzuholen. Seine Ungeduld war enorm, und zwei Mannschaftsmitglieder begannen, die Winde mit ungeheurer Geschwindigkeit zu drehen.

Ohne Unterlaß holten sie die Leine ein. Plötzlich durchbrach der Fisch die Oberfläche und explodierte. Die schnelle Druckveränderung war zuviel für ihn gewesen.

Enttäuscht untersuchte Desperandum die Fetzen des Fisches, die am Haken geblieben waren. Kleine glänzende Fische nagten an den Überresten, die meterweit in alle Richtungen verstreut worden waren. Am Haken befand sich gerade soviel von einem zerrissenen Kopf, um festzustellen, daß die Kreatur blind gewesen war. Es gab keinen Hinweis darauf, wie sie in der luftleeren Tiefe atmete. Vielleicht atmete sie Silikon.

Desperandum unternahm einen zweiten Versuch. Diesmal setzte er den Kopf seines Fangs als Köder auf den Haken und warf ihn über Bord. Zwei andere Matrosen nahmen die Kurbel und begannen, die Leine abzurollen. Abwärts ging's, hundert Meter, zweihundert, dreihundert, vierhundert. Plötzlich packte irgend etwas den Haken, und die Winde begann sich mit irrwitziger Geschwindigkeit zu drehen; fast hätte sie den Arm des einen Matrosen gebrochen. Keiner wagte es, die Arretierung zu betätigen, die die Trommel stoppen würde; es hätte einem die Finger abreißen können.

»Abschneiden! Abschneiden!« sagte der zweite Maat.

»Keramikfaser!« überschrie Desperandum das Surren der Kurbel. »Sie wird halten!«

Auf einmal war die Leine zu Ende. Das Schiff rollte zur Seite, das Deck neigte sich, und mit schrecklichem Kreischen wurde die gesamte Winde von Deck losgerissen; einige Bolzen rissen ab, andere wurden einfach durch das Metall gerissen. Im Bruchteil einer Sekunde verschwand die mächtige Winde unter der Oberfläche.

Nachdenklich lehnte sich Desperandum auf die zerbrechliche Reling und beobachtete, wie der Staub an der Stelle, wo die Winde versunken war, aufgewirbelt wurde. Dann wandte er sich um und starrte auf die Walkräne, die an den Masten angebracht waren, als wären sie eine wundervolle TiefseeAngelausrüstung. Ich sah, wie einige Besatzungsmitglieder bedeutungsvolle Blicke wechselten. Desperandum kehrte in seine Kajüte zurück. Einen Augenblick später kam der Befehl, wieder Segel zu setzen. Die beiden Schmiede holten ihre Hämmer und die Reparaturausrüstung hervor und flickten die Löcher im Deck, die entstanden waren, als die Bolzen herausgerissen wurden.

Ich war auf dem Weg zur Küche, als vor mir plötzlich ein Schatten über das Deck huschte. Ich blickte nach oben und erschrak, als ich eine Art geflügeltes Monster sah, das durch die Luft glitt. Es hielt inne, flatterte und ließ sich präzise im Krähennest nieder. Es war Dalusa.

Aus den Hörnern im Krähennest ertönte eine Reihe von Signalen. Auf ihrem Erkundungsflug hatte die Ausguck-Frau zwei Meilen steuerbords einen Staubwal gesehen. Desperandum war sofort an Deck. Auf seinen Befehl hin drehte die Lunglance in den Wind auf Backbord-Position. Dann wurden Focksegelleinen schnell durch die Rollen gezogen, bis die Focksegel fast lotrecht im Wind standen. Einen Moment lang hing das Tauwerk schlaff; dann füllten sich die Segel mit einem dumpfen Knallen, und das Schiff krängte auf einen Steuerbordkurs. Die Focksegel wurden gespannt, und die Lunglance bewegte sich schwerfällig vorwärts. Die Lunglance bewegte sich immer schwerfällig. Sie war für große Geschwindigkeit gebaut, und es gab in dem 500-Meilen-Krater von Nullaqua kaum Chancen auf einen einigermaßen starken Wind.

Bald war der Wal in Sicht. Während das Schiff auf das lethargische Tier zukroch, öffneten drei der Matrosen Adern in ihrer Ellbogenbeuge und sammelten Blut in einem Becher. Blackburn, unser Harpunier, nahm den Becher und goß das Blut in die mittlere Kammer seiner kolbenartigen Harpune mit ihren vier glänzenden, mit Widerhaken versehenen Spitzen. Dann ging er gleichmütig zur Steuerbord-Harpunenkanone und lud sie. Es blieb genug Blut für zwei weitere Harpunen übrig, falls sie gebraucht wurden.

Es war merkwürdig - aber bequem -, daß menschliches Blut auf den Staubwal als tödliches Gift wirkte. Aber es war nicht merkwürdiger als die Tatsache, daß der Wal das Flackern produzierte. Wie alle guten Sachen ist auch Syncophin in ausreichender Menge ein tödliches Gift.

Wir segelten näher an das Tier heran, und es wurde größer und größer. Es schien, daß kein lebendes Geschöpf das Recht auf solch gewaltige Ausmaße haben konnte.

Plötzlich war an Steuerbord ein lauter Zonng-Laut zu hören. Aus der gewaltigen Masse in der Ferne wuchs plötzlich eine Harpune. Die Stille wurde durch einen schrillen Schrei unterbrochen. Es war der Wal.

Aufgeschreckt begann das Tier, auf uns zuzuschwimmen.

Blackburn ergriff die Gelegenheit, um eine zweite und eine dritte Harpune in den breiten, gepanzerten Rücken zu versenken. Mit einem letzten geängstigten Quieken ging die Kreatur unter, nur wenige Meter von unserem Bug entfernt. Es dauerte keine Minute, dann trieb sie an die Oberfläche - tot. Der Staubwal war ein gewaltiges, flunderähnliches Geschöpf, dreiundzwanzig Meter lang und an die neun Meter breit. Der größte Teil seines Körpers war sein Maul, ein gewaltiger Spalt, der vor Fischbein strotzte. In seinem Rachen hatte er Zähne, um das hartschalige nullaquanische Plankton zu zermalmen. Die beträchtliche Menge Silikon, die er auf diese Weise zu sich nahm, benutzte der Wal, einen zähen schwarzen Panzer zu bauen, der von Streifen grauer Walhaut gehalten wurde. Dieser Panzer ist zwar zäh, aber dehnbar; wäre er starr, müßte das Tier sich häuten, wenn es wuchs. Dem Wal gab es ein seltsames Sechseckmuster, das sich schwarz und grau über den gesamten Körper erstreckte. Man konnte das Alter eines Wals feststellen, indem man die Wachstumsringe auf einer Panzerplatte zählte. Die Ringe waren nicht sehr ausgeprägt, da Nullaqua keine Jahreszeiten kennt und die Nahrungsversorgung konstant ist. Aber die Jahresringe waren da, und es war selten, daß man einen Wal fand, der älter als fünfzig Jahre war. Wie alle nullaquanischen Oberflächenfische ist der Staubwal Luftatmer und Kaltblüter. Staubwale trifft man oft in Herden an.

Wir kreuzten an das tote Ungeheuer heran. Sechs Besatzungsmitglieder, darunter Calothrick, sprangen vom Schiff auf den Rücken der Kreatur; sie trugen große Haken, die an Metallseilen befestigt waren.

Der Ausguckposten stieß zweimal heftig ins Horn. Das war das Warnsignal für Haie. Ein weiteres Signal des kleineren Horns gab ihre Position an: drei Grad backbord.

Mr. Grent, der zweite Maat, überwachte den Verladevorgang. Er war jetzt aufgeregt, und die Matrosen sprangen hektisch auf dem Walrücken umher und versenkten ihre Haken so tief wie möglich im Fleisch des Ungeheuers. Das beste war, man erwischte eine Rippe.

Ich hatte schon viel über die nullaquanischen Haie gehört, also überquerte ich das Deck, um sie herankommen zu sehen. Was für eine Enttäuschung! Von Westen näherte sich ein kleiner Schwarm fliegender Fische, deren Chitinflügel wie Edelsteine in der Sonne aufblitzten. Waren das etwa die legendären Raubtiere, diese flatternden Geschöpfe, die kaum größer als irdische Goldfische waren? Aber vielleicht gab es eine ungeheure Anzahl von ihnen, mit kleinen, aber scharfen Zähnen und ohne jeglichen Trieb zur Selbsterhaltung …

Da sah ich unter den fliegenden Fischen Flossen die Oberfläche zerteilen, und ein halbes Dutzend glänzend schwarzer Körper pflügten wie heranschießende Torpedos durch den Staub. Es war verblüffend, fast schon makaber, als sich plötzlich die zwiebelförmige Spitze jeder Rückenflosse öffnete und ein großes, starres blaues Auge enthüllte!

Dann waren die fliegenden Fische also nur Lotsenfische, die die Haie im Austausch für ein paar Leckerbissen zum Schlachtplatz leiteten. Dank ihrer Flügel kamen sie viel höher und konnten viel weiter sehen als die staubgebundenen Haie.

Plötzlich drückte mir der dritte Maat, Mr. Bogunheim, einen langschäftigen Walfangspaten in die Hand und befahl mir schreiend, dabei zu helfen, die Raubfische zurückzutreiben. Nur zu gerne rannte ich über das Deck an die Reling, wo die übrige Besatzung stand.

Die Haie griffen bereits an. Der Staub trübte sich wie Lava, und dicke Spritzer rötlicher Flüssigkeit schossen aus dem zerfetzten Körper des Wals. Die Matrosen hatten alle Haken im Fleisch versenkt und sprangen auf Deck, wo sie relativ sicher waren. Die Winden und der dreifache Flaschenzug klapperten und knarrten, als der Wal langsam, ganz langsam an Bord gehievt wurde. Das Schiff bekam ein wenig Schlagseite. Ich rammte meinen Spaten in die wimmelnde Masse der Haie und spürte, wie er durch Fleisch stieß. Ein Matrose stöhnte unter seiner Maske, als einer der Lotsenfische auf das Deck flog und ihn schmerzhaft in die Wade biß. Diese Fische waren klein, besaßen aber scharfe Zähne. Sie flatterten an Bord, um die Matrosen zu stören, fielen auf das Deck und huschten dann auf ihren steifen Flügeln wie Riesenameisen über Bord.

Einen Moment unterbrach ich meinen Angriff auf die Haie, um einen fliegenden Fisch zu zertreten. Plötzlich wurde mir der Walfängerspaten fast aus den Händen gerissen. Erschrocken zog ich einen ein Meter fünfzig langen Metallstumpf heraus, der glatt durchgebissen war. Ich war bestürzt. Da sah ich einen Lotsenfisch auf mich zuflattern. Ich schwang den Stumpf wie einen Baseballschläger und schickte das Tier zerschmettert zurück ins Meer.

Plötzlich schwebte eine flüchtige Gestalt, von gekrümmten Schwingen in der Luft gehalten, über den Rand des Schiffes: Dalusa, die ein Netz aus metallenen Maschen hinter sich herzog. Der flatternde Haufen der Lotsenfische störte die Walfänger nicht länger und suchte eilig die Sicherheit des Meeres.

Die Mannschaft machte Platz, als der hochgehievte Wal langsam auf das Deck niederkam. Die Lunglance neigte sich, und dickflüssiges rötliches Blut rann unter der Reling ins Meer. Ein Hai, gefräßiger als die übrigen, sprang hinter seinem entschwundenen Opfer her auf das Deck. Zappelnd und zuschnappend biß er einen letzten blutenden Fleischklumpen heraus und rollte wieder über Bord.

Unschlüssig trieben die Haie in dem blutigen Staub. Dann zogen sie Ihre toten Artgenossen aus der Reichweite der Spaten, verschlangen sie gemächlich und schwammen lustlos davon.

Die Mannschaft machte sich daran, den Wal zu zerlegen. Zuerst wurde die gepanzerte Haut in Streifen geschnitten und dann in einer Kupferwanne mit einer Chemikalie getränkt, die sie geschmeidiger machte. Dann wurde das Fleisch mit Spaten und Äxten abgelöst. Stück für Stück wurde es in einen knarrenden, handbetriebenen Wolf gesteckt, um Tran und Wasser auszuscheiden. Unsere beiden Küfer zersägten die breiten, daubenförmigen Rippen und fingen an, sie zu elfenbeinernen Fässern zu verarbeiten. Die kleineren Rippen und einige der Wirbelknochen wurden für Schnitzereien aufbewahrt.

Unter dem Vorwand, Walsteaks herauszuschneiden, schaufelte ich ein paar Pfund Eingeweide in einen Eimer und versteckte ihn in der Küche.

Die Mannschaft schaffte die verbliebenen Abfälle mit Schaufeln und metallborstigen Besen über Bord. Ich schaute über die Reling. Wo die Feuchtigkeit auftraf, verklumpte sich der ausgetrocknete Staub zu einer schiefergrauen, teigigen Masse. Bald, so wußte ich, würden die kristallinen Sporen des nullaquanischen Planktons das Vorhandensein von Wasser spüren und zu wachsen beginnen; dann wuschen sie die ganze Feuchtigkeit durch ihre winzigen Porenaufsauger, um den Staub auf biochemischem Wege zu einer transparenten glimmerähnlichen Schale umzuwandeln. Eine seltsame Welt, dachte ich, in der ein Mann sich über die Reling beugen und Smaragde ausspeien konnte.

Eine primitive, aber bequeme Art der Syncophinextraktion war die Bearbeitung mit Methylalkohol. Als die Crew also in dieser Nacht zu feiern begann, nahm ich mir einige Liter Starkbier und machte mich jetzt ans Werk.

Das Verfahren war schon halb abgeschlossen, als ich ein hastiges dreifaches Klopfen an der Luke hörte. Ich nahm das Gebräu von der Flamme und stellte es in den Herd, dann ging ich die Treppe hinauf und öffnete die Luke. Es war Calothrick.

»Heiliger Tod«, lästerte er, ging die Stufen hinab und zog seine mit Blitzen bemalte Staubmaske ab. Auf seinen Schläfen und den mit spärlichen Bartstoppeln bewachsenen Wangen zeichneten sich rote Streifen von den Nahtstellen der Staubmaske ab. »Ich kann dieses Bier nicht ausstehen.« Er schnüffelte und grinste dann.

»Wußte doch, daß man sich auf dich verlassen kann, John«, sagte er glückstrahlend. Er öffnete den Reißverschluß seines Seemannsanzugs und zog ein flaches Plastiketui aus einer Innentasche. In einer Ecke waren ein paar Tropfen Syncophin.

»Ich habe etwas aufgespart«, sagte er, »willst du einen Schuß?«

»Warum nicht?« erwiderte ich. Calothrick zog seine Augenpipette aus dem Gürtel.

»Ich hatte vor, hier runterzukommen und mich ein bißchen zu unterhalten«, sagte er. »Du hast es ganz schön bequem hier unten. Du mußt dich nicht mit diesem stinkenden Haufen Matrosen zusammentun. Was für eine Bande von Schweigern! Ich glaube, sie wissen gar nicht, wie man sich unterhält. Ich meine, so wie du oder ich.« Er reichte mir die Pipette. »Hier, du kannst die erste haben.«

Ich schaute auf die reichliche Dosis Syncophin, die er mir in unangebrachter Großzügigkeit gegeben hatte. »Ich setz mich wohl besser dafür«, sagte ich.

Calothrick blinzelte mir zu. »Schon ein Weilchen hier, was? O Mann, ohne das Zeug nehmen die Tage überhaupt kein Ende!«

Ich öffnete den Mund und drückte fünf Tropfen Flackern auf meine Zunge. Eine metallisch anmutende Taubheit machte sich in meinem Mund breit. Meine Augen wurden wäßrig. Ich gab Calothrick die Pipette zurück. Er schüttelte den Beutel ein paarmal und saugte eine Dosis heraus, die noch größer war als jene, die er mir gegeben hatte. Meine Sicht verschwamm plötzlich. Ich schloß die Augen.

«Traniges Glück!« meinte Calothrick mit dem traditionellen Trinkspruch der Walfänger. Seine Stimme klang unnatürlich laut. Unbewußt griff ich nach der Sitzfläche meines Stuhls.

Am Ende meines Rückgrats setzte plötzlich ein eisiges Prickeln ein. Den Bruchteil einer Sekunde später schoß ein überwältigender Stromstoß wie ein kanalisierter Blitzschlag meine Wirbelsäule hoch und explodierte in meinem Schädel. Ich spürte es ganz genau. Die Spitze meines Schädels klappte säuberlich auf, und eine kalte blaue Flamme schoß mitten durch meinen Kopf. Schockartig öffneten sich meine Augen, und die

Flamme verringerte sich zu einem gleichmäßigen, ständigen Brennen wie das Flackern eines Schweißbrenners. Der Herd, die ungesäuberten Geschirrteile, Calothricks ekstatisches Gesicht - alles schimmerte in einem unnatürlichen Glanz, als ziehe jeder Gegenstand plötzlich schiere Energie aus einer inneren Quelle. Elektrische blaue Punkte und Rhomben trieben an den Rändern meines Blickfelds. Ich schaute auf meine Hände. Auch ich glühte.

»Wie lange?« fragte Calothrick plötzlich.

»Wie lange was?«

»Wie lange, bis du etwas Flackern destillieren kannst, das uns auffrischt.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich unter Schwierigkeiten. »Mit dem Destillieren kann ich bis morgen abend fertig sein, wenn ich mich dranhalte. Aber ich weiß nicht, wie gut es ist. Ich kenne seine Stärke nicht.«

»Oh, ich fürchte nicht, daß es zu stark sein wird«, sagte Calothrick. Er kicherte.

Ich dachte über den Topf voller Waleingeweide nach, die im nicht entzündeten Ofen langsam kalt wurden. Ich fühlte mich nicht willens, aufzustehen und den Topf wieder auf den Herd zu setzen. Es schien wie eine ungeheure Mühe, die offensichtlich meine Fähigkeiten überschritt.

»Worüber haben wir geredet?« fragte Calothrick.

Ich zögerte. »Darüber, wie stark es ist.«

»Ah ja, ich erinnere mich.«

»Einer von uns muß es zuerst ausprobieren«, sagte ich. »Es könnten Unreinheiten auftreten. Vielleicht gefährliche. Sollen wir Strohhalme ziehen?«

»Gefährlich«, sinnierte Calothrick. Er schien besorgt. Dann lächelte er. »Habe ich dir von diesem Burschen erzählt, der mich die ganze Zeit belästigt?«

»Nein. Wirst du schlecht behandelt? Hast du den Maaten davon erzählt?«

»Nein, darum geht es nicht. Es ist dieser Kerl Murphig. Ein Nullaquaner. Er ist zum ersten Mal draußen und stellt mir dauernd Fragen, weißt du - wo ich herkomme und was ich hier draußen will. Wirklich lästig. Ich meine, im Lügen bin ich nicht besonders gut.«

Eine merkwürdige Feststellung, dieser letzte Satz, dachte ich. Wenn das eine Lüge war, dann eine besonders perfekte Lüge, denn er hatte sie mit dem Anschein völliger Unschuld und Wahrheit ausgesprochen.

»Und?« meinte ich.

»Und er ist ungefähr in deiner Statur. Du hast ihn schon gesehen, der mit den grünen und weißen Zielscheiben auf den Wangen.«

»Ah ja.«

»Nun, warum sollen wir's nicht bei ihm ausprobieren?«

Ich dachte darüber nach. »Du willst, daß ich Flackern in sein Essen praktiziere?«

»Warum nicht?« erkundigte sich Calothrick. »Ich werde es tun, wenn du dich nicht … wenn du es nicht willst.«

Das Flackern verlor allmählich seine Wirkung. »Genau, du wirst es machen«, sagte ich. Ich rieb mein linkes Auge, das mit dem gräulichen Fleck; es fing zu schmerzen an. Ich erhob mich von meinem Stuhl, nahm den Topf aus dem Ofen und stellte ihn wieder auf die Flamme. Ich stellte sie größer.

»Drück ein paarmal auf die Pumpe, bitte, Dumonty«, sagte ich müde.

»Monty«, korrigierte er, während er pumpte. »Sag mal, du hast ja 'ne Menge da drin. Das wird sie auf der Hochinsel ganz schön glücklich machen, hm?«

»Ja, klar«, sagte ich. Aber meine ehemaligen Mitbewohner in der Piety Street hatten mich als Kanonenfutter benutzt, ihr Spielchen mit mir getrieben und mich zu ihrer Schachfigur gemacht. Ich war natürlich nicht auf Rache aus, das war unter meiner Würde. Nur auf simple Gerechtigkeit. Es würde in der Tat eine große Menge Syncophin da sein, selbst dann noch, wenn ich den Destillierprozeß beendet hätte. Aber sie würden nie etwas davon sehen. Das hatte ich schon entschieden.

Calothrick wollte widersprechen. Aber mit ihm würde ich mich später beschäftigen.