16. KAPITEL

Ich brauche deine Hilfe.“

Frisco sah durch das offene Seitenfenster zu Lieutenant Joe Catalanotto hoch, den Commander der Alpha Squad. Cat sah aus, als wäre er auf dem Sprung zu einem speziellen Trainingseinsatz. Er trug Tarnkleidung, darüber eine schwarze Kampfweste. Seine langen dunklen Haare hatte er im Nacken zusammengebunden.

„Jetzt sofort?“, fragte Cat und beugte sich vor, um besser ins Wageninnere sehen zu können. Sein scharfer Blick fiel sofort auf Thomas mit seinem zerschlagenen Gesicht und dem blutbefleckten T-Shirt.

„Ja“, erwiderte Frisco knapp. „Meine Schwester Sharon hat Ärger mit einem Drogenhändler. Er hat ihre kleine Tochter entführt, und ich muss ihn finden und die Kleine aus seinen Händen befreien.“

Joe Cat nickte. „Wie viele Männer brauchst du?“

„Wie viele hast du?“

Cat lächelte. „Wie wäre es mit der gesamten Alpha Squad?“

Sieben. Sechs davon aus Friscos ehemaliger Einheit – zusammen mit dem Mann, der ihn ersetzt hatte. Auf ihn freute er sich nicht besonders. Trotzdem nickte er. „Ausgezeichnet.“ Im Augenblick nahm er jede Hilfe, die er kriegen konnte. Es ging schließlich um Natasha.

Cat zog ein winziges Mobiltelefon aus seiner Westentasche, klappte es auf und wählte eine verschlüsselte Nummer.

„Ja, Catalanotto hier“, meldete er sich. „Streichen Sie den Flug für die Alpha Squad. Unser Einsatz verzögert sich …“ – er warf einen Blick zum wolkenlosen Himmel-„wegen miserabler Wetterbedingungen. Sofern keine andere Weisung vorliegt, verlassen wir den Stützpunkt um eins sechshundert. Ich habe ein Erkundungs- und Überwachungstraining angesetzt.“ Er klappte das Mobiltelefon zu und wandte sich wieder an Frisco. „Okay“, sagte er dann. „Lass uns die nötige Ausrüstung zusammenstellen, um diesen Typen aufzuspüren.“

„Wow! Tolle Couch, Frisco!“

Von eben dieser rosa Couch abgesehen sah Friscos Wohnung inzwischen eher wie eine Kommandozentrale aus.

Lucky hatte am Tag zuvor die letzten Spuren von Dwaynes Besuch beseitigt und die Couch ins Wohnzimmer gestellt. Jetzt hatten Bobby und Wes sämtliche Möbel im Wohnzimmer mit Ausnahme des Esstisches an die Wände gerückt. Bobby war groß und gebaut wie ein Schrank, Wes klein und schmal; die beiden waren seit der Kampfschwimmerausbildung unzertrennliche Schwimmkumpel.

„Du solltest die ganze Wohnung rosa streichen. Passt zu dir.“ 1,95 Meter groß, schwarz, Typ Quarterback, besaß Chief Daryl Becker, genannt Harvard, nicht nur den Abschluss einer Eliteuniversität, sondern auch bissigen Humor. Er lud seine Last, einen Haufen Gerätschaften für die Telefonüberwachung, auf dem Esstisch ab und begann, die Anlage betriebsbereit zu machen.

Als Nächster trudelte Blue McCoy ein. Der blonde SEAL schleppte sich mit etlichen offenbar sehr schweren Kisten ab: Angriffswaffen, die sie hoffentlich niemals brauchen würden. Selbst der sonst so wortkarge stellvertretende Commander der Alpha Squad konnte sich einen Kommentar zu der rosa Couch nicht verkneifen.

„Ich kann es kaum noch erwarten, deine neue Freundin endlich kennenzulernen“, stichelte er. „Bitte, sag mir, dass diese Couch ihr gehört.“

Mia.

Wo zum Teufel steckte sie eigentlich? Sie hätte doch längst zu Hause sein müssen.

Ihre Wohnung war verschlossen. Frisco hatte schon mindestens fünf Mal nachgesehen. Er hatte sogar angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen, in der Hoffnung, sie werde sich melden. Er hatte sich nicht entschuldigt – das wollte er lieber von Angesicht zu Angesicht erledigen. Sondern nur gesagt, dass er sie suchte und sie bitte zurückrufen möge.

„Fertig“, sagte Harvard plötzlich mitten in das Durcheinander hinein, während er das letzte Verbindungskabel zwischen PC und Telefon feststeckte. „Wir sind so weit. Von uns aus kann es losgehen. Wenn dieser Dwayne anruft, halte ihn so lang wie möglich in der Leitung, damit wir verfolgen können, woher der Anruf kommt.“

„Wenn Dwayne anruft … du meinst wohl, falls er anruft“, stieß Frisco frustriert aus. „Wie ich diese Warterei hasse!“

„Ach ja, ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß es macht, mit dem König der Ungeduld zusammenzuarbeiten.“ Mit diesen Worten trat Lucky ein. Ein zweiter Mann folgte ihm: Harlan Jones, genannt Cowboy, der heißblütige junge SEAL, der Friscos Platz in der Alpha Squad eingenommen hatte. Er nickte Frisco einen stummen Gruß zu. Wahrscheinlich lag ihm sowohl der Ernst der Situation – es ging schließlich um eine Kindesentführung – als auch diese Art des Zusammentreffens mit seinem unfreiwillig ausgeschiedenen Vorgänger in der Gruppe auf der Seele.

„Danke, dass du gekommen bist“, begrüßte ihn Frisco.

„Ich freue mich, dass ich helfen kann“, gab Cowboy zurück.

Nie zuvor war die Wohnung Frisco so winzig erschienen. Acht Riesenkerle drückten sich darin herum, dazu noch Thomas, und schon konnte man sich kaum noch bewegen. Aber es tat gut. Fast wie in alten Zeiten. Frisco wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er seine Kameraden vermisst hatte. Er hätte sich nur gewünscht, Tasha hätte nicht erst entführt werden müssen, um sie alle wieder zusammenzubringen.

Wobei er derjenige gewesen war, der den Kontakt abgebrochen hatte, auf Abstand zu seiner Einheit gegangen war. Ja, dass er nicht mehr dazugehörte, schnürte ihm fast die Luft ab. Ja, er war höllisch eifersüchtig. Dennoch war das, was er jetzt erlebte, immer noch besser als nichts. Besser, als endgültig alles hinzuschmeißen …

„Hast du was zu essen da?“, fragte Wes und verschwand in der Küche.

„Hey, Frisco, macht’s dir was aus, wenn ich mich in dein Bett haue?“, fragte Bobby und eilte durch den Flur nach hinten, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Und wer hat dich mit einem Baseballschläger bearbeitet?“, wandte Lucky sich an Thomas, der bisher still in einer Ecke gestanden hatte.

Der Junge lehnte bleich an der Wand und sah so aus, als sollte er sich besser setzen, wenn nicht sogar hinlegen. „Dwayne“, antwortete er. „Und das war kein Baseballschläger, sondern der Lauf seiner Pistole.“

„Vielleicht solltest du nach Hause gehen“, schlug Lucky vor, „und deine Wunden versorgen lassen.“

Thomas warf ihm einen eisigen Blick zu. „Nichts da! Ich bleibe, bis die Kleine wieder zu Hause ist.“

„Ich denke, die Alpha Squad …“

„Ich gehe nicht weg.“

„… kriegt die Sache auch allein …“

„Der Junge bleibt“, mischte Frisco sich ein.

Blue trat näher. „Du heißt Thomas, richtig?“, fragte er.

„Thomas King.“

Blue streckte dem Jungen die Hand entgegen. „Nett, dich kennenzulernen.“

Thomas nahm die angebotene Hand und schüttelte sie. „Wenn du uns helfen willst, zeige ich dir am besten schon mal, wie diese Geräte bedient werden. Einverstanden?“

Frisco setzte sich neben Joe Cat auf die rosa Couch, während Blue und Harvard Thomas einen Schnellkurs in Telefonüberwachung gaben. „Ich halte es nicht aus, einfach nur rumzusitzen und zu warten“, sagte er. „Ich brauche etwas zu tun.“

Wes, der gerade aus der Küche zurückkam, hatte die Bemerkung gehört. „Warum brühst du dir nicht eine Tasse Tee und machst es dir mit deiner Lieblingsausgabe von ‚Sinn und Sinnlichkeit‘ auf deiner schönen rosa Couch bequem?“

„Hey“, rief Harvard in dröhnendem Bass zu ihnen herüber. „Das habe ich gehört! Ich mag Jane Austen!“

„Ich auch“, warf Cowboy ein.

„Ach“, machte Lucky und tat erstaunt. „Seit wann kannst du denn lesen?“

Alle schüttelten sich vor Lachen. Frisco stand auf und ging hinaus auf den Laubengang. Er wusste, dass Humor den Männern der Alpha Squad half, mit Stress und Anspannung fertigzuwerden. Aber ihm war einfach nicht nach Lachen zumute. Er wollte nur eins: Natasha zurückhaben.

Wo war sie jetzt? Hatte sie Angst? Hatte Dwayne sie womöglich wieder geschlagen? Verdammt, wenn dieser Bastard es wagte, die Kleine auch nur anzufassen …

Die Fliegengittertür hinter ihm quietschte in den Angeln, und er drehte sich um. Joe Cat war ihm nach draußen gefolgt.

„Ich muss noch mal zu meiner Schwester“, beschloss Frisco kurzerhand. „Ich bin mir sicher, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Da steckt noch mehr dahinter.“

„Ich fahre dich hin“, bot Cat spontan an. „Ich sag nur schnell den anderen Bescheid.“

Auf dem Weg zu Cats Auto warf Frisco einen letzten Blick auf Mias immer noch verschlossene Wohnung. Wo in aller Welt steckte sie nur?

Mia trug Natasha über einen gepflegten Rasen zur Haustür einer großen Villa im spanischen Stil. Die Situation mutete sie grotesk an, denn es war heller Nachmittag, und sie befanden sich in einer wohlhabenden, gutbürgerlichen Wohngegend. Nur wenige Häuser weiter arbeitete ein Gärtner auf einem Nachbargrundstück. Sollte sie um Hilfe rufen? Oder versuchen zu fliehen?

Vielleicht hätte sie es riskiert, wenn sie allein gewesen wäre. Doch mit Natasha auf dem Arm und angesichts der Tatsache, dass Dwayne seine Waffe unter dem Jackett versteckt auf sie gerichtet hielt, ging sie lieber kein Risiko ein. Obwohl es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief, wenn sie daran dachte, dass sie den Ort, an den sie gebracht wurden, ebenso eindeutig identifizieren konnte wie ihren Entführer.

„Hätten Sie nicht besser daran getan, uns die Augen zu verbinden?“, fragte sie Dwayne.

„Und wie hätten Sie den Wagen mit verbundenen Augen lenken sollen? Außerdem sind Sie als meine Gäste hier. Ich muss Ihnen das Ganze doch nicht unangenehmer machen als unbedingt nötig.“

„Schon eigenartig, wie Sie das Wort Gast definieren, Mr. Bell“, sagte Mia, als Dwayne die Tür hinter ihr schloss.

Im Innern der Villa war es recht düster, weil die Jalousien alle heruntergelassen waren. Es war kühl; die Klimaanlage war offenbar sehr niedrig eingestellt. Irgendwo im Haus lief ein Fernseher. Tasha schlang ihre Ärmchen fester um Mias Hals. „Ich habe noch niemandem eine Pistole unter die Nase gehalten, nur um ihn in meine Wohnung einzuladen. Geisel trifft es wohl besser.“

„Momentan bevorzuge ich das Wort Pfand“, meinte Dwayne.

Ein Mann trat aus einem Zimmer, das die Küche sein mochte, und kam quer durch die große Eingangshalle auf sie zu. Er hatte sein Jackett abgelegt, sodass man sein Schulterholster sehen konnte. Er warf einen neugierigen Blick auf Mia und Natasha und wechselte ein paar geflüsterte Worte mit Dwayne. „Ramon soll sich darum kümmern“, sagte Dwayne gerade laut genug, dass Mia ihn verstand. „Und dann will ich mit euch beiden reden.“

Es waren also mindestens drei Männer im Haus, von denen auf jeden Fall zwei eine Waffe trugen. Mia sah sich aufmerksam um, während Dwayne sie eine Treppe hinaufführte, und versuchte, sich so viel wie möglich über die Anlage des Hauses einzuprägen. Jede Information konnte für Frisco von Wert sein, wenn er kam.

Frisco würde sie aufspüren, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Und dann würde er kommen.

„Es geht um wesentlich mehr, als ich dachte“, stieß Frisco zwischen zusammengepressten Lippen hervor, als er in den Wartesaal der Entzugsklinik zurückkam. Joe Catalanotto erhob sich von seinem Stuhl. „Sharon hat Bell keine fünftausend Dollar abgenommen, sondern fünfzigtausend. Sie hat die Buchhaltung manipuliert – und gehofft, er würde es nicht merken.“

Die beiden Männer verließen das Klinikgebäude und eilten zum Parkplatz, wo Joes Auto stand.

„Kann sie das Geld zurückzahlen?“

Frisco schnaubte verächtlich. „Machst du Witze? Das Geld ist längst weg. Das meiste davon ist für Spielschulden draufgegangen, und den Rest hat sie für Drogen und Schnaps auf den Kopf gehauen.“ Er blieb stehen. „Darf ich dein Handy benutzen? Sharon hat mir die Adresse der Wohnung gegeben, in der sie mit Bell gelebt hat.“ Er wählte die Nummer des Handys, das die Alpha Squad in seiner Wohnung benutzte.

Schon beim ersten Klingeln meldete sich Harvard.

„Ich bin’s, Chief“, sagte Frisco. „Irgendwelche Anrufe?“

„Bisher nicht. Du weißt, dass wir jeden Anruf direkt an dich weitergeleitet hätten.“

„Ich habe hier eine Adresse. Würdet ihr die bitte überprüfen? In Harper, der nächstgelegenen Stadt in östlicher Richtung.“ Er nannte Straße und Hausnummer. „Lucky und Blue sollen losfahren und sich dort mit uns treffen. Okay?“

„Hab’s schon gefunden“, erwiderte Harvard. „Ich drucke den beiden eine Karte aus. Dann machen sie sich sofort auf den Weg. Braucht ihr eine Wegbeschreibung?“

Cat hatte mitgehört. „Sag ihm, er soll uns die Karte zufaxen.“

Frisco starrte ihn verblüfft an. „Du hast ein Faxgerät in deinem Jeep?“

Cat lächelte. „Die Privilegien eines befehlshabenden Offiziers.“

Frisco beendete das Gespräch und wollte Cat das Handy zurückgeben, aber der wehrte ab. „Behalt es. Wenn die Lösegeldforderung kommt …“

Frisco begegnete dem Blick seines Freundes. „Wenn die Lösegeldforderung kommt, sollten wir den Anruf zurückverfolgen können“, sagte er finster. „Und darum beten, dass es nicht schon zu spät ist. Sharon hat mir erzählt, dass Dwayne Bell schon für wesentlich geringere Summen getötet hat.“

„Keiner zu Hause“, berichtete Lucky, als er und Blue McCoy lautlos neben Cats Jeep auftauchten. Sie parkten unweit von dem Haus, in dem Sharon mit Bell gelebt hatte.

„Ich bin durch ein Fenster im Erdgeschoss eingestiegen“, ergänzte Blue. „Soweit ich das auf die Schnelle sehen konnte, wohnt Dwayne Bell nicht mehr hier. Überall fliegt Kinderspielzeug rum, und auf dem Küchentisch liegt Post an Fred und Charlene Ford. Sieht ganz so aus, als wären neue Mieter eingezogen.“

Frisco nickte. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn Bell noch hier wohnte. Nun ja, einen Versuch war es wert gewesen.

Cat musterte ihn von der Seite. „Was willst du jetzt tun?“

Frisco schüttelte den Kopf. Nichts. Sie konnten jetzt nichts tun außer warten. „Ich will, dass das Telefon endlich klingelt.“

„Er wird anrufen, und wir kriegen Natasha zurück“, erklärte Lucky. Er klang sehr viel zuversichtlicher als Frisco sich fühlte.

Frisco und Cat waren auf halbem Weg zurück zu Friscos Wohnung, als das Handy klingelte. Cat hielt den Wagen am Straßenrand an, während Frisco sich meldete.

Harvard war in der Leitung. „Ein Anruf für dich“, verkündete er knapp. „Ich stelle direkt zu dir durch. Falls es Bell ist, vergiss nicht, ihn so lange wie möglich in der Leitung zu halten.“

„Alles klar.“

Es klickte einige Male im Hörer, dann war die Leitung frei.

„Hallo?“, sagte Frisco.

„Mr. Francisco“, erklang Dwayne Beils Stimme. „Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin und warum ich anrufe.“

„Lassen Sie mich mit Tasha reden.“

„Erst das Geschäft, dann das Vergnügen. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, mir das Geld zurückzugeben, das Ihre reizende Schwester mir schuldet. Fünfzigtausend plus zehntausend Zinsen.“

„Unmöglich! In vierundzwanzig Stunden schaffe ich das nie …“

„Wissen Sie, ich bin jetzt schon äußerst großzügig, weil Sharon und mich einmal viel verbunden hat. Es ist jetzt beinahe sechs Uhr. Wenn ich morgen um dieselbe Zeit das Geld nicht bar auf der Hand habe, töte ich das Mädchen. Und wenn es bis Mitternacht immer noch nicht da ist, ist das Kind dran. Ich bringe sie beide um, und Sharon wandert mit mir ins Gefängnis.“

„Moment, Dwayne! Sie sagten … beide? Erst das Mädchen, dann das Kind?“

Bell lachte. „Ach, Sie wissen es noch gar nicht? Ihre Freundin ist ebenfalls Gast in meinem Haus, zusammen mit der Göre.“

Mia. Zur Hölle, der Kerl hatte auch Mia in seiner Gewalt.

„Ich will mit ihr sprechen“, keuchte Frisco. „Sie müssen mir schon beweisen, dass die beiden noch am Leben sind.“

„Das hatte ich erwartet.“

Es gab eine Pause, ein Klicken in der Leitung und dann Mias Stimme: „Alan?“

Ihre Stimme hatte einen Nachhall. Dwayne hatte auf Mithören geschaltet.

„Ja, ich bin’s. Alles in Ordnung mit dir und Tash? Ist sie bei dir?“

Lucky tauchte lautlos neben dem Autofenster auf. Als Frisco zu ihm aufsah, deutete er auf sein eigenes Handy und hielt den Daumen in die Höhe.

Das bedeutete, dass Harvard den Anruf zurückverfolgt hatte. Sie wussten also, wo Bell war.

„Ja“, antwortete Mia. „Hör zu, Alan. Meine Eltern haben Geld. Geh zu ihnen. Ich hab dir doch erzählt, dass sie in der Nähe des Country Clubs in Harper wohnen, erinnerst du dich?“

Nein. Sie hatte gesagt, ihre Eltern lebten in Malibu.

„Sei aber vorsichtig. Mein Vater ist ein bisschen durchgeknallt und sehr misstrauisch. Hat eine richtige Waffensammlung und zwei Leibwächter.“

Harper. Waffen. Zwei Leibwächter. Verdammt, diese Frau hatte die Geistesgegenwart, ihm nicht nur ihren Aufenthaltsort verschlüsselt mitzuteilen, sondern auch noch durchblicken zu lassen, dass sie von zwei bewaffneten Männern bewacht wurden.

„Das reicht jetzt“, mischte Bell sich ein.

„Meine Eltern haben so viel Geld, wie Sie wollen“, fauchte Mia ihn an. „Aber wie soll Alan es holen, wenn ich ihm nicht sage, wo?“

„Ich habe die Adresse“, versicherte ihr Frisco mit ruhiger Stimme. „Ich kümmere mich um das Geld, du passt auf Tasha auf. Tash, ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ich will nach Hause“, meldete sich eine zittrige Kinderstimme.

„Sie hat ihre Arznei nicht genommen. Wenn sie wieder Fieber bekommt, dann setz sie in die Wanne und kühl sie ab. Verstehst du mich?“, redete Frisco eilig weiter. „Bleib im Badezimmer mit ihr, und rede mit ihr, damit sie keine Angst bekommt. Du weißt doch, sie mag es nicht, wenn es zu still ist. Sie ist noch zu klein, um den Geräuschen der Nacht so zu lauschen wie ich.“

Gott, hoffentlich verstand sie, was er ihr sagen wollte! Solange Mia und Tasha miteinander redeten, konnten die SEALs mithilfe ihrer Hightech-Mikrofone orten, wo genau im Haus die beiden sich befanden. Diese Information brauchten sie, um Bell und seine Männer erfolgreich überrumpeln zu können.

„Mia, bitte sei unbesorgt, ich hole das Geld. Ich hole es jetzt sofort, okay?“

„In Ordnung. Alan, bitte sei vorsichtig.“ Mias Stimme bebte. „Ich liebe dich.“

„Mia, ich …“

„Schluss jetzt.“ Bell unterbrach die Verbindung. Frisco verfluchte ihn und sich selbst. Was hatte er Mia eigentlich sagen wollen?

Ich liebe dich auch.

Die Worte hatten ihm auf der Zunge gelegen, ungeachtet der Tatsache, dass seine Kameraden mithören konnten. Ungeachtet der Tatsache, dass eine Beziehung zu ihm so ziemlich das Letzte war, was Mia gebrauchen konnte.

Ich liebe dich, hatte sie gesagt, und das, nachdem er sich ihr gegenüber so schäbig verhalten hatte. Nein, sie brauchte ganz sicher keine Beziehung mit ihm. Aber vielleicht, nur vielleicht, wünschte sie sie sich.

Er jedenfalls wünschte sie sich über alles, obwohl er vielleicht bereits alles zwischen ihnen kaputt gemacht hatte. Und das sehr, sehr gründlich.

Trotzdem, sie hatte es gesagt: Ich liebe dich.

„Wir haben es! 273 Barker Street in Harper.“ Lucky lehnte sich zum Fenster herein. „Harvard faxt uns eine Karte rüber. Thomas bleibt in deiner Wohnung und leitet jeden Anruf, der reinkommt, sofort an dich weiter. Wir treffen uns mit den anderen an Ort und Stelle.“

Frisco nickte, von plötzlicher Hoffnung erfüllt. „Dann nichts wie los!“

Einer von Dwaynes Männern folgte Mia und Natasha die Treppe hinauf.

Ihr Magen verkrampfte sich vor Anspannung. Genauso, wie sie ihm verschlüsselte Hinweise gegeben hatte, hatte Frisco ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich mit Tasha im Badezimmer aufhalten sollte. Setz sie in die Wanne. Wenn es zu einem Schusswechsel käme, konnte eine emaillierte Wanne möglicherweise eine brauchbare Deckung geben. Er hatte ihr gesagt, sie solle mit Tasha reden. Warum? Damit sie keine Angst bekommt. Warum reden? Sie sah keinen Sinn darin, aber er hatte sie darum gebeten. Also würde sie tun, was er wollte.

Gleich jetzt, hatte er gesagt. Ich habe die Adresse. Das konnte nur bedeuten, dass er bereits unterwegs war. Er wusste bereits, wo sie waren, und würde bald da sein.

Vor der offenen Badezimmertür blieb sie stehen und drehte sich nach ihrem Aufpasser um. „Wir müssen die Toilette benutzen.“

Er nickte. „Nur zu. Aber schließ die Tür nicht ab.“

Mia schob Natasha hinein und unterzog den Raum einer raschen Kontrolle: Waschbecken, Badewanne mit Duschvorhang, schmuddelige Toilette. Das winzige Fenster nicht zu öffnen. In einem schmalen Regal befanden sich ein paar Rollen Toilettenpapier und einige verwaschene Handtücher und Waschlappen.

Sie drehte das heiße Wasser auf und hielt einen Waschlappen darunter. „Hör zu, Tasha“, flüsterte sie. „Wir werden Dwayne und seinen Freunden jetzt einen Streich spielen. Wir tun so, als wärst du richtig krank, ja?“

Mit weit aufgerissenen Augen nickte die Kleine.

„Halt die Luft an, bis dein Gesicht rot ist“, befahl ihr Mia, während sie den Waschlappen auswrang. „So, der wird sich ziemlich heiß anfühlen, aber die sollen denken, dass du Fieber hast.“

Die Kleine atmete tief ein, hielt den Atem an und hielt tapfer still, als Mia ihr den heißen Waschlappen auf die Stirn drückte. Als sie endlich die Luft wieder ausstieß, war sie hochrot angelaufen, und ihre Stirn fühlte sich schweißnass an.

„Darf ich was trinken?“, fragte sie und drehte das kalte Wasser auf.

„Natürlich“, antwortete Mia. „Aber denk dran, du musst so aussehen, als ginge es dir richtig schlecht.“

Sie wartete, bis Tasha fertig getrunken hatte, und öffnete dann die Tür. „Entschuldigung, wir bleiben wohl besser hier drin. Natasha hat Fieber, und …“

Ein würgendes Geräusch hinter ihr ließ sie innehalten und sich umdrehen. Tasha kauerte über der Toilette, und aus ihrem Mund ergoss sich Flüssigkeit.

„Igitt.“ Der Mann mit der Pistole schloss angewidert die Tür von außen.

„Natasha“, rief Mia alarmiert, doch die Kleine funkelte sie spitzbübisch an. „War ich gut?“, fragte sie leise. „Ich habe viel Wasser in den Mund genommen und es in die Toilette gespuckt. Meinst du, der hat mir geglaubt, dass mir schlecht ist?“

Die Tür ging einen Spalt auf. „Dwayne will keine Sauerei im Haus. Er sagt, ihr müsst im Bad bleiben. Ich schließe euch hier drin ein. Braucht die Kleine eine Decke oder so?“

„Eine Decke wäre großartig.“ Mia lehnte sich erleichtert mit dem Rücken gegen die Tür. Teil eins war geschafft. Jetzt galt es, Teil zwei von Friscos Anordnung zu erfüllen und zu reden …

Und zu hoffen, dass er, wenn alles vorbei war, noch am Leben war und ihr erklären konnte, warum.