10. KAPITEL

Frisco saß im Wohnzimmer und reinigte seine Pistole.

Als Sharons liebenswerter Exfreund am Nachmittag sein Messer gezückt hatte, hatte Frisco zum ersten Mal seine Waffe vermisst.

Natürlich konnte er sie nicht offen tragen. Zwar hatte er einen Waffenschein, der ihn berechtigte, jederzeit jede Waffe mit sich zu führen, die er wollte, aber ein Pistolengurt um die Hüfte, wie ihn ein Polizist oder ein Westernheld trug, kam definitiv nicht infrage. Und wenn er sich für ein Schukerholster entschied, würde er zumindest in der Öffentlichkeit ein Sakko darüber tragen müssen. Das wiederum würde es erforderlich machen, auch eine lange Hose anzuziehen. Ein Sakko zu Shorts? Nein, das kam selbst für ihn nicht infrage.

Natürlich konnte er es auch einfach so machen wie Blue McCoy, der stellvertretende Commander der Alpha Squad. Blue zog selten etwas anderes an als verschlissene Jeans und ein olivenfarbenes Tarnhemd ohne Ärmel. Und sein Schukerholster direkt unter dem Hemd auf der bloßen Haut.

In Friscos Knie stach es heftig, und er warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Uhr. Fast null dreihundert. Fast drei Uhr morgens.

Steve Horowitz hatte ihm mehrere Ampullen eines hochwirksamen lokalen Schmerzmittels mitgegeben, doch es war noch zu früh die nächste Spritze. Die erste hatte er sich gesetzt, gleich nachdem Mia ihn nach Hause gebracht hatte.

Mia …

Er schüttelte entschlossen den Kopf. Jetzt bloß nicht an Mia denken. Mia, die nur durch ein paar dünne Wände von ihm getrennt in ihrem Bett lag, die Haare auf dem Kissen ausgebreitet, nichts an außer einem hauchdünnen Baumwollnachthemd. Die wunderschönen vollen Lippen im Schlaf halb geöffnet …

Oh ja, er war ein begnadeter Masochist. Jetzt saß er schon seit Stunden hellwach in seiner Wohnung. Und tat nichts anderes, als daran zu denken – nein, noch einmal zu durchleben – ‚ wie sie ihn am Strand geküsst hatte, wieder und wieder und wieder. Himmel, was war das für ein atemberaubender Kuss gewesen!

Seine Chancen, sie jemals wieder so zu küssen, standen äußerst schlecht. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie keinen Wert auf eine Wiederholung legte. Und wenn er wusste, was gut für ihn war, würde er künftig einen großen Bogen um sie machen. Schwer würde das kaum werden, denn auch sie würde sich Mühe geben, ihm nicht über den Weg zu laufen.

Ein dumpfes Krachen aus Natashas Zimmer ließ ihn aufhorchen. Was zum Teufel war das?

Frisco packte seine Krücken und die Pistole und humpelte eilig den Flur hinunter.

Er hatte der Kleinen einen billigen tragbaren Fernseher gekauft, dessen bläulich flackernder Schein das kleine Zimmer schwach erhellte. Das war wahrscheinlich das teuerste Nachtlicht der Welt, aber so schlief sie wenigstens, und er wurde nicht vom Fernseher gestört.

Natasha saß neben ihrem Bett auf dem Boden und rieb sich die Augen und den Kopf. Dabei wimmerte sie kaum hörbar vor sich hin.

„Arme Tash, bist du aus dem Bett gefallen?“, fragte Frisco und zwängte sich durch die Tür. Er sicherte seine Pistole und steckte sie in die Tasche seiner Shorts. „Komm, ab ins Bett mir dir. Ich decke dich zu.“

Doch als Tasha aufstehen wollte, taumelte sie, fast als hätte sie zu viel getrunken, und plumpste wieder auf den Po. Frisco musste mit ansehen, wie sie in sich zusammensackte und ihre Stirn auf den Boden drückte.

Frisco lehnte seine Krücken ans Bett und beugte sich hinunter, um das Mädchen hochzuheben. „Tasha, es ist drei Uhr morgens. Spiel jetzt keine Spielchen …“

Mein Gott! Das Kind war glühend heiß. Er befühlte ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Nacken, hoffte, dass er sich irrte. Hoffte, dass sie nur wegen eines Albtraumes so verschwitzt war, doch es gab keinen Zweifel. Sie hatte hohes Fieber.

Er hob sie hoch und legte sie ins Bett.

Wie war das möglich? Sie war doch den ganzen Tag wohlauf gewesen. Hatte begeistert ihre Schwimmstunde mit ihm absolviert und sich immer wieder in die Fluten gestürzt. Als er vom Krankenhaus zurückgekommen war, hatte sie bereits geschlafen. Kein Wunder – der Tag war lang, anstrengend und aufregend gewesen. Immerhin hatte die Kleine mit ansehen müssen, wie ihr Onkel vom gefürchteten Exlover ihrer Mom zusammengeschlagen worden war.

Sie hielt die Augen halb geschlossen, drückte den Kopf in das Kissen, als hätte sie starke Kopfschmerzen, und wimmerte leise vor sich hin.

Frisco war zu Tode erschrocken. Wie hoch mochte ihr Fieber sein? Sie fühlte sich unglaublich, gefährlich heiß an.

„Tasha, sprich mit mir“, forderte er sie auf und setzte sich neben sie aufs Bett. „Sag mir, was du hast. Wie sind die Symptome?“

Oh nein, was redete er da nur?! Wie sind die Symptome! Die Kleine war gerade mal fünf Jahre alt! Sie hatte das Wort Symptom vermutlich noch nie gehört, hatte keine Ahnung, was das war. Und so, wie es um sie stand, wusste sie womöglich nicht einmal, wo sie war. Wahrscheinlich nahm sie gar nicht wahr, dass er mit ihr redete.

Frisco hatte eine medizinische Grundausbildung, vor allem aber in Erster Hilfe. Er konnte Schusswunden und Messerstiche behandeln, Brand- und Platzwunden. Aber er hatte keine Ahnung, wie man sich bei kranken Kindern mit hohem Fieber verhielt …

Er musste Natasha ins Krankenhaus bringen.

Ein Taxi – aber er wusste nicht, wie er Tasha die Treppen hinunterbringen sollte. Er schaffte das ja kaum selbst mit seinen Krücken. Da konnte er die Kleine nicht auch noch tragen. Das wäre viel zu gefährlich. Wenn er sie nun fallen ließ?

„Ich bin gleich wieder da, Tash“, sagte er und schleppte sich zum Telefon in die Küche, wo auch das Telefonbuch lag.

Er schlug es auf, suchte sich die Nummer eines Taxi-Unternehmens heraus und wählte sie. Am anderen Ende klingelte es mindestens zehnmal, bevor endlich einer dranging.

„Yellow Cab.“

„Ja“, sagte Frisco. „Ich brauche sofort ein Taxi. 1210 Midfield Street, Apartment 2c. Das Apartmenthaus Ecke Midfield und Harris.“

„Wohin soll die Fahrt gehen?“

„Zum City Hospital. Und der Fahrer muss zu mir hochkommen. Ich habe hier ein kleines Mädchen mit hohem Fieber, und ich kann sie nicht allein die Treppe …“

„Tut mir leid, Sir“, wurde er unterbrochen. „Unsere Fahrer dürfen nicht aussteigen. Der Wagen wartet auf dem Parkplatz auf Sie.“

„Haben Sie nicht gehört, was ich gerade gesagt habe? Das ist ein Notfall! Ich muss die Kleine ins Krankenhaus bringen!“ Frisco strich sich frustriert und wütend mit der Hand durchs Haar. „Ich kann sie nicht allein die Treppe hinuntertragen! Ich bin …“ Er erstickte fast an den Worten. „Ich bin gehbehindert.“

„Es tut mir wirklich leid, Sir, aber das ist eine Vorsichtsmaßnahme, die der Sicherheit unserer Fahrer dient. Sie dürfen nicht aussteigen, unter keinen Umständen. Der Wagen wird in etwa neunzig Minuten bei Ihnen sein.“

„In neunzig Minuten? So lange kann ich nicht warten!“

„Soll ich Ihren Taxiruf stornieren, Sir?“

„Ja.“ Laut fluchend knallte Frisco den Hörer auf die Gabel. Dann nahm er ihn wieder ab und wählte schnell die Notrufnummer. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis jemand antwortete.

„Um was für einen Notfall handelt es sich?“

„Es geht um eine Fünfjährige mit hohem Fieber.“

„Atmet das Kind?“

„Ja …“

„Blutet es?“

„Nein, ich sagte, sie hat hohes Fieber …“

„Es tut mir leid, Sir. Uns liegen eine ganze Reihe dringender Notrufe vor, und die Rettungswagen sind alle unterwegs. Wenn Sie sie selbst ins Krankenhaus bringen, ist sie viel schneller hier.“

Frisco konnte sich nur mit Mühe beherrschen. „Ich habe kein Auto.“

„Ich kann sie auf die Warteliste setzen, aber da es sich nicht um eine lebensbedrohliche Situation handelt, wird jeder dringlichere Notfall, der jetzt noch hier aufläuft, vorgezogen werden, und Sie wandern immer wieder ans Ende der Liste“, erläuterte die Frau am anderen Ende. „Gegen Morgen wird es aber meist ruhiger, dann wird der Krankenwagen wohl kommen.“

Gegen Morgen. „Vergessen Sie’s“, entgegnete Frisco und legte auf.

Was jetzt?

Mia. Er würde Mia um Hilfe bitten müssen.

Er humpelte, so schnell es ging, zurück zu Natashas Zimmer. Sie hatte die Augen geschlossen, warf sich aber unruhig im Bett hin und her und fühlte sich immer noch glühend heiß an. „Halte durch, Prinzessin, ich bin gleich zurück.“

Ohne sich selbst die Chance zu geben, darüber nachzudenken, was er vorhatte, eilte er aus der Wohnung. Sekunden später klingelte er Sturm an Mias Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Was, wenn sie gar nicht zu Hause war?

Was tat er eigentlich hier? Gerade hatte er sich sechs Stunden lang selbst eingeredet, er müsse sich von dieser Frau fernhalten. Sie wollte ihn nicht, das hatte sie ihm zu verstehen gegeben. Und jetzt stand er mitten in der Nacht vor ihrer Tür, in der absolut demütigenden Lage, sie um Hilfe bitten zu müssen, weil er ein kleines Mädchen, ein Federgewicht, nicht allein die Treppe hinuntertragen konnte.

Endlich ging das Licht in ihrer Wohnung an, und Mia öffnete die Tür, den Bademantel noch gar nicht ganz übergezogen.

„Alan, was ist los?“

„Ich brauche deine Hilfe.“ Wie schwer es ihm fiel, diese Worte auszusprechen! Er hätte sie niemals um Hilfe gebeten, wenn es nicht um Natasha ginge. Wenn er es selbst wäre, der mit hohem Fieber im Bett läge, würde er lieber sterben, als sie zu fragen. „Tasha ist krank. Sie hat hohes Fieber … Ich muss sie ins Krankenhaus bringen.“

„Ja.“ Mia zögerte keine Sekunde. „Ich zieh mir nur schnell was über und komme dann mit dem Auto zur Treppe.“

Sie drehte sich um und wollte zurück in die Wohnung, aber er hielt sie auf.

„Warte.“

Mia drehte sich nach ihm um. Er starrte zu Boden. Als er aufblickte, lag nicht der übliche eisige Zorn in seinen Augen, sondern nur brennende Scham. Er konnte ihrem Blick kaum standhalten, schaute verlegen zur Seite, zwang sich aber sofort, sie wieder anzuschauen und ihr in die Augen zu sehen.

„Ich kann sie nicht die Treppe hinuntertragen.“

Mia schlug das Herz bis zum Hals. Sie wusste, wie hart es Frisco ankam, diese Worte aussprechen zu müssen, und hoffte verzweifelt, die richtige Antwort darauf zu finden. Sie wollte das nicht herunterspielen. Sie wollte ihn aber genauso wenig noch mehr in Verlegenheit bringen, indem sie der Sache zu viel Gewicht beimaß.

„Natürlich nicht“, erwiderte sie ruhig. „Auf Krücken wäre das viel zu gefährlich. Ich hole den Wagen, und dann komme ich hoch und trage Natasha nach unten.“

Er nickte und verschwand.

Sie hatte die richtigen Worte gefunden, aber sie hatte keine Zeit, sich ihrer Erleichterung hinzugeben. Mia rannte in ihr Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

„Eine Mittelohrentzündung?“ Frisco starrte den Arzt in der Notaufnahme entgeistert an.

Der junge Assistenzarzt nickte und lächelte ihm freundlich zu. „Ich habe ihr ein Antibiotikum gegeben und ein fiebersenkendes Mittel“, sagte er und schaute von Frisco zu Mia hinüber. „Außerdem abschwellende Tropfen. Dieser Medikamentenmix setzt sie eine Weile außer Gefecht. Machen Sie sich also keine Sorgen, wenn sie morgen früh länger schläft als gewöhnlich.“

„Das ist alles?“, wiederholte Frisco ungläubig. „Nur eine Mittelohrentzündung?“ Er schaute auf Tasha hinunter, die zusammengerollt und fest schlafend in ihrem Krankenhausbett lag. Sie wirkte so unglaublich klein und zerbrechlich mit ihren rotblonden Haaren auf dem weißen Kopfkissen.

„Ihr kann noch ein, zwei Tage etwas schwindelig sein“, fuhr der Arzt fort. „Wenn möglich, sollte sie im Bett bleiben. Und es ist ganz wichtig, dass sie das Antibiotikum, das ich ihr verschreibe, bis zur letzten Tablette nimmt. Ach ja, wenn sie das nächste Mal schwimmen geht, sollte sie Ohrstöpsel tragen. Okay?“

Frisco nickte. „Wollen Sie sie nicht noch zur Beobachtung hierbehalten?“

„Dazu besteht kein Anlass. Das Fieber ist schon gesunken. Sie wird sich zu Hause wohler fühlen. Wenn keine weitere Besserung eintritt, rufen Sie mich an.“

Eine Mittelohrentzündung. Nichts Lebensbedrohliches wie Scharlach, Hirnhaut-, Blinddarm- oder Lungenentzündung. Frisco konnte es fast nicht glauben. Noch immer spürte er das beklemmende Gefühl unglaublicher Angst und völliger Hilflosigkeit in seiner Brust.

„Komm, bringen wir sie heim.“ Mia berührte ihn leicht am Arm.

„Ja“, sagte er und blickte um sich, versuchte, sich zu sammeln. Wann endlich verschwand die seltsame Beklemmung und Furcht, die ihn gefangen hielt? Wann würde er endlich Erleichterung verspüren? „Ich glaube, für heute habe ich genug vom Krankenhaus.“

Die Heimfahrt verging wie im Flug. Mia trug die schlafende Natasha nach oben, legte sie ins Bett und deckte sie mit einer leichten Decke zu. Frisco sah ihr dabei zu. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass sie sich um die Kleine kümmerte, weil er selbst das nicht konnte.

„Du solltest dich jetzt auch hinlegen“, wandte Mia sich flüsternd an ihn, als sie Tashas Zimmer verließen. „Es wird fast schon wieder hell.“

An der Wohnungstür blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. Ihr Gesicht lag im Schatten. „Alles in Ordnung mit dir?“

Nein. Nichts war in Ordnung. Trotzdem nickte er. „Ja.“

„Na dann: Gute Nacht.“ Sie öffnete die Tür.

„Mia …“

Sie blieb stehen, schaute zu ihm zurück. Schweigend stand sie da, wartete, dass er weitersprach.

„Danke.“ Seine Stimme klang heiser, und zu seinem Entsetzen spürte er auf einmal, wie ihm Tränen in die Augen schössen. Zum Glück war es zu dunkel, als dass sie es hätte sehen können.

„Gern geschehen“, erwiderte sie ruhig und zog leise die Tür hinter sich zu.

Sie verschwand, nicht aber die Tränen in seinen Augen. Frisco konnte nichts dagegen tun, sie liefen einfach über und liefen über seine Wangen. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle, schüttelte seinen Körper, und noch einer und noch einer. Gott, er weinte wie ein Baby.

Er hatte geglaubt, Tasha würde sterben.

Und er hatte entsetzliche Angst ausgestanden. Ausgerechnet er! Lieutenant Alan Francisco! Als SEAL hatten ihn die gefährlichsten Missionen tief in feindliches Gebiet geführt. Wie oft hätte er dabei getötet werden können, nur weil er Amerikaner war. Er hatte in Cafés gesessen und gegessen, inmitten von Menschen, die keine Sekunde gezögert hätten, ihm die Kehle durchzuschneiden, wenn sie gewusst hätten, wer er wirklich war. Er war in eine Terrorfestung eingedrungen und hatte den Terroristen die gestohlenen Nuklearwaffen wieder abgenommen. Mehr als einmal hatte er dem Tod – seinem eigenen, wohlgemerkt – ins Auge gesehen. Immer hatte er dabei entsetzliche Angst gehabt. Nur ein Narr hatte nie Angst. Jene Angst hatte dafür gesorgt, dass er wachsam und auf der Hut blieb und nie die Selbstbeherrschung verlor. Aber jene Angst war nichts, verglichen mit dem nackten, hilflosen Schrecken, den er in dieser Nacht erlebt hatte.

Frisco stolperte in den Schutz seines Schlafzimmers. Die Tränen liefen und liefen, und er konnte nichts dagegen tun. Verdammt noch mal, er wollte das nicht! Tasha war in Sicherheit. Schon bald würde es ihr wieder gut gehen. Er sollte doch seine Gefühle doch so weit unter Kontrolle haben, dass er sich in seiner Erleichterung darüber nicht völlig in Tränen auflöste.

Er biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen die Tränen an. Und verlor.

Ja, Tasha war in Sicherheit und alles war gut gegangen. Dieses Mal. Aber was wäre gewesen, wenn er sie nicht ins Krankenhaus hätte bringen können? Der Arzt hatte gesagt, sie seien gerade rechtzeitig gekommen. Das Fieber hätte rasch gefährlich hoch werden können.

Was wäre gewesen, wenn Mia nicht zu Hause gewesen wäre? Wenn er Tasha nicht die Treppen hinunterbekommen hätte? Wenn ihr Fieber lebensgefährlich hoch geworden wäre, während er noch nach Wegen gesucht hätte, sie ins Krankenhaus zu bringen? Wenn sie in Lebensgefahr geschwebt hätte, nur weil er nicht in der Lage war, ein Kind ein paar Treppen hinunterzutragen? Wenn sie gestorben wäre, nur weil er im zweiten Stock lebte? Wenn sie gestorben wäre, weil sein dämlicher Stolz ihn daran hinderte, die Wahrheit einzugestehen – nämlich, dass er gehbehindert war?

Er hatte es heute Nacht ausgesprochen, im Gespräch mit der Taxizentrale. Ich bin gehbehindert. Er war kein SEAL mehr. Er war ein Krüppel mit einem Stock – jetzt sogar mit Krücken – ‚der möglicherweise ein Kind hätte sterben lassen, nur weil ihm sein dämlicher Stolz im Weg war.

Frisco warf sich auf sein Bett und ließ den Tränen freien Lauf.

Als Mia ihre Handtasche auf den Küchentresen legte, erklang ein merkwürdiges Geräusch. Sie hob sie hoch und setzte sie wieder ab. Klonk.

Was konnte das sein?

Es fiel ihr wieder ein, noch bevor sie den Reißverschluss geöffnet hatte.

Tashas Medizin. Frisco hatte das Rezept gleich in der Krankenhausapotheke eingelöst; die Kleine sollte die nächste Dosis bekommen, wenn sie aufwachte, spätestens aber gegen Mittag. Am besten ging Mia gleich noch einmal hinüber und brachte Frisco das Medikament.

Sie verließ ihr Apartment und lief hinüber zu Frisco. Alle Fenster von 2c waren dunkel. Zu dumm. Vorsichtig öffnete sie die Fliegentür, die leise in den Angeln quietschte, und drehte den Türknopf.

Frisco hatte nicht abgesperrt. Gut.

Leise und verstohlen schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche und wollte eben das Antibiotikum in den Kühlschrank stellen, als sie etwas hörte.

Was war das? Mia erstarrte.

Es war ein seltsames, leises Geräusch gewesen. Mia wagte kaum zu atmen, während sie lauschte, ob es sich wiederholte.

Da, da war es wieder. Schnelles, stoßweises Atmen, beinahe lautloses Weinen. War das Tasha? War sie aufgewacht? Schlief Frisco bereits so fest, dass er sie nicht hörte?

Leise huschte Mia durch den Flur zum Zimmer des Kindes und sah hinein. Die Kleine lag schlafend in ihrem Bett. Sie atmete tief und gleichmäßig.

Da war es wieder. Als sie sich umdrehte, sah sie Frisco im Dämmerlicht seines Schlafzimmers sitzen, vornübergebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben. Ein Bild des Jammers und der Verzweiflung.

Alan Francisco weinte.

Mia war zutiefst erschüttert. Nie hätte sie erwartet, dass er weinen würde. Sie hatte ihn für unfähig gehalten, seinen Gefühlen auf so offensichtliche Weise Ausdruck zu geben. Und sie hatte gedacht, er würde alles in sich hineinfressen, seine Gefühle vor sich selbst leugnen.

Aber er weinte.

Vor Mitgefühl brach ihr fast das Herz. Sie tastete sich lautlos den Weg zurück, den sie gekommen war. Auf keinen Fall durfte er wissen, dass sie Zeugin seiner, wie er es sehen würde, Schwäche geworden war. Das würde ihn nur beschämen und demütigen. Lautlos zog sie sich zurück und verließ die Wohnung. Erst als sie die Eingangstür leise hinter sich geschlossen hatte, wagte sie wieder zu atmen.

Und nun?

Sie konnte ihn doch nicht einfach allein seinem Schmerz überlassen und in ihre Wohnung zurückgehen. Außerdem hielt sie noch immer Tashas Medikament in der Hand.

Also atmete sie tief durch und klingelte. Obwohl sie es für möglich hielt, dass er – sofern er überhaupt an die Tür kam und öffnete – einfach das Medikament entgegennehmen und sie wieder ausschließen würde.

Da sich drinnen nichts rührte, öffnete sie das Fliegengitter, klopfte an die Tür und öffnete sie einen Spalt. „Alan?“

„Ja.“ Seine Stimme klang rau. „Ich bin im Bad. Komm rein, ich bin gleich da.“

Mia trat ein, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Sollte sie Licht machen? Aus dem Badezimmer hörte sie Wasser rauschen. Wahrscheinlich wusch Frisco sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, um zu verbergen, dass er geweint hatte. Sie ließ das Licht aus.

Als er schließlich am Ende des dunklen Flurs auftauchte, machte er ebenfalls keine Anstalten, das Licht anzuschalten. Er sagte kein Wort, stand einfach nur da.

„Tashas Medizin war noch in meiner Handtasche, und ich wollte sie lieber gleich vorbeibringen, statt bis … morgen früh zu warten …“

„Möchtest du eine Tasse Tee?“

„Ja, gerne“, erwiderte sie überrascht. Mit einer Einladung zum Tee hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

Seine Krücken quietschten etwas, als er zur Küche ging. Mia folgte ihm ein wenig zögernd.

Er knipste auch hier kein Licht an. Es war auch nicht nötig. Die Parkplatzbeleuchtung, die durchs Fenster schien, tauchte die Küche in einen bläulichen Schimmer und warf bizarre Schatten an die Wände.

Frisco füllte den Wasserkessel, und Mia stellte Tashas Medikament in den Kühlschrank. Dabei fiel ihr Blick wieder auf Friscos Liste, auf all die Dinge, die er nicht mehr tun konnte. Derentwegen er aus seiner Sicht kein ganzer Mann mehr war.

„Ich weiß, dass es dir sehr schwergefallen sein muss, mich um Hilfe zu bitten“, meinte sie leise.

Auf nur eine Krücke gestützt, hob Frisco den vollen Wasserkessel aus der Spüle, trug ihn zum Herd und schaltete die Platte ein. Dann drehte er sich zu ihr um.

„Ja“, gab er zu. „Das ist es.“

„Ich bin sehr froh, dass du es trotzdem getan hast. Dass ich helfen konnte.“

„Ich dachte …“ Er räusperte sich. „Ich dachte tatsächlich, sie würde sterben. Ich hatte entsetzliche Angst.“

Seine Offenheit überraschte sie. Ich hatte entsetzliche Angst. Nie hätte sie erwartet, dass er so etwas zugab. Niemals. Dieser Mann überraschte sie immer wieder.

„Ich weiß nicht, wie Eltern mit so etwas fertig werden“, fuhr er mit erstickter Stimme fort. „Stell dir vor, da ist dieses Kind, das dir mehr bedeutet als dein eigenes Leben, und dann ist es auf einmal so krank, dass es nicht einmal aufstehen kann.“

Nach einer Pause, in der er gedankenverloren aus dem Fenster sah, fügte er hinzu: „Das Schlimmste dabei war: Wenn ich ganz und gar auf mich allein gestellt gewesen wäre, hätte ich sie nicht ins Krankenhaus schaffen können. Ich säße immer noch hier und würde mir das Hirn zermartern, wie ich sie die Treppen runterkriegen soll.“ Er drehte sich um und schlug in hilfloser Wut mit der Faust auf die Arbeitsplatte. „Ich hasse es, mich so verdammt hilflos zu fühlen.“

Er wirkte so angespannt und gequält. Mia schlang ihre Arme um sich, um sie nicht nach ihm auszustrecken. „Aber du bist nicht allein auf der Welt. Du bist nicht allein.

„Aber ich bin hilflos.“

„Nein, auch das bist du nicht“, widersprach sie. „Nicht mehr. Du bist nur hilflos, wenn du dich weigerst, um Hilfe zu bitten.“

Bitter lachte er auf. „Ja, genau …“

„Ja“, sagte sie ernst. „Ganz genau. Denk doch mal darüber nach, Alan. Es gibt so viele Dinge im Leben, die wir nicht selbst tun können. Nimm zum Beispiel dein T-Shirt.“ Sie trat näher an ihn heran und befühlte den weichen Baumwollstoff. „Du hast es nicht selbst genäht, nicht wahr? Du hast die Baumwolle nicht gepflückt, den Stoff nicht gewebt. Eine ganze Menge Leute haben daran gearbeitet, dass aus flaumig gefüllten Samenkapseln ein T-Shirt wurde. Bedeutet das etwa, dass du hilflos bist, nur weil du es nicht selbst hergestellt hast?“

Mia stand viel zu dicht vor ihm. Sie konnte seinen männlichen Duft riechen, dazu einen Hauch von Aftershave oder Deo. Er musterte sie. Das Licht der Parkplatzbeleuchtung, das durchs Fenster hereinfiel, warf harte Schatten auf sein Gesicht. Seine Augen schimmerten farblos, aber darin loderte eine Glut, die auch ohne Farbe deutlich zu sehen war. Sie ließ sein T-Shirt los, trat aber nicht zurück. Sie wollte nicht von ihm abrücken, auch wenn sie damit riskierte, dass das Feuer in seinen Augen auf sie übersprang und sie in Flammen setzte.

„Bist du nun hilflos, weil du deine Kleidung nicht selbst nähst?“, fuhr sie fort. „Nein, denn Levis und Fruit of the Loom tun das für dich. Du kannst Natasha nicht die Treppe hinuntertragen? Gut, dann trage ich sie für dich.“

Frisco schüttelte den Kopf. „Das ist nicht das Gleiche.“

„Es ist genau das Gleiche.“

„Und wenn du nicht zu Hause bist, was dann?“

„Dann rufst du Thomas an. Oder deinen Freund … wie heißt er noch gleich? Lucky. Und wenn du sie nicht erreichst, dann rufst du jemand anderen an. Statt des Zettels da“, sie deutete auf die Liste am Kühlschrank, „solltest du dort eine Liste mit Freunden hängen haben, die du um Hilfe bitten kannst. Denn du bist nur hilflos, wenn du niemanden hast, den du anrufen kannst.“

„Werden sie für mich am Strand entlangrennen?“, fragte Frisco mit erstickter Stimme. Er trat noch näher an sie heran, gefährlich nah. Nur wenige Zentimeter trennten sie, und sie spürte seinen Atem heiß auf ihrer Wange. „Werden sie sich für mich in Form bringen, für mich den aktiven Dienst bei den SEALs übernehmen? Können sie für mich an Einsätzen teilnehmen, rennen, wenn ich rennen muss, gegen eine starke Strömung anschwimmen, wenn ich es muss? Können sie für mich aus dem Flugzeug abspringen? Für mich kämpfen? Sich für mich lautlos bewegen? Können sie all das tun, was ich tun müsste, um mich und meine Kameraden am Leben zu halten?“

Mia schwieg.

„Du verstehst das nicht.“ Der Wasserkessel begann zu pfeifen, und Frisco wandte sich von Mia ab. Er hatte sie nicht berührt, aber seine Nähe war körperlich spürbar gewesen. Mia trat ein paar Schritte zurück und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Er nahm den Teekessel vom Herd und holte zwei Tassen aus dem Schrank. „Wenn ich nur wüsste, wie ich es dir erklären soll.“

„Versuch es. Versuch, es mir zu erklären.“

Schweigend öffnete er den Küchenschrank erneut und nahm zwei Teebeutel heraus, hängte sie in die Tassen und überbrühte sie mit heißem Wasser. Dann stellte er den Kessel zurück, bevor er stockend zu erzählen begann.

„Du weißt ja, dass ich hier in San Felipe aufgewachsen bin“, sagte er, „und dass meine Kindheit nicht gerade glücklich war. Um genau zu sein: Sie war die Hölle. Mein Vater arbeitete auf einem Fischerboot, wenn er nicht zu betrunken war.“ Er blickte auf. „Nimmst du die Tassen bitte mit ins Wohnzimmer?“

„Natürlich.“ Mia warf ihm einen Blick von der Seite zu. „War das wirklich so schwer?“

„Allerdings.“ Frisco schleppte sich auf seinen Krücken ins Wohnzimmer, wo er eine einzige Lampe anknipste, die den Raum in ein weiches, fast goldenes Licht tauchte. „Entschuldige mich einen Moment.“ Damit verschwand er wieder im Flur.

Mia stellte die beiden Tassen auf den kleinen Couchtisch vor der Couch und setzte sich.

„Ich habe nach Tash gesehen“, erklärte er, als er zurückkam. „Außerdem brauchte ich das hier.“ Damit setzte er die Plastiktüte auf dem Tisch ab, die der Arzt ihm gegeben hatte. Mit einem leichten Stöhnen ließ er sich am anderen Ende der Couch nieder und hob das verletzte Bein auf den Tisch. Mia sah verwundert zu, wie er eine Ampulle und eine Injektionsspritze aus der Tüte nahm. „Ich muss das Bein hochlegen. Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich das jetzt hier mache.“

„Was hast du denn vor?“

„Das ist ein Schmerzmittel“, erklärte er und zog die klare Flüssigkeit aus der Ampulle auf die Spritze auf. „Ich muss es mir ins Knie injizieren.“

„Du musst … was? Das ist nicht dein Ernst!“

„Als SEAL habe ich eine medizinische Grundausbildung“, sagte er. „Steve hat mir im Krankenhaus ein Schmerzmittel gespritzt, aber bis das richtig wirkt, dauert es noch eine Weile. Dieses Mittel hier hingegen wirkt nahezu augenblicklich. Dafür lässt die Wirkung schon nach wenigen Stunden nach, und ich muss mir eine neue Spritze geben. Aber es lindert den Schmerz, ohne meine Reaktionsfähigkeit zu beeinträchtigen.“

Mia musste sich abwenden. Sie konnte nicht mit ansehen, wie er sich die Spritze ins Bein setzte.

„Entschuldige“, murmelte er. „Aber es war höchste Zeit. Die Schmerzen waren schon wieder mörderisch.“

„Ich glaube nicht, dass ich das könnte“, gab Mia zu.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, in dem fast schon wieder ein Lächeln lag. „Ich mache das auch nicht gerade sonderlich gern. Aber kannst du dir ausmalen, was passiert wäre, wenn ich das Schmerzmittel genommen hätte, das man mir im Krankenhaus andrehen wollte? Ich hätte nicht gehört, dass Tasha aus dem Bett gefallen ist. Sie läge immer noch in ihrem Zimmer auf dem Fußboden, und ich läge total weggetreten in meinem Bett. Der Vorteil dieses Mittels ist, dass es nur mein Knie betäubt, aber nicht mein Gehirn.“

„Interessant, das von einem Mann zu hören, der sich zwei Nächte hintereinander in den Schlaf getrunken hat.“

Frisco spürte bereits, wie der Schmerz nachließ und eine wohltuende Taubheit sich in seinem Knie ausbreitete. „Du kämpfst mit harten Bandagen, was?“

„Um vier Uhr dreißig am Morgen schaffe ich es noch nicht, höfliche Floskeln auszutauschen“, gab sie zurück, zog die Beine unter sich und nippte von ihrem Tee. „Wann sonst sollte man absolut ehrlich zueinander sein können?“

Frisco massierte sich mit einer Hand den Nacken. „Na schön, dann erkläre ich dir hiermit auch absolut ehrlich – und völlig unabhängig von der Tageszeit – ‚dass ich nicht mehr trinke. Das sagte ich aber schon.“

Mia musterte ihn eindringlich aus großen haselnussbraunen Augen. Und obwohl Frisco sein Gesicht lieber abgewandt hätte, um etwaige Spuren seiner Tränen zu verbergen, hielt er ihrem Blick stand.

„Ich kann nicht glauben, dass du einfach damit aufhören kannst“, sagte sie schließlich. „Nicht einfach so. Ich meine, ich sehe dich an, und ich bin sicher, dass es stimmt. Du bist nüchtern, aber …“

„In der Nacht, als wir uns trafen, hast du mich nicht gerade von meiner besten Seite erlebt. Ich feierte … meinen Abschied von der Navy. Ihr mangelndes Vertrauen in meine Genesung.“ Er nahm einen Schluck von seinem Tee. „Wie schon gesagt: Normalerweise betrinke ich mich nicht, im Gegensatz zu Sharon oder meinem Vater. Er war ein solcher Mistkerl! Entweder war er total besoffen und schlecht gelaunt, oder er hatte einen Kater und war noch schlechter gelaunt. Wir Kinder lernten schnell, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Manchmal allerdings war einer von uns zur falschen Zeit am falschen Ort und kassierte Prügel. Dann dachten wir uns stundenlang Geschichten aus, wie wir unseren Freunden das blaue Auge oder die blauen Flecken erklären konnten.“ Frisco schnaubte verächtlich. „Als hätten unsere Freunde nicht ganz genau gewusst, was bei uns ablief. Den meisten ging es ja kein bisschen besser.“ Er machte eine Pause.

„Weißt du, ich tat immer so, als wäre er gar nicht mein richtiger Vater. Als wäre ich ein Wesen aus dem Meer, das er eines Tages in seinen Fischernetzen gefangen hatte.“

Mia lächelte. „So wie Tasha tut, sie sei eine russische Prinzessin.“

Ihr Lächeln war betörend. Frisco konnte kaum an etwas anderes denken als daran, wie ihre Lippen sich angefühlt hatten. Wie sehr er sich danach sehnte, die Hand nach ihr auszustrecken und ihr Gesicht zu streicheln. Doch Mia wandte sich ab, und ihr Lächeln erlosch, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

„Da war ich also“, fuhr er fort. „Zehn Jahre alt, das Familienleben ein einziger nicht enden wollender Albtraum. Damals begann ich, stundenlang mit dem Rad in der Gegend herumzufahren, nur um nicht nach Hause zu müssen.“

Sie hörte schweigend zu, den Blick auf ihre Tasse gesenkt, als läge darin die Antwort auf all ihre Fragen. Die Schuhe hatte sie ausgezogen, die Beine hochgenommen. Sie trug ein graues Kapuzen-Sweatshirt über ihren Shorts. Im Krankenhaus hatte sie den Reißverschluss zugezogen, aber inzwischen stand er offen und gab den Blick frei auf ein loses weißes Etwas mit Spitzensaum.

Ihr Nachthemd, erkannte Frisco plötzlich. Sie hatte es in der Eile einfach in ihre Shorts gestopft und sich das Sweatshirt darübergezogen.

Sie blickte auf, in ihren Augen die Frage, warum er nicht weitersprach.

Frisco räusperte sich, versuchte, sein Verlangen nach ihr zurückzudrängen, und erzählte weiter: „Eines Tages radelte ich die Küste hinunter zu einem der Strände, an denen die SEALs einen Großteil ihrer Trainingseinheiten absolvieren.“ Er lächelte bei dem Gedanken daran. Damals hatte er die SEALs für vollkommen verrückt gehalten. „Sie waren immer nass. Wie das Wetter auch war, was sie auch taten, sie wurden von den Ausbildern immer zuerst ins Wasser gejagt. Dann robbten sie auf allen Vieren über den Strand, bis sie von Kopf bis Fuß mit Sand bedeckt waren, um anschließend zehn Meilen am Strand entlangzulaufen. Das war ebenso erstaunlich wie komisch – für einen Zehnjährigen. Aber ich erkannte auch, dass diese Typen nicht nur durchgeknallte Verrückte sein konnten. Mir war klar: Warum auch immer sie all diese endlosen, mörderischen Ausdauerprüfungen über sich ergehen ließen – es musste etwas verdammt Großartiges sein.

Mia hatte sich ihm beim Zuhören leicht entgegengeneigt. Vielleicht lag es daran, dass er wusste, sie trug ihr Nachthemd unter ihrer Kleidung, vielleicht lag es auch nur daran, dass es mitten in der Nacht war, jedenfalls erschien sie ihm wie ein unglaublich begehrenswertes Fabelwesen. Wenn er sie jetzt in seine Arme nehmen und lieben könnte, wäre er sogar in der Lage, seine Schmerzen und seinen Frust für eine Weile ganz und gar zu vergessen.

Frisco spürte deutlich, dass all ihre Vorsicht und ihre Vorbehalte dahinschmelzen würden, wenn er sie jetzt küsste. Oh ja, sie war ein nettes Mädchen. Aber sie wollte mehr als Sex. Sie wollte Liebe. Klar, auch nette Mädchen hatten sexuelle Wünsche. Er konnte ihr zeigen – und sie mit einem einzigen Kuss überzeugen – ‚dass manchmal reiner Sex um des Vergnügens und der Befriedigung willen durchaus lohnend war.

Doch seltsamerweise wollte er mehr von ihr, als seinen Hunger nach ihr stillen. Er wollte, dass sie verstand, was in ihm vorging, wie er fühlte – seinen Frust, seine Wut und seine bedrückendsten Ängste.

Versuch es, hatte sie gesagt. Versuch, es mir zu erklären.

Und jetzt versuchte er es.

„Von da an radelte ich immer dorthin“, fuhr er fort. „Ich lungerte stundenlang dort herum und beobachtete die SEALs. Schlich mich in die Kneipe, die sie manchmal aufsuchten, wenn sie nicht im Dienst waren, und belauschte ihre Gespräche. Die SEALs tauchten dort nicht allzu oft auf, aber wenn sie da waren, wurde ihnen ein Heidenrespekt entgegengebracht. Und zwar nicht nur von einfachen Soldaten, sondern auch von den Offizieren. Sie waren etwas Besonderes, und ich glaubte fest daran – wie anscheinend auch der Rest der Navy – ‚dass diese Jungs Halbgötter waren.“ Er nahm einen Schluck Tee.

„Wann immer ich konnte, beobachtete ich sie. Mir fiel auf, dass zwar die wenigsten von ihnen Uniform trugen, jedoch immer diese goldene Anstecknadel. Sie nannten sie Budweiser: ein Adler mit einem Gewehr in der einen Klaue, während er sich mit der anderen auf einem mit einem Anker gekreuzten Dreizack niederlässt. Diese Nadel dürfen nur diejenigen tragen, die die fast übermenschlich strapaziöse Ausbildung überstehen – sie gilt als eine der härtesten und anspruchsvollsten der Welt. Die meisten schaffen das nicht; die Durchfallquote beträgt neunzig Prozent! Doch wer die Nadel schließlich nach der schier endlosen Tortur erhielt, hatte es geschafft: Er war ein SEAL.“

Mia sah ihn an, als habe sie noch nie eine faszinierendere Geschichte gehört.

„Eines Tages“, erzählte er weiter, „wenige Tage vor meinem zwölften Geburtstag, sah ich, wie diese Rekruten mit ihren kleinen Schlauchbooten zwischen den Felsen vor dem Coronado Hotel anlegten. Das war gegen Ende der ersten Phase ihrer Kampfschwimmerausbildung; diese Woche wird auch Hell Week, Höllenwoche, genannt, weil die Männer dabei wirklich bis an ihre Grenzen gehen. Sie waren vollkommen erschöpft. Das konnte ich ihren Augen ansehen und daran, wie sie in ihren Booten hockten. Ich war sicher, sie würden alle dabei draufgehen. Hast du dir die Felsen dort unten schon mal angesehen?“

Mia schüttelte den Kopf.

„Sie sind tödlich. Scharfkantig und zerklüftet, mitten in der Brandung – keine gute Kombination. Aber ich sah, wie diese Jungs sich zusammenrissen und es einfach taten. Um mich herum standen Touristen und Einheimische, schüttelten die Köpfe und wunderten sich, warum diese Männer ihr Leben riskierten. Warum sie sich in solche Gefahr begaben.“

Frisco beugte sich zu Mia hinüber. Er wünschte sich so sehr, dass sie verstand. „Und ich stand da und wunderte mich nicht. Ich war noch ein kleiner Junge, aber ich wusste es – ich wusste, warum sie das taten. Wenn sie das schafften, dann würden sie SEALs sein. Sie würden diese Anstecknadel bekommen, und dann würde man ihnen auf jedem militärischen Stützpunkt überall auf der Welt Respekt entgegenbringen. Und fast noch besser als das: Sie würden sich selbst achten, wo auch immer sie hingingen. Das war das Allerwichtigste.“

Mia schaute ihn an, konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn, einen kleinen Junge mit glatten Wangen, ein hageres kleines Kerlchen mit tiefblauen Augen, in denen sich eine Reife zeigte, die gar nicht seinem jugendlichen Alter entsprach. Sie begriff, warum er seiner freudlosen Kindheit und seinem gewalttätigen Vater entflohen war und sich auf die Suche nach Zugehörigkeit gemacht hatte, nach einem Ort, an dem er sich sicher fühlte, an dem er lernen konnte, sich selbst zu lieben, an dem er respektiert wurde, von anderen wie von sich selbst.

Er hatte diesen Ort gefunden: bei den SEALs.

„An diesem Tag wurde mir klar, dass ich eines Tages zu diesen Männern gehören wollte, koste es, was es wolle. Von diesem Tag achtete ich mich selbst, auch wenn es sonst niemand tat. Sechs Jahre musste ich noch zu Hause durchhalten, doch noch am selben Tag, an dem ich mein Highschool-Abschlusszeugnis in den Händen hielt, meldete ich mich zur Navy. Und ich habe es geschafft. Ich habe durchgehalten, nicht aufgegeben, mit meinem Schlauchboot zwischen den Felsen von Coronado angelegt. Ich habe mir diese Nadel verdient.“

Frisco starrte auf sein verletztes Knie hinunter, auf die kreuz und quer verlaufenden Narben. Das Herz klopfte Mia bis zum Hals. Er hatte ihr seine Geschichte anvertraut, weil er wollte, dass sie ihn verstand, und das war ihm gelungen. Sie verstand ihn. Sie wusste genau, was er als Nächstes sagen würde, und die noch unausgesprochenen Worten taten ihr weh.

„Ich dachte immer, ich könnte mein Schicksal ändern, indem ich ein SEAL werde. Du weißt schon – das Schicksal, das mir eigentlich beschieden gewesen wäre. Zum Beispiel, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen wie mein Bruder Rob. Er ist im Suff gegen einen Pfeiler gefahren. Oder meine Highschool-Liebe zu schwängern wie mein Bruder Danny. Er musste schon mit siebzehn Jahren Frau und Kind versorgen und arbeitete auf dem gleichen Fischerboot wie mein Vater. Ich dachte immer, wenn ich der Navy beitrete und ein SEAL werde, könnte ich meinem Schicksal entkommen. Aber sieh mich an: Ich bin wieder genau dort gelandet, von wo ich geflohen bin. In San Felipe. Und habe zwei Nächte lang eine verdammt gute Imitation meines Vaters gegeben – trinken bis zum Umfallen, trinken, bis man den Schmerz nicht mehr fühlt.“

In Mias Augen standen Tränen, und sie konnte sehen, dass es Frisco genauso ging, obwohl er sich dagegen wehrte. Er wandte den Kopf ab. Als er nach einigen Momenten des Schweigens wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme zwar wieder fest, aber unendlich traurig.

„Seit meiner Verletzung habe ich das Gefühl, wieder im Albtraum meiner Kindheit gelandet zu sein. Ich bin kein SEAL mehr. Ich habe alles verloren, was mir wichtig war. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, Mia … Nur noch ein halber Mensch, nur noch ein Spielball der Wellen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe meine Selbstachtung verloren.

Er wandte sich ihr zu, und jetzt war es ihm egal, ob sie die Tränen in seinen Augen sah oder nicht. „Deshalb muss ich es unbedingt schaffen. Deshalb muss ich wieder rennen und springen und tauchen und all die anderen Dinge auf meiner Liste tun können.“ Verzweifelt um Haltung bemüht, fuhr er sich mit der Hand über die Augen. „Ich will mein Leben zurück. Ich will wieder ein ganzer Mann sein.“