8. KAPITEL
Ist Thomas wirklich ein König?“ Mia sah von der Sandburg auf, die sie gemeinsam mit Natasha baute.
„Sein Nachname ist zwar King, aber hier in Amerika haben wir keine Könige und Königinnen.“
„Vielleicht ist er König von einem anderen Land, so wie ich eine russische Prinzessin bin?“
„Wer weiß“, meinte Mia diplomatisch. „Am besten, du fragst ihn selbst. Aber ich denke, King ist einfach nur sein Nachname.“
„Er sieht aus wie ein König, finde ich.“ Natasha kicherte. „Er glaubt, ich komme vom Mars. Ich werde ihn heiraten.“
„Wen willst du heiraten?“, fragte Frisco und setzte sich neben sie in den Sand. Er kam gerade aus dem Meer, Wassertropfen glitzerten in seinen Wimpern und tropften aus seinem Haar. Er sah entspannter und fröhlicher aus, als Mia ihn je zuvor gesehen hatte.
„Thomas“, erklärte Tasha ernsthaft.
„Thomas.“ Frisco dachte sorgfältig nach. „Ich mag ihn“, sagte er nach einer Weile. „Aber meinst du nicht, du bist noch etwas zu jung, um ihn zu heiraten?“
„Doch nicht jetzt schon, du Dummer“, rief Natasha empört. „Wenn ich groß bin, natürlich.“
Frisco verkniff sich mühsam das Lachen. „Ach so. Natürlich.“
„Du kannst meine Mom nicht heiraten, weil du ihr Bruder bist, richtig?“
„Stimmt.“ Frisco lehnte sich auf die Ellbogen gestützt in den Sand zurück. Mia gab sich Mühe, ihn nicht anzustarren. Sie konnte kaum den Blick von seinen muskulösen Armen, seinem breiten Brustkorb und seiner glatten, gleichmäßig gebräunten Haut lösen. Sie sah ihn doch nicht zum ersten Mal ohne Hemd. Eigentlich hätte sie sich längst an den Anblick gewöhnen müssen …
„Schade. Mommy sucht immer jemanden zum Heiraten, und ich mag dich.“
„Danke, Tash. Ich mag dich auch.“ Friscos Stimme war rau.
„Dwayne mochte ich nicht“, fuhr die Kleine fort. „Er hat uns Angst gemacht, aber Mommy hat gern in seinem Haus gewohnt.“
„Im Erdgeschoss ist eine Wohnung frei. Wenn deine Mutter aus der Klinik zurückkommt, könnt ihr beiden vielleicht dort einziehen. Dann sind wir Nachbarn.“
„Du könntest Mia heiraten und zu ihr ziehen. Und wir nehmen dann deine Wohnung“, schlug Natasha vor.
Mia blickte auf und begegnete Friscos Blick. Er war sichtlich verlegen. „Vielleicht will Mia ja gar nicht heiraten“, sagte er.
„Willst du heiraten?“, fragte die Kleine und schaute Mia aus dunkelblauen Augen prüfend an.
„Nun ja“, antwortete sie vorsichtig. „Eines Tages möchte ich schon heiraten und eine Familie haben, aber …“
„Sie will“, informierte Natasha ihren Onkel. „Sie ist hübsch und macht leckere Sandwiches. Du solltest sie fragen, ob sie dich heiratet.“ Damit nahm die Kleine ihr Eimerchen und lief zum Wasser hinunter.
„Entschuldige.“ Frisco lachte nervös. „Sie ist … eben erst fünf.“
„Schon gut“, lächelte Mia. „Und keine Bange. Ich werde keine Versprechungen einklagen, die Natasha in deinem Namen macht.“ Sie wischte sich den Sand von den Knien und setzte sich auf ihr Badetuch.
„Gut zu wissen.“ Frisco setzte sich neben sie und ließ den Blick von ihren schlanken Beinen über den roten Bikini bis zu ihrem Gesicht hinaufwandern. „Aber sie hat recht. Du bist hübsch, und deine Sandwiches sind verdammt lecker.“
Mias Puls begann zu rasen. Wieso war es ihr auf einmal wichtig, ob dieser Mann sie attraktiv fand oder nicht? Seit wann verspürte sie nicht mehr das Bedürfnis, sich in ein viel zu weites T-Shirt zu hüllen, wenn er sie voller Verlangen ansah? Seit wann vollführte ihr Herz kleine Sprünge, wenn er ihr sein seltsames schiefes Lächeln schenkte? Wann genau hatte er die Grenze überschritten, die ihn zu mehr als einem Freund machte?
Es hatte schon vor Tagen begonnen. Als er Natasha im Hof zum ersten Mal in den Arm genommen hatte. Er ging so sanft mit dem Kind um, so geduldig. Er hatte sie von Anfang an fasziniert, aber jetzt, wo sie ihn besser kennengelernt hatte, fühlte sie sich nicht mehr nur sexuell von ihm angezogen.
Es war verrückt, und sie wusste es. Denn er war ganz und gar nicht der Typ Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Erstens war er zum Töten ausgebildet – ein Berufssoldat. Zweitens musste er noch all den Zorn, Frust und Schmerz bewältigen, bevor man ihn als psychisch stabil und gesund bezeichnen konnte. Und zu allem Überfluss hatte er ein Alkoholproblem.
Ja, er hatte geschworen, nicht mehr zu trinken. Aber Mias Erfahrungen an der Highschool hatten sie quasi zum Experten für Suchtprobleme gemacht. Wenn man vom Alkohol loskommen wollte, tat man besser daran, das nicht allein zu versuchen, sondern sich helfen zu lassen. Alan aber schien wild entschlossen zu sein, sein Problem allein anzugehen.
Doch statt schnellstens ihre Siebensachen zu packen und zu verschwinden, kramte sie ihre Sonnencreme hervor und rieb sich das Gesicht damit ein. „Ich war in deiner Küche, um Natasha mit den Wasserflaschen zu helfen. Dabei ist mir die Liste aufgefallen, die an deinem Kühlschrank hängt.“
„Und?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber … Könnte es sein, dass da lauter Dinge stehen, die dir mit deinem verletzten Knie Schwierigkeiten machen?“
Auf der Liste standen Dinge wie rennen, springen, Fallschirm springen, Fahrrad fahren und Treppen steigen.
Frisco schaute hinaus auf das Wasser. Es glitzerte im Sonnenlicht. „Stimmt.“
„Du hast eine Sache vergessen: Du wirst jetzt auch nicht mehr in das Olympische Basketballteam aufgenommen. Ich hab’s dazugeschrieben“, zog sie ihn auf.
Er lachte kurz und trocken auf. „Sehr witzig. Wenn du dir die Liste genauer angeschaut hättest, hättest du auch gesehen, was ganz oben stand: Gehen. Ich habe es durchgestrichen, als ich wieder gehen konnte. Und genau das werde ich mit allem anderen auch tun.“
Seine Augen strahlten im gleichen klaren Blau wie der Himmel.
Mia rollte sich auf den Bauch und stützte das Kinn in die Hände. „Erzähl mir, was es mit der rosa Couch auf sich hat“, wechselte sie das Thema.
Frisco lachte, und diesmal kam das Lachen von Herzen. Er streckte sich neben Mia auf dem Badetuch aus, wobei er darauf achtete, Natasha im Auge behalten zu können. „Tashas Couch. Sie ist bonbonrosa, hat silberne Zierknöpfe und wird sich großartig in meinem Wohnzimmer machen, meinst du nicht? Bonbonrosa und silber passen geradezu perfekt zu graubraun und moosgrün.“
Mia lächelte. „Dann wirst du wohl renovieren müssen. Was hältst du von weißem Teppichboden und jeder Menge verschnörkelter Spiegel an den Wänden?“
Frisco musterte sie fragend von der Seite. „Jetzt mal ehrlich. Meinst du, ich habe übertrieben? Ist das noch positive Bestärkung oder schon reine Bestechung?“
Ganz im Bann seiner dunkelblauen Augen, schüttelte Mia den Kopf. „Du gibst ihr die Möglichkeit, sich die Erfüllung eines Herzenswunsches selbst zu verdienen, und gleichzeitig lernt sie auch noch, wie wichtig es ist, sich an Abmachungen zu halten. Das hat mit Bestechung nichts zu tun.“
„Bist du da sicher?“ Frisco lächelte. „Ich habe permanent das Gefühl, Kundschafter auf vollkommen unbekanntem Terrain zu sein.“
„Wie meinst du das?“
„Als Kundschafter erkundest du das Terrain für deine Einheit. Du bist der Erste auf unbekanntem Gebiet, und damit der Erste, der zum Beispiel eine Mine findet und unschädlich macht – oder drauftritt. Ein nervenaufreibender Job.“
„Na, wenigstens weißt du, dass Natasha nicht plötzlich explodieren kann.“
Frisco grinste. „Ganz sicher?“
Mit dem amüsierten Glitzern in den Augen, dem Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, mit den vom Wind zerzausten Haaren und seiner entspannten Miene sah Frisco charmant, nett und ungemein attraktiv aus. Um einen solchen Mann zu treffen, würde Mia keine Mühen scheuen.
„Du machst das wunderbar mit Tasha. Du gehst bemerkenswert konsequent mit ihr um. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, nicht aus der Haut zu fahren, wenn sie dir wieder einmal nicht gehorcht. Ich habe gesehen, wie du deinen Ärger hinunterschluckst – ich weiß, dass das alles andere als leicht ist. Und ihr diesen Orden zu geben war eine tolle Idee.“ Sie setzte sich auf, griff nach dem T-Shirt, das die Kleine über ihrem Badeanzug getragen hatte, und hielt es hoch. „Sieh nur: Sie ist so stolz auf ihren Orden, dass sie mich gebeten hat, ihn ihr ans T-Shirt zu stecken, damit sie ihn auch am Strand tragen kann. Wenn du so weitermachst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie deine Regeln befolgt.“
Frisco hatte sich auf den Rücken gerollt und die Augen mit einer Hand beschattet, um sie anzusehen. Jetzt setzte er sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf und warf einen Blick auf Natasha, um zu kontrollieren, ob sie sich nach wie vor mit ungefährlichen Dingen vergnügte.
Sie kauerte auf halbem Wege zum Wasser im Sand und baute an einer neuen Burg.
„Ich mache es also wunderbar und bin einfach genial?“, fragte er mit leiser Ironie. „Klingt ganz so, als wolltest du mir auch ein wenig positive Bestärkung zukommen lassen.“
Mia breitete Natashas feuchtes T-Shirt in der Sonne aus, damit es trocknen konnte. „Na ja … vielleicht“, gab sie ein wenig verlegen zu.
Er hob ihr Kinn an, sodass sie ihn ansehen musste.
Sein Lächeln war verschwunden, jede Spur von Belustigung in seinen Augen wie weggeblasen. Stattdessen loderte darin ein gefährliches Feuer, das augenblicklich auf sie übersprang.
„Ich bekomme meine positive Bestätigung gern auf etwas andere Weise“, flüsterte er heiser und senkte den Blick auf ihren Mund. Mia wusste, er würde sie jetzt küssen. Sie wich nicht aus, als er sich langsam zu ihr beugte. Sie war unfähig, sich zu bewegen. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht.
Leise seufzte er auf, als ihre Lippen sich berührten. Sein Mund war warm und zärtlich. So zart berührte er mit der Zungenspitze ihre Lippen, dass sie sich wie von selbst öffneten. Und selbst dann noch blieb sein Kuss atemberaubend sanft.
Es war der süßeste Kuss ihres ganzen Lebens.
Als er sich von ihr löste, um ihr in die Augen zu sehen, spürte sie ihr Herz hämmern. Dann lächelte er wieder sein unwiderstehliches, etwas schiefes Lächeln und sah dabei aus, als hätte er gerade Gold am Ende des Regenbogens gefunden. Jetzt ergriff sie die Initiative. Sie schlang ihm die Arme um den Hals, vergrub ihre Finger in seinem Haar und küsste ihn.
Dieser zweite Kuss war heiß und feurig. Frisco zog Mia noch enger an sich heran, strich mit den Händen über ihren nackten Rücken, ihr Haar und ihre Arme, während ihre Zungen einander erforschten.
„Frisco! Frisco! Der Eiswagen ist da! Kann ich ein Eis haben?“
Mia stieß Frisco im gleichen Moment von sich, in dem er sie losließ. Er atmete so heftig wie sie; er sah aufgewühlt aus. Doch Natasha hatte für nichts anderes Augen als für den Eiswagen, der auf den Parkplatz am Strand eingebogen war.
„Bitte, bitte, bitte, bitte“, bettelte sie und hüpfte aufgeregt um das Badetuch herum.
Frisco schaute hinüber zum Eiswagen, der ein ganzes Ende entfernt stand, und dann wieder zu Mia. Er wirkte genauso erschüttert und überwältigt, wie sie sich fühlte. Dann lehnte er sich zu ihr hinüber und flüsterte: „Gehst du mit ihr? Ich kann nicht.“
„Klar.“ Sie stand auf und zog sich mit zitternden Händen ihr T-Shirt über. „Alles in Ordnung mit deinem Knie?“
Er fingerte einen Geldschein aus seiner Börse und grinste schwach. „Um ehrlich zu sein – mit meinem Knie hat das nichts zu tun.“
Erst jetzt begriff Mia, und eine verräterische Röte überzog ihre Wangen. „Komm, Tasha“, sagte sie rasch und nahm das Kind an die Hand.
Was hatte sie nur getan?
Ausgerechnet mit einem Mann, von dem sie sich hatte fernhalten wollen, hatte sie soeben den zärtlichsten und leidenschaftlichsten Kuss ihres ganzen Lebens getauscht. Während sie mit Tasha in der Warteschlange vor dem Eiswagen stand, überlegte sie, wie sie sich nun verhalten sollte.
Es hatte absolut keinen Sinn, sich mit ihm einzulassen. Aber, oh, sein Kuss … Mia schloss die Augen. Sie hatte einen Fehler gemacht, einen gewaltigen Fehler! Und sie lief Gefahr, die größte Dummheit ihres Lebens zu begehen. Na schön. Er war unglaublich zärtlich und attraktiv. Aber er war ein Mann, der gerettet werden musste, und sie wusste nur zu gut, dass sie ihn nicht retten konnte. Wenn sie das versuchte, würde er sie mit ins Verderben reißen. Nur er selbst konnte sich aus dem Strudel seines Elends und seiner Verzweiflung befreien, und ob ihm das gelingen würde, musste sich erst noch zeigen.
Sie musste ehrlich sein ihm gegenüber, dann würde er sie hoffentlich verstehen.
Wie in Trance bestellte sie für Tasha eine Eiswaffel und Eisriegel für Frisco und sich. Der Weg zurück zu ihrem Badetuch erschien ihr unendlich lang, der Sand unter ihren Füßen unerträglich heiß. Tasha trollte sich wieder zu ihrer Sandburg.
Frisco saß tropfnass auf der äußersten Ecke des Badetuchs. Anscheinend hatte er sich zwischenzeitlich in die Fluten gestürzt, um sich abzukühlen. Gut so. Genau das, was sie wollte, oder?
Sie reichte ihm sein Eis, lächelte ein wenig angestrengt und setzte sich ans andere Ende des Badetuchs. „Ich dachte, wir könnten beide eine kleine Abkühlung gebrauchen, aber du warst offenbar schneller als ich.“
Frisco musterte sie, den ungemütlichen Abstand zwischen ihnen und schließlich das Eis in seiner Hand. „Mir gefiel die Hitze zwischen uns ganz gut“, erwiderte er leise.
Unfähig, ihm in die Augen zu sehen, schüttelte Mia den Kopf. „Ich will ehrlich sein. Ich kenne dich kaum und …“
Schweigend wartete er, dass sie weitersprach.
„Ich glaube, wir sollten nicht… Ich meine, es wäre ein Fehler, wenn …“ Röte schoss ihr ins Gesicht.
„Okay.“ Frisco nickte. „Okay. Ich … verstehe.“ Er konnte ihr keinen Vorwurf machen. Wie sollte er auch? Sie war nicht der Typ für nur eine Nacht. So wenig, wie er der Richtige für eine feste Beziehung war. Außerdem war er nicht der Mann, mit dem Mia sich ein Leben lang wohlfühlen würde. Sie sprühte vor Leben und Energie, und er konnte sich nur im Schneckentempo bewegen. Sie war gesund, in jeder Hinsicht, und er …
„Ich sollte jetzt besser gehen.“ Sie begann, ihre Sachen zusammenzusuchen.
„Wir begleiten dich nach Hause“, sagte Frisco leise.
„Oh nein, das müsst ihr doch nicht.“
„Doch, das müssen wir, okay?“
Sie sah ihn kurz an und erkannte sofort, dass es besser war, jetzt nicht zu widersprechen. „In Ordnung.“
Frisco erhob sich und griff nach seinem Krückstock. „Komm, Tash, wir gehen noch mal ins Wasser und waschen das Eis aus deinem Gesicht.“
Seinen ungeöffneten Riegel warf er im Vorbeigehen in einen Mülleimer. Er starrte ins Wasser, während Tasha sich Hände und Gesicht wusch, und versuchte, nicht über Mia nachzudenken. Doch es gelang ihm nicht. Noch immer schmeckte er sie, spürte er sie in seinen Armen, roch er ihr würziges Parfüm.
In dem kurzen Moment, als er sie geküsst, in diesen unglaublichen paar Minuten, in denen sie in seinen Armen gelegen hatte, hatte er zum ersten Mal seit fünf Jahren sein verletztes Knie vergessen.
Natasha schien das unbehagliche Schweigen zwischen den Erwachsenen nicht aufzufallen. Sie schnatterte fröhlich vor sich hin, redete mal mit Mia, mal mit Frisco, mal mit sich selbst und hüpfte munter um sie herum.
Mia fühlte sich erbärmlich. Sie wusste, dass sie Frisco mit ihrer Zurückweisung verletzt hatte. Wie töricht von ihr, diesen ersten Kuss überhaupt zuzulassen!
Jetzt wünschte sie sich, sie wären mit ihrem Auto zum Strand gefahren, statt zu Fuß zu gehen. Frisco verstand es meisterlich, seine Schmerzen zu überspielen, aber sie konnte daran, wie er sich bewegte und wie er atmete, erkennen, dass ihm das Knie höllisch wehtat.
Für einen kurzen Augenblick schloss sie die Augen. Eigentlich sollte ihr das egal sein, aber das war es nicht. Er war ihr nicht gleichgültig. Ganz und gar nicht.
„Es tut mir leid“, murmelte sie, während Natasha einige Schritte vor ihnen über die Fugen im Pflaster sprang.
Er wandte den Kopf und sah sie durchdringend aus seinen tief dunkelblauen Augen an. „Du meinst das ernst, oder?“
Sie nickte.
„Mir tut es auch leid“, sagte er leise.
„Frisco!“ Natasha schmiss sich aus vollem Lauf gegen ihn und warf ihn fast um.
„Hoppla!“ Er fing sie mit dem linken Arm auf, während er mit dem Stock in der Rechten um sein Gleichgewicht kämpfte. „Was ist los, Tash?“
Die Kleine klammerte sich mit beiden Armen an ihn und presste ihr Gesicht gegen seinen Bauch.
„Tash, was ist denn?“, wiederholte Frisco, doch sie machte keine Anstalten, ihn loszulassen.
Mia ging neben dem Mädchen in die Hocke. „Hat dich etwas erschreckt, Kleines?“
Natasha nickte.
Mia strich ihr die roten Locken aus dem Gesicht. „Was hat dich denn so erschreckt, Süße?“
Tasha hob den Kopf und sah Mia unter Tränen an. „Dwayne!“, flüsterte sie. „Ich habe Dwayne gesehen.“
„Wen?“ Verwirrt sah Mia zu Frisco auf.
„Einer von Sharons ehemaligen Lovern.“ Er nahm Tasha auf den Arm. „Du hast dich bestimmt geirrt. Das war nur jemand, der ihm ähnlich sieht.“
Natasha schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe Dwayne gesehen“, wiederholte sie. Die Tränen kullerten ihr über die Wangen, und weil sie heftig schluchzte, war sie kaum zu verstehen. „Ich habe ihn gesehen!“
„Aber weshalb sollte er sich denn hier in San Felipe herumtreiben?“, fragte Frisco die Kleine.
„Weil er Sharon Francisco sucht“, antwortete eine tiefe Männerstimme. „Deshalb treibt er sich hier herum.“
Sofort war Natasha ganz still.
Mia musterte den Mann, der sich vor ihnen aufgebaut hatte. Er war groß – größer und breiter als Frisco, aber dafür deutlich übergewichtig und weniger muskulös. Sein dunkler Anzug war offensichtlich eine Maßanfertigung. Dazu trug er Stiefel aus glänzendem Schlangenleder, ein dunkelgraues Hemd und eine fast schwarze Krawatte. Das volle schwarze Haar fiel ihm in einer Elvis-Tolle in die Stirn. Sein Gesicht mit der Hakennase und den tief liegenden Augen war eindeutig zu aufgedunsen, um attraktiv zu sein.
Er hielt ein Klappmesser in der Hand, das er unaufhörlich auf- und zuspringen ließ und damit ein rhythmisches metallisches Geräusch erzeugte.
„Meine Schwester ist nicht hier“, erklärte Frisco scheinbar gelassen.
Dann spürte Mia seine Hand an ihrer Schulter, und sie wandte den Kopf, um ihn anzusehen. Die Augen unverwandt auf Dwayne und das Messer gerichtet, schob er ihr Natasha zu. „Tretet hinter mich“, murmelte er. „Und dann seht zu, dass ihr wegkommt.“
„Dass Ihre Schwester nicht hier ist, sehe ich selbst“, erwiderte Dwayne. „Aber da Sie in der geschätzten Begleitung ihrer Tochter sind, kennen Sie sicher ihren Aufenthaltsort.“
„Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Ich sage ihr, dass sie Sie anrufen soll.“
Dwayne ließ das Messer wieder aufschnappen, und diesmal behielt er es offen in der Hand. „Das ist für mich leider nicht akzeptabel. Wissen Sie, sie schuldet mir eine Menge Geld.“ Er verzog das Gesicht zu einem widerwärtigen Grinsen. „Ich könnte natürlich das Kind als Sicherheit …“
Frisco spürte, dass Mia immer noch hinter ihm stand. Jetzt hörte er, wie sie scharf den Atem einzog. „Mia, bring Tash in den Laden an der Ecke und ruf die Polizei“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Er konnte ihr Zögern und ihre Angst fühlen, als sie ihn mit kühlen Fingern am Arm berührte. „Alan …“
„Tu es“, sagte er scharf.
Nur zögernd zog Mia sich zurück. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sah, wie Frisco mit Blick auf Dwaynes Messer lächelte. „Wenn Sie versuchen, die Kleine anzufassen … nur über meine Leiche“, erwiderte er kühl. Mia spürte, wie ernst es ihm war, und betete zum Himmel, dass es nicht so weit kommen würde.
„Warum sagen Sie mir nicht einfach, wo Sharon ist?“, fragte Dwayne. „Ich habe eigentlich keine Lust, einen hilflosen, bedauernswerten Krüppel zusammenzuschlagen, aber wenn es sein muss, tue ich auch das.“
„So wie Sie eine Fünfjährige verprügeln mussten?“, fragte Frisco zurück. Alles an ihm – seine Haltung, sein Gesichtsausdruck, seine Augen, sein Tonfall – wirkte tödlieh. Trotz des Krückstocks in seiner Hand und trotz seines verletzten Knies sah er alles andere als hilflos und bedauernswert aus.
Aber Dwayne hatte ein Messer und Frisco nur seinen Stock. Und den brauchte er als Stütze.
Ohne zu zögern, stürzte Dwayne sich auf Frisco, und endlich rannte Mia mit Tasha davon.
Aus den Augenwinkeln heraus hatte Frisco Mias schnellen Rückzug wahrgenommen. Gott sei Dank! Jetzt, wo er wusste, dass sie und Natasha nicht mehr in Gefahr waren, würde er sich sehr viel leichter gegen seinen massigen Gegner zur Wehr setzen können.
Frisco wich Dwaynes Messer in einer seitlichen Bewegung aus. Sein Knie war damit überlastet, und ihn durchfuhr ein höllischer Schmerz. Mit dem Stock schlug er dem Hünen das Messer aus der Hand, sodass es klirrend zu Boden fiel. Zu spät erkannte er seinen Fehler. Mit dem Stock in der Luft stand er sehr viel unsicherer. Dwayne nutzte diese Schwäche sofort, wirbelte herum und setzte zu einem gezielten Tritt auf das verletzte Knie an.
Frisco sah den Fuß kommen, konnte aber nicht ausweichen.
Und dann spürte er nur noch Schmerz. Rasenden, grellen, unerträglichen Schmerz. Ein heiserer Schrei entfuhr seiner Kehle, als er zusammenbrach. Mit aller Kraft kämpfte er gegen eine Ohnmacht an. Ein weiterer Tritt von Dwayne traf ihn heftig in die Seite und schleuderte ihn fast in die Luft.
Irgendwie gelang es ihm, das Bein seines Gegners zu umklammern und ihn seinerseits zu Fall zu bringen. Irgendwie schaffte er es sogar, sich auf den am Boden Liegenden zu wälzen und ihm wieder und wieder mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Jeden anderen Gegner hätte er damit längst außer Gefecht gesetzt, doch Dwayne war wie ein Stehaufmännchen. Er zielte immer wieder auf Friscos Knie, und der Schmerz raubte Frisco fast den Verstand. Schließlich kriegte Frisco Dwaynes Kopf zu fassen und knallte ihn aufs Pflaster.
In der Ferne erklang das Geheul von Sirenen. Frisco hörte sie durch einen Wattenebel von Übelkeit und Benommenheit. Die Polizei war auf dem Weg hierher.
Dwayne hätte bewusstlos am Boden liegen müssen, aber er rappelte sich schon wieder hoch.
„Sag Sharon, ich will mein Geld zurück!“, stieß er zwischen blutigen Lippen hervor, ehe er sich hinkend aus dem Staub machte.
Frisco wollte ihm nachlaufen, aber sein Knie spielte nicht mehr mit. Er ging zu Boden, ihm wurde erneut übel vor Schmerz. Um sich nicht übergeben zu müssen, presste er die Wange auf den Asphalt und hoffte, die Welt würde endlich aufhören, sich um ihn zu drehen.
Er bemerkte plötzlich, dass sich eine Menschentraube um ihn gebildet hatte. Jemand drängte sich durch die Gaffer und stürzte auf ihn zu. Sofort machte er sich abwehrbereit.
„Hey, Lieutenant! Immer langsam, Navy. Ich bin’s, Thomas!“
Es war tatsächlich Thomas. Der Junge kniete neben ihm nieder.
„Bei wem sind Sie denn unter die Räder gekommen? Mein Gott …“ Er richtete sich auf und schaute in die Menge. „Hey, kann mal jemand einen Krankenwagen für meinen Freund rufen? Schnell!“
Frisco streckte die Hand nach ihm aus.
„Schon gut, ich bin hier, Mann. Ich bin hier, Frisco. Ich habe den großen Kerl eben davonrennen sehen. Er sah nicht wesentlich besser aus als Sie“, sagte er. „Was ist passiert? Haben Sie ihn beleidigt? Witze über dicke Männer gerissen?“
„Mia“, röchelte Frisco. „Sie ist mit Natasha … im Laden an der Ecke. Geh zu ihnen … pass auf sie auf.“
„Ich denke, wenn hier einer Hilfe braucht, dann eher Sie.“
„Es geht mir gut“, stieß Frisco mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Geh zu ihnen! Sonst tu ich es selbst.“ Er tastete nach seinem Krückstock. Aber wo zur Hölle war er? Er lag auf der Straße. Frisco kroch darauf zu, das verletzte Bein hinter sich herziehend.
„Mein Gott!“, entfuhr es Thomas. Seine Augen weiteten sich vor Verwunderung, dass Frisco überhaupt noch in der Lage war, sich zu bewegen. Für einen Moment sah er so jung aus, wie er wirklich war, nämlich achtzehn. „Bleiben Sie liegen, Frisco, bleiben Sie hier liegen. Ich suche nach ihnen. Wenn Ihnen das so wichtig ist …“
„Geh endlich!“
Und Thomas rannte los.