15. KAPITEL

Hey, Navy! War das etwa Mia, die da gerade an mir vorbeigerauscht ist?“ Mit diesen Worten stieß Thomas die Tür zur Hütte auf.

Frisco blickte mit finsterer Miene von dem Erdnussbutter-Sandwich hoch, das er gerade für Natasha machte.

„Hallo, Marsmädchen“, begrüßte der Teenager Tasha mit einem Lächeln.

„Thomas!“ Tasha warf sich dem Jungen entgegen und brach in Tränen aus. „Frisco hat Mia angebrüllt, und dann ist sie weggefahren!“

Thomas taumelte unter dem unerwarteten Anprall, aber es gelang ihm, die Kleine aufzufangen und auf den Arm zu nehmen. Seine dunklen Augen schauten Frisco fragend an. „Stimmt das?“

Frisco wich seinem Blick aus. „Das ist die Kurzfassung.“

„Ich wollte nicht, dass Mia wegfährt“, heulte Tasha. „Bestimmt kommt sie nie mehr zurück.“

Der Junge schüttelte verärgert den Kopf. „Na toll. Und ich dachte schon, ich hätte schlechte Nachrichten. Jetzt sehe ich, dass ihr euch auch ohne andere Hilfe gegenseitig fertigmachen könnt.“ Er wandte sich Tasha zu, die immer noch an seinem Hals hing und schluchzte.

„Jetzt schalte mal deine Sirene aus, Marsmädchen. Hör auf, nur an dich zu denken, und denk mal an Onkel Frisco. Wenn Miss Summerton nicht zurückkommt, ist er der großer Verlierer, nicht du.“

Zu Friscos Verwunderung hörte Natasha tatsächlich auf zu weinen.

„Und Sie, Navy, sollten schleunigst das nächste Krankenhaus aufsuchen, Mann. Es wird Zeit, dass Ihnen mal jemand die Birne durchleuchtet.“ Thomas stellte Natasha zurück auf den Boden und nahm den Teller mit ihrem Sandwich. „Ist das für dich?“, fragte er.

Sie nickte. „Fein“, erwiderte Thomas. „Geh damit raus auf die Veranda, setz dich auf die lustige Schaukel und lass es dir schmecken. Ich hab mit deinem verrückten Onkel was zu besprechen.“

Natasha zog einen Flunsch, gehorchte aber ohne Widerrede. Als die Tür hinter ihr zufiel, wandte Thomas sich wieder an Frisco.

Aber statt ihm die erwarteten Vorhaltungen wegen Mia zu machen, erklärte er ohne Umschweife: „Ihr Freund Lucky hat mich angerufen. Ihm ist irgendwas dazwischengekommen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie nicht vor morgen Abend zwei zweihundert treffen kann, wann auch immer das sein soll. Zehn Uhr ist doch zehn Uhr, oder etwa nicht?“

Frisco nickte. „Ist vielleicht besser so. Ich muss erst mal jemanden finden, der auf Tasha aufpasst, jetzt wo …“ Mia weg ist. Er beendete den Satz nicht, brauchte es auch nicht.

„Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen beiden vorgefallen ist“, erklärte Thomas, zog zwei Scheiben Brot aus der Tüte und legte sie auf die Anrichte. Dann griff er sich die Erdnussbutter. „Aber Sie sollten wissen, dass Miss Summerton sich beileibe nicht mit jedem abgibt. In all den Jahren, die ich sie kenne, gab es nur einen, mit dem sie gefrühstückt hat, falls Sie verstehen, was ich meine. Sie ist wählerisch, Sie Narr, und sie hat Sie gewählt!“

„Ich will nichts davon hören.“ Frisco schloss völlig entnervt die Augen und seufzte.

„Ja, ja, halten Sie sich ruhig die Ohren zu. Das ändert auch nichts an den Tatsachen“, entgegnete Thomas und strich sich dick Erdbeermarmelade auf sein Sandwich. „Was sie Ihnen auch gesagt haben mag – sie hätte Sie nicht so nah an sich herangelassen, wenn sie Sie nicht lieben würde, mit großem L. Keine Ahnung, wie Sie sie dazu gebracht haben, aber sie liebt Sie, da bin ich sicher. Und in meinen Augen sind Sie der größte Idiot auf Erden, wenn Sie wirklich …“

„Schluss jetzt! Glaubst du wirklich, ich lasse mir von einem Teenager die Leviten lesen?“, wies Frisco ihn scharf zurecht.

Thomas biss in aller Seelenruhe von seinem Sandwich ab und musterte Frisco nachdenklich. „Warum sind Sie eigentlich immer so wütend, Navy?“, fragte er schließlich. „Wissen Sie, ich war mal genauso wie Sie. Lief immer mit Wut im Bauch herum. Dachte, das wäre der einzige Weg zu überleben. Ich war der fieseste Typ im ganzen Block. Ich habe nie zu einer Gang gehört – ich brauchte keine. Jeder hatte Angst vor mir. Ich war hart genug, um mich allein durchzuschlagen, und ich saß im Expresszug zur Hölle. Aber wissen Sie was? Ich hatte Riesenglück. Als ich fünfzehn wurde, bekam ich eine neue Geschichtslehrerin. Ein halbes Jahr länger, und ich hätte die Schule geschmissen. Aber Miss Summerton hat mir in die Augen geschaut und gesehen, was hinter der ganzen Wut verborgen war. Wer ich wirklich war.“

Thomas ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Ich weiß es noch wie heute. Das war an dem Tag, an dem ich ein Messer zog und sie damit bedrohte. Sie sagte einfach nur, ich solle das Ding wegstecken und es nie wieder mit in die Schule bringen. Sie sagte außerdem, dass ich mich hinter meiner Wut verstecke, weil in Wirklichkeit ich derjenige bin, der Angst hat. Angst davor, dass alle anderen recht hatten, wenn sie mich als wertlosen Nichtsnutz bezeichneten.“

Er nahm einen weiteren Bissen von seinem Sandwich.

„Ich machte mich über sie lustig, aber sie lächelte nur. Dann sagte sie, sie hätte sich meine Testergebnisse angesehen, und soweit sie das beurteilen könne, würde ich den Highschool-Abschluss schaffen, und zwar als Jahrgangsbester.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie gab mich nicht auf, und als ich sechzehn wurde, blieb ich an der Schule. Schließlich konnte ich ja auch noch nächste Woche hinschmeißen … oder nächsten Monat. Aber nicht heute oder diese Woche – natürlich nur ‚wegen des kostenlosen Mittagessens‘.“ Er sah Frisco an. „Wenn ich nicht dieses Glück gehabt hätte, Miss Summerton als Lehrerin zu bekommen, dann säße ich heute im Knast. Oder ich wäre tot.“

„Warum erzählst du mir das alles?“

„Weil Sie offenbar nicht begreifen, was für ein Glückspilz Sie sind, Onkel Blindgänger. Miss Summerton liebt Sie!“

„Falsch. Ich weiß es sehr gut.“ Frisco schnappte sich seine Krücken und wandte sich ab.

„Tatsächlich? Umso besser. Aber mit einem habe ich doch recht: Wovor Sie sich auch immer fürchten mögen, was Sie auch immer hinter Ihrer Wut verstecken – das ist nichts, verglichen mit der Angst, die Sie davor haben sollten, Miss Summerton zu verlieren. Davor sollten Sie sich fürchten, Navy! Gewaltig fürchten.“

Frisco saß auf dem Sofa. Mit dem Rücken zu dem Schrank, in dem Lucky seine Whiskeyvorräte aufbewahrte.

Es war ganz einfach. Er musste nur aufstehen und nach seines Krücken greifen. Und schon würde er vor dem Schrank stehen. Die Tür würde sich fast von selbst öffnen …

Thomas und Natasha waren zum See gegangen und würden erst am späten Nachmittag zurückkommen. Dann wollten sie gemeinsam nach San Felipe fahren. Aber jetzt war niemand hier, der ihn aufhalten konnte. Und wenn sie zurückkämen, wäre es zu spät. Dann wäre es Frisco völlig egal, was andere dachten oder sagten. Dann wäre ihm alles und jeder egal.

Sogar die kleine Natasha, deren blaue Augen so anklagend schauen konnten.

Das Vergessen, das eine Flasche Whiskey ihm schenken konnte, wäre so willkommen. Er würde endlich nicht mehr ständig vor Augen haben, wie Mia ihn angesehen hatte, bevor sie sich umdrehte und ging.

Er hatte ihr die Wahrheit sagen wollen, und was hatte er stattdessen getan? Sie beleidigt, sich über ihren Beruf lustig gemacht und so getan, als wäre ihre Beziehung nichts weiter als ein flüchtiges sexuelles Abenteuer.

Warum? Weil er so verdammte Angst davor gehabt hatte, dass sie ihn verlassen würde.

Nein – er hatte gewusst, dass sie ihn verlassen würde. Deshalb hatte er sie von sich gestoßen, bevor sie ihn von sich aus fallen lassen konnte.

Sehr schlau eingefädelt. Er hatte seinen eigenen Untergang prophezeit und dann mit allen Mitteln dafür gesorgt, dass die Prophezeiung sich erfüllte. Psychologen hatten dafür ein kluges Wort: Eigensabotage.

Frisco stemmte sich wütend hoch und schob sich seine Krücken unter die Achseln.

Mia brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Sie fluchte wie ein Seemann.

Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie in eine derart offensichtliche Falle getappt war. Seit Jahren war ihr ein solcher Fehler nicht mehr unterlaufen.

Sie war eine gute Lehrerin, die selbst zu den abgebrühtesten und schwersten Fällen an der Highschool Zugang fand. Ganz einfach, weil sie ein dickes Fell hatte.

Unzähligen zornigen, verletzten und schmerzlich verängstigten jungen Männern und Frauen hatte sie in die Augen gesehen. Hatte alle ihre noch so niederträchtigen und gemeinen Beleidigungen einfach von sich abprallen lassen. War ihren Ausfällen mit Ruhe, ihren verbalen Angriffen mit unerschütterlicher Neutralität begegnet. Sie konnten sie nicht verletzen, weil sie sich nicht verletzen ließ.

Aber irgendwie hatte sie es zugelassen, dass Alan Francisco sie verletzte.

Irgendwie hatte sie vergessen, angesichts seines Zorns und seiner Schmerzen gelassen und neutral zu bleiben.

Und welche Schmerzen dieser Mann erduldete!

Sie schloss die Augen. Plötzlich erinnerte sie sich an die Nacht, in der sie Tasha ins Krankenhaus gebracht hatten. Sie hatte ihn auf seinem Bett sitzen sehen, überwältigt von Schmerz und Trauer, die Hände vors Gesicht geschlagen und hemmungslos weinend.

An diesem Morgen waren Alans schlimmste Befürchtungen wahr geworden. Er hatte sich und ihr gegenüber eingestanden, dass er sein altes Leben nicht wiedererlangen würde. Er würde nie wieder ein SEAL sein. Jedenfalls kein SEAL im aktiven Dienst. Er hatte der harten Realität ins Auge gesehen, seine Träume waren geplatzt, sein letztes bisschen Hoffnung erloschen.

Mia wusste, dass Alan sie nicht liebte. Aber zweifellos brauchte er sie, jetzt mehr denn je.

Und sie hatte sich von seinen zornigen Worten verletzen lassen.

War fortgelaufen.

Hatte ihn alleingelassen in der Stunde seiner größten Not. Allein mit einem fünfjährigen Kind und etlichen Dutzend Flaschen Whiskey.

Mia ließ den Motor ihres Wagens wieder an und drehte um.

Frisco starrte auf die Flasche und das Glas, das er sich eingeschenkt hatte.

Die Flüssigkeit hatte eine verlockende Bernsteinfarbe und duftete wunderbar vertraut.

Er musste das Glas nur in die Hand nehmen, und der Nachmittag war gelaufen. Vielleicht sogar sein ganzes Leben. Er würde alles vergessen, was er nicht war und nicht sein konnte. Und wenn er wieder aufwachte, benebelt und verkatert, wenn er damit konfrontiert wurde, was aus ihm geworden war – tja, dann würde er eben wieder einen Drink nehmen. Und noch einen und noch einen, bis ihn erneut seliges Vergessen umfing.

Er brauchte nichts weiter zu tun, als das Glas zu nehmen, um seine familiäre Bestimmung zu erfüllen. Dann wäre er wieder Teil der nichtsnutzigen Francisco-Brut. „Kein Wunder – die Jungs kennen ja nichts anderes“, hörte er wieder die Nachbarn reden. „Was soll schon aus ihnen werden? Mit einem Vater, der sich zu Tode säuft.“

So sah jetzt also auch seine Zukunft aus: Voller Wut. Alkohol.

Einsamkeit.

Mias Gesicht trat ihm vor Augen, ihre wunderschönen haselnussbraunen Augen, ihr lustiges Lächeln. Der Schmerz auf ihrem Gesicht, als sie zur Tür hinausging.

Er stützte sich schwer auf die Arbeitsplatte und versuchte, das Bild zu verdrängen. Versuchte, nicht zu begehren, was er – wie er sehr wohl wusste – nicht haben konnte.

Als er aufblickte, waren da das Glas und die Flasche. Standen genau vor seiner Nase.

Warum sollte er gegen sein Schicksal aufbegehren? Das brachte nichts. Niemand entkam seinem Schicksal. Sein Weg war von Anfang an vorherbestimmt gewesen. Er war für begrenzte Zeit davon abgewichen, als er zur Navy gegangen war, aber jetzt stand er wieder am Ausgangspunkt. Wieder da, wohin er gehörte.

Immerhin hatte er so viel Anstand besessen, dass ihm klar war: Mia hatte es nicht verdient, ihr Leben in seiner Hölle zu verbringen. Wenigstens in diesem Punkt unterschied er sich von seinem Alten.

Mein Gott, wie sehr er Mia liebte! Der Schmerz wühlte in seinen Eingeweiden, in seiner Brust, stieg ihm gallebitter in die Kehle.

Er griff nach dem Glas, um den Geschmack hinunterzuspülen. Er wollte sie nicht mögen, nicht brauchen, nichts für sie empfinden. Gar nichts mehr fühlen.

Ich dachte, du bist ein SEAL. Ich dachte, du gibst niemals auf.

Mia hätte genauso gut neben ihm stehen können, so deutlich klangen die Worte ihm in den Ohren.

„Ich bin kein SEAL mehr“, antwortete er.

Du bist ein Navy SEAL! Du wirst immer ein SEAL sein. Du warst schon mit elf Jahren einer, und du wirst noch ein SEAL sein, wenn du stirbst.

Das Problem war nur: Er war schon längst gestorben. Er war vor fünf Jahren gestorben. Er war nur zu starrsinnig und zu dumm gewesen, um das gleich zu begreifen. Er hatte sein Leben verloren, als er seine Zukunft verlor. Und jetzt hatte er Mia verloren.

Ich habe es so gewollt, erinnerte er sich selbst. Ich habe diese Entscheidung selbst getroffen.

Du hast eine Zukunft! Es ist nur nicht die, die du dir einmal als kleiner Junge vorgestellt hast.

Und was für eine Zukunft! Gebrochen. Zornig. Nur noch ein halber Mensch.

Ich weiß, dass du alles dafür tun wirst, um dich wieder als ganzer Mann zu fühlen. Ich weiß, dass du die richtige Wahl treffen wirst.

Die richtige Wahl. Welche Wahl blieb ihm denn jetzt noch?

Den Whiskey im Glas zu trinken. Die Flasche zu leeren. Sich langsam zu Tode zu trinken, so wie sein Alter das getan hatte. Den Rest seines armseligen Lebens in der Vorhölle verbringen, betrunken im Wohnzimmer vor dem ständig laufenden Fernseher, damit er sich nicht ganz so allein fühlte.

Das wollte er nicht.

Du bist stark, du bist tough, du bist erfinderisch. Du wirst dich an die Gegebenheiten anpassen.

Anpassen. Das war es doch, was einen SEAL überhaupt erst ausmachte. Er musste sich immer und überall anpassen: an die Gegebenheiten, an das Einsatzland, an die dortige Kultur. Seine Arbeitsmethoden modifizieren. Auf Regeln und Gepflogenheiten pfeifen. Lernen, sich irgendwie zu behelfen.

Aber daran anpassen, an seine jetzige Situation? Sich daran gewöhnen, für immer auf einen Stock angewiesen zu sein? Für immer im Hintergrund zu bleiben, niemals mehr in vorderster Linie zu kämpfen? Wie sollte er das ertragen?

Das würde hart werden, unglaublich hart. Die härteste Prüfung, die er je hatte durchmachen müssen. Aufzugeben wäre so viel leichter.

Es wäre auch sehr viel leichter gewesen, während der Höllenwoche aufzugeben, die zermürbende, aufreibende Ausbildung zum SEAL hinzuschmeißen. Aber er war stark genug gewesen, hatte durchgehalten, während um ihn herum Männer eingeknickt und ausgestiegen waren. Er hatte allen körperlichen und seelischen Widerständen getrotzt.

Konnte er das hier auch aushalten?

Ich weiß, dass du die richtige Wahl treffen wirst.

Ihm wurde bewusst, dass er sich geirrt hatte. Ihm blieb doch eine Wahl.

Zu sterben.

Oder zu leben.

Nicht einfach sein oder nicht sein, sondern tun oder nicht tun. Er konnte sein Leben wieder in die Hand nehmen – oder sich zurücklehnen und aufgeben.

Verdammt, Mia hatte recht. Er war ein SEAL, und SEALs gaben niemals auf.

Alan Francisco sah auf das Whiskeyglas in seiner Hand. Er drehte sich um und warf es ins Spülbecken, wo es in tausend Teile zersplitterte.

Er hatte seine Entscheidung getroffen: für das Leben.

Mia raste in halsbrecherischem Tempo über die holprige Schotterpiste den Berg hinauf.

Ein paar Kilometer nur noch bis Abzweigung, die zur Hütte führte.

Entschlossen wischte sie sich die letzten Tränenspuren vom Gesicht. Wenn sie die Hütte betrat, wenn sie Alan in die Augen sah, würde er nichts anderes erblicken als ihr ruhiges Angebot von Mitgefühl und Verständnis. Seine zornigen Worte konnten sie nicht mehr verletzen, weil sie das einfach nicht zulassen würde. Um sie loszuwerden, musste er schon schwerere Geschütze auffahren.

Als sie in einer Kurve die Geschwindigkeit verringerte, blitzte plötzlich etwas Metallisches vor ihr im Sonnenlicht auf.

Ein anderes Auto kam in rasender Fahrt direkt auf sie zu!

Sie stieg voll auf die Bremse und zog ihren Wagen so weit nach rechts, dass die Zweige der Büsche am Rand der Piste gegen die Scheiben peitschten. Wie in Zeitlupe sah sie, wie das andere Auto ins Schlingern geriet, über die abschüssige Böschung ins Unterholz rutschte und gegen einen Baum prallte.

Hastig löste sie den Sicherheitsgurt, stieg aus und rannte durch das dichte Gebüsch zu dem verunglückten Wagen.

Er steckte tief im Unterholz, aber sie konnte jemanden weinen hören. Sie schob die Zweige auseinander und riss die Fahrertür auf.

Blut. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt, doch er bewegte sich und …

Dwayne Bell. Der Mann auf dem Fahrersitz war eindeutig Dwayne Bell, und er erkannte sie im selben Moment wie sie ihn.

„Sieh an, die Freundin. Wenn das kein glücklicher Zufall ist!“ Er wischte sich das Blut von der Stirn.

Natasha. Das leise Weinen, das war Natasha. Wie um Himmels willen kam das Kind in dieses Auto?

„Verdammt, ich muss mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe gedonnert sein“, murmelte Dwayne.

Mia wäre am liebsten davongerannt, aber die Kleine saß angeschnallt im Beifahrersitz. Sie konnte sie nicht einfach mit Dwayne zurücklassen. Vielleicht war er ja so hart aufgeschlagen, dass er benebelt war. Vielleicht würde er gar nicht merken, wenn sie …

Mia lief um das Auto herum und riss die Beifahrertür auf. Natasha hatte inzwischen den Sicherheitsgurt gelöst und sprang ihr in die Arme.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Mia leise und strich dem Kind das Haar aus der Stirn.

Mit weit aufgerissenen Augen nickte die Kleine. „Dwayne hat Thomas geschlagen. Er ist umgefallen, und alles war voller Blut. Er hat ihn umgebracht. Dwayne hat Thomas umgebracht.“

Thomas? Tot? Nein!

„Ich habe geschrien und geschrien, damit Thomas mir hilft, aber er ist nicht aufgestanden, und Frisco konnte mich nicht hören, und Dwayne hat mich ins Auto gestoßen.“

Thomas konnte nicht tot sein. Vielleicht bewusstlos, aber nicht tot. Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht tot sein. Nicht Thomas King!

Ohne lange zu überlegen, nahm Mia die Kleine auf den Arm und trug sie so schnell sie konnte die Böschung hinauf. Vielleicht war Dwayne ja noch zu benommen und bemerkte nicht …

„Wohin so eilig, Süße?“

Mia erstarrte. Und drehte sich um. Und blickte genau in die Mündung einer sehr großen, sehr tödlich aussehenden Waffe.

Dwayne drückte sich mit der anderen Hand ein Taschentuch auf die Stirn, aber die Hand mit der Waffe zitterte kein bisschen.

„Ich schätze, wir nehmen deinen Wagen“, sagte Dwayne grinsend. „Du fährst.“

Irgendetwas stimmte nicht, das spürte Frisco. Im Wald war es viel zu still. Kein Lachen, keine Stimmen klangen vom See herauf. Und er hatte noch nie erlebt, dass Tasha nicht ständig vor sich hin plapperte.

Obwohl der schmale Pfad zum See hinunter mit Krücken kaum begehbar war, erreichte er schon nach wenigen Minuten die Lichtung. Aus alter Gewohnheit zog er die Pistole aus dem Holster und entsicherte sie. So geräuschlos wie möglich näherte er sich dem Ufer.

Er sah Thomas zusammengekrümmt und mit blutverschmiertem Gesicht am Boden liegen.

Von Tasha keine Spur. Aber frische Reifenspuren auf dem sandigen Boden.

Wer immer hier gewesen war, war bereits wieder weg. Und hatte Natasha mitgenommen.

Frisco steckte die Pistole weg und beugte sich zu Thomas hinunter. Der Junge bewegte sich, als er ihn berührte. Gott sei Dank – er war am Leben. Aus seiner Nase lief Blut, und am Hinterkopf klaffte eine hässliche Platzwunde.

„Tasha“, keuchte er verzweifelt. „Der fette Mistkerl hat sich Tasha geschnappt.“

Der fette Mistkerl.

Dwayne Bell.

Hatte sich Tasha geschnappt.

Während Frisco in der Hütte mit seinen Dämonen gerungen hatte, war Dwayne am See gewesen, hatte Thomas niedergeschlagen und Tasha entführt. Entschlossen verdrängte Frisco die in ihm aufkeimenden Schuldgefühle. Später würde er Zeit haben, sich schuldig zu fühlen. Jetzt galt es, schnell zu handeln, um Tasha zurückzuholen.

„Wie lange ist das her?“ Er riss ein Stück Stoff vom Saum seines T-Shirts und presste es gegen die blutende Wunde am Hinterkopf des Jungen, während er ihm aufhalf.

„Keine Ahnung. Er hat mich hart getroffen, und die Lichter gingen aus.“ Thomas stieß einen Strom wilder Flüche aus, die jeden SEAL hätten aufhorchen lassen. „Ich hörte Tasha schreien, aber dann wurde mir schwarz vor Augen. Verdammt, verdammt, verdammt!“ Tränen schössen ihm in die Augen. „Lieutenant, sie hat so schreckliche Angst vor diesem Kerl. Wir müssen sie finden.“

Frisco nickte nur und sah zu, wie der Junge sich zum Ufer schleppte und sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschte, um munter zu werden und das Blut abzuspülen. Seine Nase war vermutlich gebrochen, aber er gab keinen Mucks von sich. „Kannst du laufen oder soll ich das Auto holen?“

Thomas erhob sich stöhnend, schwankte nur einen winzigen Moment. „Ich kann gehen.“ Er klopfte seine Hosentaschen ab und fluchte erneut. „Mist, der Fettwanst hat mir die Autoschlüssel geklaut.“

„Dann müssen wir dein Auto eben kurzschließen“, erwiderte Frisco knapp, schon wieder halb auf dem Weg zur Hütte zurück.

„Sie können einen Wagen kurzschließen?“

„Eins der Dinge, die man bei den SEALs lernt.“

„Ich fass es nicht“, murmelte Thomas. „Ich könnte ein SEAL sein.“

Frisco musterte ihn und nickte: „Ja, das könntest du.“