4. KAPITEL
Frisco stand schon fast in der Badezimmertür, als ihm einfiel, dass er nicht allein in der Wohnung war. Rasch wickelte er sich ein Handtuch um die Hüften und öffnete dann die Tür.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Da war die Kleine also. Auf seinen Krückstock gestützt, humpelte Frisco zurück in sein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ein Kind. Was um Himmels willen sollte er sechs Wochen lang mit einem Kind anfangen?
Er warf seinen Stock auf das ungemachte Bett und trocknete sich die Haare mit einem Handtuch ab. Sein Terminplan quoll nicht gerade über. Zeit genug hatte er also für Natasha, aber Kinder hatten spezifische Bedürfnisse. Sie brauchten regelmäßige Mahlzeiten, ab und zu ein Bad, geregelte Schlafenszeiten, die nicht erst um vier Uhr morgens begannen und erst am frühen Nachmittag endeten. Frisco war kaum in der Lage, all dies für sich selbst auf die Reihe zu bringen, geschweige denn für jemand anderen.
Auf der Suche nach sauberer Unterwäsche durchwühlte er seine noch nicht ausgepackte Reisetasche – vergeblich.
Seit Jahren hatte er nicht mehr selbst kochen müssen, und was Wasch- und Putzmittel anging, wusste er zwar, welche man wie mischen konnte, um Sprengstoff herzustellen, aber was ihren eigentlichen Zweck anging, fehlte ihm jegliche praktische Erfahrung.
Im Schrank fand er nur ein paar seidene Boxershorts, die ihm vor Ewigkeiten eine Freundin geschenkt hatte. Da zog er lieber seine Badehose an.
Sein Kühlschrank war gähnend leer bis auf eine schrumpelige Zitrone und einen Sechserpack mexikanisches Bier. Der Küchenschrank enthielt nur Gewürzstreuer mit verklumptem Salz und Pfeffer sowie eine fast schon antike Flasche Tabasco.
Im zweiten Zimmer seiner Wohnung standen überhaupt keine Möbel; dort waren ein paar Kartons hochgestapelt. Natasha musste auf der Couch schlafen, bis Frisco ihr ein Bett besorgt hatte und was ein fünfjähriges Mädchen sonst noch so an Möbeln brauchte.
Rasch zog er sich ein frisches T-Shirt über. Die getragenen Sachen landeten auf dem gewaltigen Berg Schmutzwäsche, der in einer Zimmerecke endlos in die Höhe wuchs. Einiges davon lag schon da, seit er das letzte Mal hier gewesen war – also seit fünf Jahren. Offenbar hatte nicht einmal die Putzfrau, die am Vortag da gewesen war, es gewagt, den Haufen anzurühren.
Er war unmittelbar vor dem Waschtag aus dem Therapiezentrum entlassen worden und hier mit einer riesigen Reisetasche voller Schmutzwäsche angekommen. Im Moment wusste er noch nicht einmal, wie er es schaffen sollte, die schmutzigen Sachen in die Waschküche im Erdgeschoss und anschließend die saubere Wäsche zurück in seine Wohnung zu bringen.
Vordringlich war jetzt jedoch etwas anderes: Er musste seine Waffen kindersicher verstauen. Viel wusste Frisco zwar nicht über Fünfjährige, aber dass sie sich nicht gut mit Feuerwaffen vertrugen, war ihm klar.
Er kämmte sich kurz das Haar, schnappte sich dann seinen Krückstock und humpelte Richtung Wohnzimmer, wo immer noch der Fernseher lief. Nachdem er seine Waffen in Sicherheit gebracht hatte, wollte er mit Natasha in den nächsten Lebensmittelladen, um etwas Essbares einzukaufen und …
Auf dem Fernsehschirm wirbelten Oben-Ohne-Tänzerinnen über die Bühne. Frisco griff hastig nach der Fernbedienung. Das war eindeutig kein Kinderprogramm, sondern der Playboy-Kanal oder etwas Ähnliches. Er hatte nicht einmal gewusst, dass so etwas über Kabel zu empfangen war.
„Oha, Tash, den Kanal muss ich wohl sperren“, sagte er und drehte sich zur Couch um. Die Couch war leer.
Sein Wohnzimmer war klein und übersichtlich. Ein rascher Blick in die Runde ergab, dass sie nicht im Zimmer war. Umso besser. Erleichtert humpelte er in die Küche. Aber dort war sie auch nicht, und seine Erleichterung machte aufkeimender Besorgnis Platz.
„Natasha?“ So schnell wie möglich kontrollierte Frisco sämtliche Zimmer seiner Wohnung. Selbst unter dem Bett und in den beiden Kleiderschränken schaute er nach.
Nichts. Das Kind war verschwunden.
Er humpelte unter Schmerzen zur Wohnungstür, öffnete sie und schaute hinaus. Keine Spur von Natasha, weder auf dem Laubengang noch unten im Hof. Nur Mia Summerton war zu sehen. Sie kauerte noch immer in der Farbexplosion ihres Blumenbeets, einen ziemlich lächerlich aussehenden Strohhut auf dem Kopf.
„Hey!“
Sie hob überrascht den Kopf und blickte sich suchend um. Offenbar wusste sie nicht, von wo er gerufen hatte.
„Hier oben!“
Sie war zu weit weg, als dass er ihren Gesichtsausdruck hätte deuten können, aber er sah, dass ihre Überraschung einer gewissen Anspannung wich.
Ihr Gesicht glänzte in der morgendlichen Hitze. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und hinterließ dabei einen Schmutzstreifen.
„Haben Sie Natasha gesehen? Sie wissen schon, das kleine rothaarige Mädchen? Ist sie bei Ihnen vorbeigekommen?“
„Nein.“ Mia spülte sich die Hände in einem Eimer voll Wasser ab. „Ich war die ganze Zeit hier, seit Sie nach oben gegangen sind.“
Frisco fluchte und humpelte den Laubengang entlang Richtung Vordertreppe.
„Was ist passiert?“ Mia kam die Hintertreppe herauf und lief ihm nach.
„Als ich aus der Dusche kam, war sie weg“, gab er kurz angebunden zurück. Die Morgensonne stand inzwischen hoch am Himmel, ihr strahlendes Licht verursachte ihm noch immer Kopfschmerzen, und sein Knie protestierte bei jedem Schritt aufs heftigste. Mit ihm unter einem Dach zu leben mochte vielleicht nicht der Himmel auf Erden sein, aber musste die Kleine deshalb gleich weglaufen?
Als er um die Ecke bog, blieb er abrupt stehen. Ja, das war eine Möglichkeit. Von hier aus war der Pazifik zu sehen, glitzernd und verführerisch blau, nur wenige Blocks entfernt. Vielleicht hatte Natasha das Meer gesehen und sich kurzerhand auf den Weg zum Strand gemacht? Vielleicht war sie gar nicht weggelaufen, sondern erkundete nur die Gegend. Vielleicht wollte sie auch einfach nur ausprobieren, wie weit sie bei ihm gehen konnte?
„Glauben Sie, dass sie weit weg ist? Soll ich mein Auto holen?“, fragte Mia.
Frisco drehte sich zu ihr um. Er wollte ihre verdammte Hilfe nicht, doch er hatte keine andere Wahl. Wenn er Tasha schnell finden wollte, sahen vier Augen mehr als zwei, und mit dem Auto ging es natürlich schneller als mit einem kaputten Knie und einem Krückstock.
„Ja. Beeilen Sie sich!“, antwortete er schroff. „Womöglich ist sie am Strand.“
Mia nickte und lief los. Ihr winziger Wagen stand schon am Fuß der Treppe, die zum Parkplatz führte, als er dort ankam. Sie beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür von innen.
Frisco stöhnte innerlich auf. Nie würde er in dieses kleine Auto hineinpassen! Aber irgendwie schaffte er es dann doch, sich hineinzuquetschen. Sein Knie musste er dabei so stark anwinkeln, dass ihm vor Schmerz richtig übel wurde. Mit einem kurzen Fluch machte er sich Luft.
Mia beobachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht von der Seite.
„Fahren Sie schon los!“, befahl er harsch. „Machen Sie schon. Ich weiß nicht einmal, ob das Kind schwimmen kann.“
Sie legte den ersten Gang ein und lenkte den Wagen auf die Straße in Richtung Strand. Wenn Natasha zum Wasser wollte, hatte sie vermutlich diesen Weg genommen. Frisco schaute rechts und links, ob er die Kleine irgendwo in der Menge der Fußgänger entdecken konnte. Was hatte sie eigentlich an? Irgendein weißes T-Shirt mit einem Muster drauf … Blumen? Oder Luftballons? Und bunte Shorts … oder doch einen Rock? Blau oder grün? Er konnte sich nicht erinnern und hielt daher Ausschau nach ihrem roten Haarschopf.
„Können Sie sie irgendwo sehen?“, fragte Mia. „Soll ich vielleicht besser langsamer fahren?“
„Nein. Erst mal so dicht wie möglich ans Wasser. Wenn sie da nicht ist, können wir immer noch langsam zurückfahren.“
„Aye, aye, Sir.“ Mia trat aufs Gas. Ein kurzer Seitenblick auf Alan Francisco zeigte ihr, dass ihm ihre militärische Antwort wohl gar nicht aufgefallen war. Die Knöchel seiner Hand, mit der er sich am Türgriff festklammerte, waren weiß, seine Kinnmuskeln angespannt, und er schaute hochkonzentriert aus dem Fenster, ließ den Blick auf der Suche nach seiner kleinen Nichte immer wieder über die Menschenmengen auf den Gehsteigen wandern.
Ihr fiel auf, dass er sich rasiert hatte. Ohne die Bartstoppeln wirkte er nicht ganz so gefährlich.
Beim Einsteigen hatte ihm das Knie schon heftige Schmerzen bereitet, und sie sah seinem bleichen Gesicht an, dass es immer noch wehtat. Dennoch beklagte er sich nicht. Seine Nichte wiederzufinden hatte jetzt offenbar höchste Priorität für Alan Francisco. Dafür nahm er den Schmerz in Kauf, und er ging sogar einen vorübergehenden Waffenstillstand mit Mia ein. Immerhin hatte er ihr Hilfsangebot angenommen.
Als sie blinkte, um nach links zum Parkplatz am Strand abzubiegen, rief er plötzlich: „Da ist sie. Mit einem Jungen. Auf zwei Uhr …“
„Wo?“ Mia wurde langsamer und sah sich suchend um.
„Halten Sie einfach an!“
Francisco riss die Tür auf und wäre vermutlich aus dem fahrenden Auto gesprungen, wenn Mia nicht mit voller Wucht auf die Bremse gestiegen wäre. Jetzt sah sie Natasha auch. Sie saß auf einem der Picknicktische am Ende des Parkplatzes und lauschte andächtig einem Jugendlichen afroamerikanischer Herkunft, der vor ihr stand. Irgendetwas an der Art, wie der Junge seine tief sitzende ausgebeulte Jeans trug, kam Mia bekannt vor. Als er sich umdrehte, erkannte sie ihn sofort.
„Das ist Thomas King“, rief sie. „Der Junge bei Natasha. Ich kenne ihn.“
Doch Francisco war schon ausgestiegen und humpelte eilig auf das Mädchen zu.
Weit und breit kein freier Parkplatz. Durch die Windschutzscheibe beobachtete Mia, wie Francisco sich über seine Nichte beugte, sie nicht gerade sanft vom Tisch zog und hinter sich abstellte. Was er sagte, konnte sie nicht verstehen, aber er sah ziemlich wütend aus. Als Thomas sich daraufhin kampflustig vor dem Lieutenant aufbaute, schaltete sie kurz entschlossen die Warnblinkanlage ein, ließ ihr Auto einfach mitten auf dem Parkplatz stehen und lief hinüber zu den dreien.
„Wagen Sie es nicht, die Hand gegen das Mädchen zu erheben! Sonst poliere ich Ihnen die Visage!“, drohte Thomas.
In Alan Franciscos eben noch tödlich kalt blitzenden blauen Augen zeigte sich Verwirrung. „Wie bitte? Was soll der Quatsch? Wie kommen Sie darauf, dass ich sie schlagen will?“ Friscos Stimme klang ungläubig, als sei ihm dieser Gedanke wirklich absolut fremd.
„Warum brüllen Sie sie dann so an?“ Thomas King war fast genauso groß wie Francisco, doch der ehemalige SEAL war ihm an reiner Muskelmasse um Einiges überlegen. Dennoch wich der Teenager keinen Millimeter zurück. Seine dunklen Augen blitzten vor Zorn.
„Aber das tu ich doch gar nicht …“
„Doch, das tun Sie.“ beharrte Thomas. Er äffte Frisco nach: „,Was zum Teufel treibst du hier? Wer hat dir erlaubt, einfach abzuhauen?‘ Ich dachte, Sie wollten sie verprügeln – und sie dachte das auch.“
Frisco drehte sich zu Natasha um. Sie hatte sich unter den Picknicktisch geflüchtet und starrte ihn aus angstgeweiteten Augen an. „Tasha, du glaubst doch nicht etwa …“
Doch, genau das glaubte sie. Ihr ängstlicher Blick und ihre Haltung sagten alles. Frisco fühlte sich elend.
So gut er konnte, kauerte er sich neben den Tisch. „Natasha, hat deine Mom dich manchmal geschlagen, wenn sie wütend war?“ Eigentlich traute er der warmherzigen Sharon nicht zu, dass sie ein wehrloses Kind schlug, aber Alkohol konnte aus dem sanftmütigsten Menschen ein Monster machen.
Tasha schüttelte den Kopf. „Nein, Mommy nicht“, sagte sie leise. „Aber Dwayne hat mich mal gehauen, und da hatte ich eine blutige Lippe. Mommy hat geweint, und dann sind wir umgezogen.“
Gott sei Dank hatte Sharon wenigstens noch so viel Vernunft gehabt. Verdammter Dwayne, wer auch immer das sein mochte! Was für ein Monster musste man sein, um ein fünfjähriges Kind zu schlagen?
Was für ein Monster musste man sein, um die Kleine anzubrüllen, wie er es gerade getan hatte?
Schwerfällig ließ Frisco sich auf die Bank vor dem Picknicktisch fallen. Er schaute kurz hoch zu Mia. Ihr Blick war weich, so, als könnte sie seine Gedanken lesen.
„Tasha, es tut mir leid.“ Er rieb sich die brennenden Augen. „Ich wollte dir keine Angst machen.“
„Ein Freund von Ihnen?“, fragte der schwarze Junge Mia. Sein Ton gab zu verstehen, sie solle sich in Zukunft ihre Freunde sorgfältiger aussuchen.
„Er wohnt in 2c“, erklärte Mia. „Mein geheimnisvoller Nachbar – Lieutenant Alan Francisco.“ Und zu Frisco gewandt: „Das ist Thomas King, ein ehemaliger Schüler von mir. Er wohnt in 1n, zusammen mit seiner Schwester und ihren Kindern.“
Ein ehemaliger Schüler? Demnach war Mia Summerton also Lehrerin. Wenn je eine seiner Lehrerinnen so ausgesehen hätte, wäre er bestimmt mit größerer Begeisterung zur Highschool gegangen.
„Lieutenant“, wiederholte der Junge skeptisch. „Sind Sie ein Cop?“
„Nein, das bin ich nicht“, gab Frisco zurück und riss seinen Blick von Mia los, um den Jungen anzusehen. „Ich bin bei der Navy …“ Er stockte, schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen. „Ich war bei der Navy.“
Thomas hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände in die Achseln geschoben, um eindeutig klarzustellen, dass er gar nicht daran dachte, Alan die Hand zu schütteln.
„Der Lieutenant war ein SEAL“, fügte Mia hinzu. „Mitglied einer Spezialeinheit, die …“
„Ich weiß, was ein SEAL ist“, unterbrach Thomas sie. Er musterte Frisco mit einem zynischen, gelangweilten Blick. „Das sind diese Verrückten, die in Coronado ihre Schlauchboote durch die Brandung steuern und in die Felsen krachen lassen. Haben Sie so was auch mal gemacht?“
Auch Mia sah ihn jetzt wieder an. Sie war tatsächlich verdammt hübsch. Und jedes Mal, wenn ihre Augen sich trafen, spürte Frisco eine starke sexuelle Spannung zwischen ihnen. Es war zum Verrücktwerden. Von ihrem hübschen exotisch geschnittenen Gesicht und ihrem schlanken athletischen Körper abgesehen, brachte ihn alles an dieser Frau auf die Palme. Er konnte keine neugierige Nachbarin gebrauchen, die ihre Nase in seine Angelegenheiten steckte. Keinen übereifrig hilfsbereiten Gutmenschen, der ihn permanent an seine Behinderung erinnerte. Kein ständig widerlich gut gelauntes, Blumen liebendes, antimilitärisch eingestelltes, durch nichts einzuschüchterndes, offenherziges Mädchen von nebenan.
Aber immer wenn er in ihre haselnussbraunen Augen schaute, stieg in ihm heißes Verlangen hoch. Rein vernunftmäßig wäre er ihr am liebsten meilenweit aus dem Weg gegangen, aber körperlich … Tja, sein Körper setzte offenbar andere Prioritäten. Prioritäten wie glatte, sanft gebräunte Haut, die im Mondlicht schimmerte, und lange dunkle Haare, die ihm übers Gesicht streiften, über seine Brust und weiter abwärts …
Frisco quälte sich ein Lächeln ab und fragte sich, ob Mia wohl in diesem Augenblick seine Gedanken lesen konnte. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, nicht einmal, um Thomas‘ Frage zu beantworten. „Ja, während des Trainings habe ich so etwas auch gemacht.“
Sie errötete nicht. Sie schlug die Augen nicht nieder. Sie erwiderte ungerührt seinen Blick und zog dabei nur leicht eine Augenbraue nach oben. Frisco hatte das Gefühl, dass sie tatsächlich sehr genau wusste, was er dachte. Eher friert die Hölle zu. Sie hatte am Abend zuvor nicht exakt diese Worte benutzt, aber sie hallten in seinem Kopf wider, als hätte sie sie ausgesprochen.
Na schön, diese Mia übte eine ungeheure sexuelle Anziehungskraft auf ihn aus. Doch sie schien ihm nicht der Typ für eine unverbindliche heiße Bettgeschichte. Ganz im Gegenteil: Einmal in seinem Bett, würde sie für immer bleiben wollen. Auf ihrer Stirn stand sozusagen in riesigen Buchstaben „feste Freundin“ geschrieben, und das war das Letzte, was er wollte und brauchte. Sie würde seine Wohnung mit Blumen aus ihrem kleinen Garten schmücken und endlos mit ihm reden wollen. Sie würde erwarten, dass er sie zärtlich küsste, das Bad immer ordentlich und sauber hinterließ, seine innersten Geheimnisse mit ihr teilte und aufrichtiges Interesse an ihrem Leben zeigte.
Wie sollte er Interesse für ihr Leben entwickeln, wenn er nicht einmal die geringste Begeisterung für sein eigenes aufbrachte?
Jetzt ging seine Fantasie mit ihm durch. Er ging einfach davon aus, dass es ihm leichtfallen würde, sie in null Komma nichts ins Bett zu kriegen. Vor fünf Jahren hätte er vielleicht noch die besten Chancen gehabt, aber heute? Welche Frau – erst recht eine wie Mia – interessierte sich schon für einen Krüppel?
Eher friert die Hölle zu. Frisco ließ den Blick über das gleißende Blau des Ozeans schweifen. Das grelle Licht brannte in seinen Augen.
„Wie kommt ein SEAL zu einem Kind, das nicht schwimmen kann?“, riss Thomas ihn aus seiner Grübelei. Der Zorn in seinen Augen hatte sich merklich gelegt. Jetzt lag darin nur noch zynische Geringschätzung und eine seltsame Wachsamkeit, die den Jungen älter wirken ließ, als er war. Er trug Narben im Gesicht. Eine zog sich durch die rechte Augenbraue, eine weitere zierte seinen hohen Wangenknochen. Diese Narben und seine offenbar schon mehrfach gebrochene Nase verliehen ihm das Aussehen eines alten Kämpfers. Aber von ein paar Slang-Ausdrucken abgesehen, sprach er nicht wie ein Straßenkind. Er hatte überhaupt keinen hörbaren Akzent, und Frisco fragte sich, ob der Junge ähnlich hart daran gearbeitet hatte, alle Spuren seiner Vergangenheit und seiner Eltern auszulöschen, wie er selbst.
„Natasha ist die Nichte des Lieutenants. Sie ist erst heute angekommen und wird ein paar Wochen bei ihm wohnen“, antwortete Mia.
„Direkt vom Mars, oder?“ Thomas schaute unter den Tisch und schnitt Natasha eine Grimasse.
Sie kicherte. „Thomas denkt, ich komme vom Mars, weil ich nicht wusste, was das für ein Wasser ist.“ Natasha kroch unter dem Tisch hervor. An ihren Kleidern klebte Sand, und sie waren klatschnass, wie Frisco erst jetzt bemerkte.
„Nur kleine Marsmädchen haben noch nie im Leben das Meer gesehen“, sagte Thomas. „Und wissen nicht, dass es keine gute Idee ist, allein ins Wasser zu gehen.“
Auf Friscos Gesicht spiegelte sich ein heftiger Widerstreit der Gefühle. Die Rettungsschwimmer hatten ihre Fahne gehisst. Das bedeutete, dass die Strömung heute besonders stark und gefährlich war. Sein Blick wanderte an Thomas abwärts bis zu dessen bis über die Knie nassen Jeans.
„Du hast sie rausgeholt“, stellte er betont lässig fest.
„Ich habe selbst eine fünfjährige Nichte“, gab Thomas ebenso lässig zurück.
Francisco rappelte sich mühsam hoch und streckte dem Jungen die Hand hin. „Danke. Tut mir leid wegen vorhin. Ich … habe keine Erfahrung mit kleinen Kindern.“
Mia stockte der Atem. Sie kannte Thomas gut, und wenn er Alan Francisco als Feind betrachtete, würde er ihm niemals die Hand schütteln.
Aber Thomas zögerte nur kurz und ergriff dann die Hand des Lieutenants.
Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelten sich in Friscos Augen Erleichterung, Dankbarkeit, Bedauern und Scham. Doch wie immer verschwand dieser Gefühlsausdruck blitzschnell hinter einer ausdruckslosen Maske. Um zu verbergen, was in ihm vorging, begrub er seine Empfindungen fein säuberlich unter dem ständig in ihm brodelnden Zorn.
Er versteckte alles hinter diesem Zorn. Nur aus der ungeheuren erotischen Anziehungskraft, die Mia auf ihn ausübte, machte er kein Hehl. Im Gegenteil: Er stellte sie regelrecht zur Schau.
Dabei hatte Mia gestern Abend noch gedacht, er wolle sie nur abschrecken mit seinen Machosprüchen.
Da hatte sie sich wohl gründlich getäuscht. Seine Blicke sprachen eine eindeutige Sprache.
Wirklich verrückt an dieser ganzen Geschichte war jedoch, dass der Gedanke an eine sexuelle Beziehung mit diesem Mann sie überhaupt nicht abschreckte. Sie konnte sich das selbst nicht erklären. Lieutenant Alan Francisco war ein Bilderbuchsoldat, sehr wahrscheinlich ein Chauvinist, obendrein ein Trinker und zu allem Überfluss tätowiert. Dennoch konnte sie sich sehr gut vorstellen, ihn bei der Hand zu nehmen, zu ihrem Bett zu führen und dort mit ihm zu verschmelzen.
Und das lag nicht daran, dass er athletisch gebaut, durchtrainiert und verdammt gut aussehend war. Na schön, um ehrlich zu sein, es lag auch ein wenig daran. Natürlich war ihr aufgefallen, dass er ein Bild von einem Mann war, und es fiel ihr immer wieder auf.
Dennoch fühlte sie sich vor allem von etwas anderem angezogen – nämlich von der Zärtlichkeit in seinen Augen, wenn er mit Natasha sprach, und von dem gequälten, schiefen Lächeln, das er der Kleinen schenkte. Sie vermutete, dass sich unter all seinem Zorn und seiner Verbitterung, unter seiner abwehrenden Haltung und seiner rauen Schale ein sehr weiches Herz verbarg.
„Lass uns eine Abmachung treffen“, sagte er zu seiner Nichte. „Du gehst nie ohne einen Erwachsenen an den Strand, und du gehst nie, niemals allein ins Wasser.“
„Das hat Thomas auch gesagt“, erklärte Tasha. „Er sagte, ich hätte ertrinken können.“
„Da hat Thomas völlig recht.“
„Was ist ertrinken?“
„Hast du schon mal versucht, unter Wasser zu atmen?“
Tasha schüttelte den Kopf, dass die roten Locken flogen.
„Probier es lieber nicht aus. Wir Menschen können nämlich unter Wasser nicht atmen. Nur Fische können das. Und ich finde nicht, dass du viel Ähnlichkeit mit einem Fisch hast.“
Die Kleine kicherte, gab aber nicht nach. „Was ist ertrinken?“
Mia verschränkte die Arme vor der Brust, gespannt, ob Francisco wieder versuchen würde, vom Thema abzulenken, oder ob er es tatsächlich wagen würde, mit dem Mädchen über den Tod zu sprechen.
„Also“, begann Frisco langsam, „wenn jemand nicht schwimmen kann oder sich verletzt oder wenn die Wellen zu hoch sind, dann kann er unter Wasser geraten. Das heißt, er kann dann nicht atmen. Normalerweise ist es nicht weiter schlimm, wenn du mit dem Kopf unter Wasser gerätst. Du hältst einfach die Luft an, schwimmst nach oben, tauchst auf und holst Luft, sowie dein Kopf wieder über Wasser ist. Aber wie ich schon sagte, wenn man nicht schwimmen kann oder vielleicht einen Krampf im Bein hat oder es sehr stürmisch ist, dann schafft man es vielleicht nicht mehr nach oben. Und wenn man nicht mehr atmen kann … nun ja, dann stirbt man. Man ertrinkt. Menschen brauchen Luft zum Leben.“
Natasha sah ihren Onkel mit zur Seite geneigtem Kopf unverwandt an. „Ich kann nicht schwimmen“, sagte sie schließlich nach einer Weile.
„Ich werde es dir beibringen“, versprach Francisco ohne Zögern. „Jeder sollte schwimmen lernen. Aber auch wenn du schwimmen kannst, darfst du nie allein ins Wasser gehen. Man sollte immer einen Freund dabeihaben, der einem im Notfall helfen könnte, verstehst du? Nicht mal wir SEALs schwimmen allein, niemals. Man hat immer seinen Schwimmkumpel dabei, der ebenso gut auf einen achtet wie man selbst auf ihn. Und du und ich, Tasha, wir werden in den nächsten paar Wochen Schwimmkumpel sein. Einverstanden?“
„Ich muss jetzt los, Miss Summerton. Sonst komme ich zu spät zur Arbeit.“
Mia wandte sich zu Thomas um, dankbar, dass er sie aus ihren Träumereien gerissen hatte. Sie hatte dagestanden wie eine Idiotin und Alan Francisco angestarrt, hingerissen von seiner Unterhaltung mit seiner Nichte. „Pass auf dich auf, Thomas!“
„Mach ich doch immer!“
Natasha hockte sich in den Sand und untersuchte Steine und Muschelschalen. Thomas beugte sich zu ihr hinunter und fuhr ihr mit der Hand übers Haar. „Bis später, Marsmädchen.“ Dann ein kurzes Nicken zu Francisco: „Lieutenant.“
Francisco erhob sich von der Bank. „Nenn mich Frisco. Und noch mal vielen Dank.“
Der Junge nickte ihm noch einmal zu und verschwand.
„Er hat einen Teilzeitjob als Wachmann an der Uni“, erklärte Mia. „So kann er in seiner Freizeit als Gasthörer an Vorlesungen teilnehmen – soweit er über Freizeit verfügt. Er jobbt nämlich außerdem auch noch als Landschaftsgärtner in Coronado.“
Wieder lag sein Blick auf ihr, diesmal verschleiert und schwer zu deuten. Ihr hatte er nicht angeboten, ihn Frisco zu nennen. Vielleicht war das eher so eine Männersache. Oder ein SEAL durfte sich von einer Frau nicht beim Spitznamen nennen lassen. Vielleicht hatte er auch persönlichere Gründe. Vielleicht wollte er sich einfach nicht näher auf sie einlassen. Dass ihm an einer freundschaftlichen Beziehung nichts lag, hatte er letzte Nacht deutlich genug durchblicken lassen.
Weil sein Blick sie verlegen machte, sah Mia zurück zu ihrem Auto, das noch immer mitten auf dem Parkplatz stand. Solange dieser Mann sich wie ein Rüpel aufführte, wurde sie problemlos mit ihm fertig. Aber wenn er sie wie jetzt einfach nur anstarrte, wenn sein ständig brodelnder Zorn nur ansatzweise zu erahnen war, dann brachte er sie aus dem Gleichgewicht. Sie fühlte sich unbehaglich, fast wie ein verliebtes Schulmädchen. „Tja … Gott sei Dank haben wir … haben Sie Natasha gefunden … Soll ich Sie beide mit zurücknehmen?“
Frisco schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank.“
„Ich kann den Beifahrersitz ganz leicht verstellen, damit es bequemer für Sie …“
„Nein, wir haben ein paar Einkäufe zu erledigen.“
„Aber Natasha ist ganz nass.“
„Sie wird schon wieder trocken. Außerdem brauche ich etwas Bewegung.“
Bewegung? Dieser Mann hatte doch einen Knall! „Eine oder zwei Wochen Bettruhe täten Ihnen mit Sicherheit wohler.“
Schlagartig kam Leben in sein Gesicht. Er verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln, und seine Augen glitzerten. Dann beugte er sich vor und raunte ihr ins Ohr: „Wollen Sie mir dort Gesellschaft leisten? Ich wusste, früher oder später ändern Sie Ihre Meinung.“
Alles nur Bluff. Er konnte gar nicht ahnen, wie es in ihr aussah. Er wollte sie aus der Fassung bringen, aber so leicht würde sie es ihm nicht machen. Cool trat sie noch dichter an ihn heran und ließ ihren Blick aufreizend lange auf seinem Mund verweilen, ehe sie ihm in die Augen sah. Sollte er ruhig merken, dass er mit seinem dämlichen Machogehabe bei ihr nicht landen konnte.
Doch als ihre Augen sich trafen, war das überhebliche Lächeln aus Friscos Blick verschwunden und etwas anderes an seine Stelle getreten. Je länger sie einander ansahen, umso heißer und intensiver loderte das Feuer zwischen ihnen. Mia wurde schlagartig klar, dass sie sich zu weit aus ihrer Deckung herausgewagt und zu viel offenbart hatte. Er konnte ihr ansehen, dass nicht nur er sie, sondern auch sie ihn begehrte.
Die Sonne brannte auf sie herab, und ihr Mund fühlte sich an wie ausgetrocknet. Sie versuchte zu schlucken, ihre trockenen Lippen anzufeuchten, sich wegzudrehen. Doch sie war wie gelähmt.
Seine Hand hob sich wie in Zeitlupe. Gleich würde er sie berühren, sie an sich ziehen und ihren Mund mit seinen Lippen bedecken.
Doch seine Berührung war leicht wie eine Feder. Mit einem Finger nur fuhr er vom Hals bis zum Schlüsselbein der Linie einer Schweißperle nach, und trotzdem war diese hauchzarte Berührung sinnlicher und intimer, als ein Kuss es hätte sein können.
Die Welt begann sich um Mia zu drehen, und fast hätte sie sich ihm in die Arme geworfen. Doch zum Glück setzte ihr Verstand wieder ein, und sie wich zurück.
„Eher fallen Ostern und Weihnachten auf einen Tag, als dass ich meine Meinung ändere“, flüsterte sie.
Mit weichen – butterweichen – Knien wandte sie sich ab und ging zurück zu ihrem Auto. Er machte keine Anstalten, ihr zu folgen, doch als sie losfuhr, sah sie im Rückspiegel, dass er ihr nachschaute.
Ob er ihr glaubte? Vermutlich nicht. Sie war sich ja nicht einmal sicher, ob sie das selbst tat.