5. KAPITEL
Okay, Tash“, rief Frisco vom Laubengang in den Hof hinunter. „Bereit für einen Versuch?“
Das Mädchen nickte, und er drehte an der Kurbel des Flaschenzuges und ließ das Seil hinunter.
Die Idee war ihm schon beim Einkaufen gekommen. Denn dass weder er noch Natasha all die Sachen über die steile Treppe hinauftragen konnten, war ihm schnell klar geworden. Natasha war zwar mit Feuereifer bei der Sache, wenn es darum ging zu helfen – und sie nicht gerade auf Entdeckungstour in der Umgebung war – ‚aber mehr als eine oder zwei leichte Einkaufstaschen konnte sie keinesfalls bewältigen.
Aber Frisco hatte in den zehn Jahren bei den SEALs gelernt, sich auch mit unkonventionellen Mitteln zu behelfen. Er konnte für jedes Problem eine kreative Lösung finden, so auch dieses Mal. Im nahe gelegenen Baumarkt hatten sie alle für einen einfachen Flaschenzug notwendigen Utensilien besorgt.
Ihre mit Lebensmitteln vollgestopften Plastiktüten standen unten auf dem Hof, direkt unter dem Seil, an dem Frisco einen Haken befestigt hatte.
„Häng eine Tüte an den Haken“, rief Frisco seiner Nichte zu. „Durch die Schlaufen … ja, genau so.“
Mia Summerton beobachtete ihn.
Seit er und Natasha mit ihren Einkäufen aus dem Taxi gestiegen waren, spürte er ihre Gegenwart beinahe körperlich. Womit sie sich schon wieder in ihrem verdammten Blumenbeet beschäftigte, das wusste der Himmel. Auf jeden Fall verfolgte sie jeden einzelnen seiner Handgriffe verstohlen aus den Augenwinkeln.
Sie hatte beobachtet, wie er die Tiefkühlware und die leicht verderblichen Lebensmittel aus den Plastiktüten in einen Rucksack umgeladen und nach oben gebracht hatte. Wie er dasselbe mit den Bauteilen für den Flaschenzug getan hatte. Wie er sich langsam mit seinem Werkzeugkoffer auf der Treppe niedergelassen und an die Arbeit gemacht hatte.
Sie hatte ihn ständig beobachtet, dabei aber sehr darauf geachtet, dass er sie nicht dabei ertappte. Dennoch konnte er ihren Blick fühlen. Er bildete sich sogar ein, ihren Duft wahrnehmen zu können.
Ungläubig schüttelte er den Kopf. Was immer zwischen ihnen beiden vorhin am Strand vorgefallen war, er wollte mehr davon. Viel mehr. Ein Blick von ihr hatte genügt, ihn in einen Strudel sexuellen Verlangens zu ziehen. Er hatte sie einfach berühren müssen. Hatte sich einfach ausmalen müssen, wo die Schweißperle verschwunden war, deren Spur sein Finger bis zum Ausschnitt ihres T-Shirts nachgezeichnet hatte. Es hatte ihn nicht viel Fantasie gekostet, sich vorzustellen, wie sie langsam zwischen ihren Brüsten hinabgelaufen war bis zu ihrem Bauchnabel.
Am liebsten wäre er ihr ganz mit dem Finger gefolgt.
Doch dann hatte er den Schreck in Mias Augen gesehen. Mit dieser überwältigenden Woge gegenseitiger Anziehung hatte sie nicht gerechnet – und sträubte sich dagegen. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Sie wollte keinen einzigen bewusstseinsverändernden One-Night-Stand, und schon gar nicht wollte sie eine langfristige Beziehung. Das überraschte ihn nicht.
„Ich schaffe es nicht“, erklang von unten Natashas enttäuschte Stimme.
Bisher hatte Mia nur stillschweigend beobachtet und sich jeglicher Hilfsangebote enthalten. Doch nun erhob sie sich. Offenbar konnte sie den Anflug von Angst in Natashas Stimme nicht ignorieren.
„Soll ich dir helfen, Natasha?“, fragte sie, ohne Frisco auch nur eines Blickes zu würdigen.
Frisco wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er zusah, wie Tasha zur Seite hüpfte und Mia unten die Plastiktüte an den Haken hängte. Es waren beinahe 40 Grad im Schatten, dennoch spürte er einen eisigen Hauch, als sie schließlich zu ihm hochsah.
Sie gab sich verdammt viel Mühe, so zu tun, als interessiere sie sich nicht im Geringsten für ihn. Trotzdem hatte sie ihn die letzten anderthalb Stunden ununterbrochen beobachtet. Warum?
Vielleicht fühlte sie ja doch dasselbe wie er? Spürte dieselbe unkontrollierbare Anziehungskraft, die seinen Blick immer wieder wie von einem Magneten angezogen zu ihr hinüberwandern ließ. Die den Hammer deutlich öfter auf seinem Daumen hatte landen lassen als jemals zuvor. Die seinen gesamten Körper unter Strom setzte, sobald er auch nur an sie dachte.
Lust und Begehren, um das Tausendfache verstärkt. Es war etwas sehr viel Mächtigeres.
Er wollte sie nicht. Es war die Mühe nicht wert, nicht die zu erwartenden Auseinandersetzungen, nicht die Trauer, wenn es schiefging. Und doch, zugleich verzehrte er sich nach ihr. Er wollte sie mehr, als er je zuvor eine Frau begehrt hatte.
Wenn er leicht ins Bockshorn zu jagen gewesen wäre, dann hätte er es jetzt mit der Angst zu tun bekommen.
„Wir sollten ein Stück zurückgehen“, warnte Mia das Mädchen, als Frisco die Kurbel zu drehen begann.
Die ersten paar Meter ging alles gut, doch dann riss der Boden der Plastiktüte unter dem Gewicht der Lebensmittel auf, und ihr gesamter Inhalt fiel zu Boden.
Frisco fluchte laut, als ein Sechserpack Bier zerbarst, braune Glassplitter in alle Richtungen flogen und das Bier sich höchst unappetitlich mit einem halben Liter Himbeersaft, vier geplatzten Tomaten und einer zermatschten Avocado vermischte.
Mia schaute erst auf den Trümmerhaufen und dann zu Alan Francisco hinauf. Er unterbrach seine Litanei von Flüchen und starrte schweigend, finster und verzweifelt auf die Schweinerei am Boden. Mia wusste, dass er in diesem Augenblick mehr sah als nur einen Haufen Scherben. Er sah sein Leben vor sich, das so unumkehrbar zu Bruch gegangen war wie jene Bierflaschen.
Doch dann atmete er tief durch und zwang sich, Natasha aufmunternd anzulächeln, die mit schreckgeweiteten Augen zu ihm aufschaute.
„Wir sind auf dem richtigen Weg“, versicherte er ihr und ließ das Seil wieder herab. „Und wir stehen unmittelbar vor einem bahnbrechenden Erfolg, das weiß ich genau.“ Auf seinen Krückstock gestützt, humpelte er langsam die Treppe hinunter. „Vielleicht sollten wir besser zwei Plastiktüten nehmen? Oder zusätzlich noch eine Papiertüte?“
„Wie wär’s mit Stoffbeuteln?“, warf Mia ein.
„Vorsicht, Tasha, da liegen überall Glassplitter!“, warnte Alan das Kind, bevor er sich an Mia wandte. „Mit Stoffbeuteln würde es funktionieren, aber ich habe keine.“
Alan, dachte Mia. Seit wann nannte sie ihn in ihren Gedanken eigentlich Alan statt Francisco? Seitdem sie gesehen hatte, wie er, seinen Schmerzen zum Trotz, seine Nichte anlächelte? Oder schon seitdem er sie auf dem Parkplatz am Strand mit nur einem Blick in Flammen hatte aufgehen lassen?
Sie folgte ihm die Stufen hinauf und konnte dabei kaum den Blick lassen von seinem nackten, tief gebräunten Oberkörper. Er trug nur Hawaiishorts, die tief auf den Hüften saßen und seinen muskulösen Oberkörper betonten. Sein Bauch war flach und hart, und ein dünner Schweißfilm glänzte auf seiner Haut. Jetzt sah sie auch, dass die zweite Tätowierung keine Nixe war, wie sie erst vermutet hatte, sondern eine Seeschlange.
„Aber ich habe welche“, sagte sie und verschwand fluchtartig in ihrer Wohnung.
Dort lehnte sie sich für einen Augenblick an die Wand und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass ihr Herz bei seinem Anblick doppelt so schnell schlug wie sonst? Er war faszinierend, das konnte sie nicht leugnen. Er strahlte eine wilde, ungezähmte Sinnlichkeit aus, der sie sich nicht entziehen konnte. Er war sexy und hinreißend. Und er hatte mit ernsthaften Problemen zu kämpfen, was ihm einen Hauch von Tragik verlieh. Doch das waren normalerweise nicht die Kriterien, nach denen sie sich einen ihre Liebhaber aussuchte.
Tatsache war, dass sie nicht mit ihm schlafen würde, rief sie sich selbst zur Ordnung. Wahrscheinlich definitiv nicht. Wahrscheinlich definitiv …? Was zum Teufel war eigentlich los mit ihr?
Verärgert über sich selbst, schüttelte Mia den Kopf.
Wahrscheinlich war Vollmond. Dann war sie immer irgendwie seltsam drauf. Ihre Mutter, die fest an Horoskope glaubte, würde vermutlich sagen: Deine Sterne stehen so und so, und das macht dich ruhelos und leichtsinnig. Vielleicht war es auch einfach nur das Alter, immerhin war sie fast dreißig. Womöglich forderte ihr Körper lediglich sein Recht und schüttete Hormone in solchen Mengen aus, dass sie sie nicht länger ignorieren konnte.
Worin auch immer der Grund liegen mochte, Fakt war und blieb: Sie würde nicht mit einem Fremden schlafen. Bevor irgendetwas zwischen ihnen geschehen konnte, würde sie sich die Zeit lassen, den Mann richtig kennenzulernen. Und wenn sie ihn erst kannte, ihn und den Berg körperlicher und seelischer Probleme, den er mit sich herumschleppte, würde es ihr vermutlich sehr viel leichter fallen, sich von ihm fernzuhalten. Davon war sie überzeugt.
Sie nahm einige Stofftaschen aus dem Schrank und ging wieder hinaus. Alan kauerte ziemlich hilflos unten auf dem Hof, um die Schweinerei zu beseitigen, die er angerichtet hatte.
„Alan, warten Sie. Sammeln Sie die Scherben nicht mit bloßen Händen auf“, warnte sie ihn. „Ich bringe Ihnen Handschuhe und eine Schaufel.“ Ihm anzubieten, den Scherbenhaufen für ihn zu beseitigen, wagte sie nicht. Sie wusste, dass er das Angebot ablehnen und sie dafür hassen würde.
Rasch warf sie ihm die Baumwolltaschen in den Hof, und er fing sie mit spielerischer Leichtigkeit auf. Als er den Aufdruck auf einer der Taschen las, verdrehte er die Augen. Eine politische Botschaft, natürlich! Kopfschüttelnd hockte er sich ins Gras und packte die Einkäufe von den Plastiktüten in die Baumwolltaschen um.
„Wäre es nicht schön, wenn Bildung kostenlos für alle wäre und die Regierung eine Tombola veranstalten müsste, um einen Bomber zu kaufen?“, zitierte er, als Mia wieder neben ihm auftauchte. Sie war mit Müllbeutel, Arbeitshandschuhen und einem Ding bewaffnet, das verdächtig nach einem Schäufelchen für Hundekot aussah.
Sie lächelte schief. „Ich dachte mir schon, dass Ihnen der Spruch gefallen würde.“
„Wir können gern ein andermal ausführlich über die Ignoranz des Durchschnittsbürgers in Sachen Militärhaushalt diskutieren“, erklärte er, „aber gerade jetzt bin ich dafür nicht in der richtigen Stimmung.“
„Wie wär’s, wenn ich so tue, als hätten Sie mich nicht gerade eine Ignorantin genannt? Und wenn Sie so tun, als hielte ich Sie nicht für einen steifen, engstirnigen, strohdummen Berufssoldaten?“, schlug sie mit zuckersüßer Stimme vor.
Frisco musste unwillkürlich lachen. Es war ein tiefes Lachen, das aus dem Bauch kam. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gelacht hatte. Immer noch lächelnd schaute er zu ihr auf. „Klingt wie ein fairer Vorschlag“, erwiderte er. „Wer weiß, vielleicht irren wir uns ja beide.“
Mia lächelte zurück, ein wenig zögerlich und immer noch auf der Hut.
„Ich habe Ihnen noch gar nicht für Ihre Hilfe heute Morgen gedankt“, begann Frisco. „Tut mir leid, wenn ich etwas …“ Er stockte.
Mia wartete geduldig, dass er seinen Satz beendete. Was mochte er sagen wollen? Unfreundlich? Beunruhigt? Aufgeregt? Wütend? Unsachlich?
„… grob war“, schloss er schließlich. Er warf einen Blick zu Natasha, die im Schatten einer Palme lag, durch ihre Finger hindurch zum Himmel sah und leise vor sich hin trällerte. „Mit dieser Situation bin ich völlig überfordert“, gestand er mit einem schiefen Lächeln. „Ich habe keine Ahnung, wie man mit kleinen Kindern umgeht, und …“ Er zuckte mit den Schultern. „Selbst wenn ich etwas davon verstünde, bin ich derzeit nicht in der geeigneten psychischen Verfassung dafür, verstehen Sie?“
„Sie machen das prima.“
In seinem Blick lagen Belustigung und Ungläubigkeit. „Sie war kaum eine halbe Stunde unter meiner Aufsicht, und schon hatte ich sie verloren.“ Er versuchte, sich bequemer hinzuhocken, und stöhnte leise auf vor Schmerz. „Auf dem Heimweg habe ich versucht, mit ihr über ein paar grundsätzliche Regeln zu sprechen. Dass sie mir zum Beispiel Bescheid sagen muss, wenn sie die Wohnung verlässt, und dass sie nur im Hof spielen darf. Sie hat mich angesehen, als spräche ich Chinesisch.“ Er hielt inne und sah wieder zu dem Kind hinüber. „Anscheinend gab es bei Sharon überhaupt keine Regeln. Die Kleine durfte offensichtlich kommen und gehen, wie sie wollte. Ich glaube nicht, dass auch nur ein bisschen von dem, was ich ihr gesagt habe, bei ihr hängen geblieben ist.“
Er zog sich an seinem Krückstock hoch, nahm eine der gefüllten Baumwolltaschen auf und trug sie zu seiner Seilzugvorrichtung, wobei er einen Bogen um den Haufen Glasscherben, durchweichte Kartonreste und Himbeersaft-Bier machte.
„Sie müssen ihr Zeit geben, Alan. Für Natasha ist die Situation hier genauso ungewohnt wie für Sie – ohne ihre Mutter.“
Frisco hängte die Baumwolltasche an den Haken. „Wissen Sie …“ Er warf ihr über die Schulter einen Blick zu. „Eigentlich nennt mich niemand Alan. Ich bin Frisco … schon seit Jahren.“ Er machte sich auf den Weg die Stufen hinauf. „Bis auf meine Schwester nennen mich alle Frisco – mein Schwimmkumpel, mein Commander … einfach alle.“
Er schaute von oben zu ihr hinunter. Sie stand im Hof und beobachtete ihn, diesmal, ohne ein Hehl daraus zu machen. Die Kleidung, die sie zur Gartenarbeit trug, war fast so schmutzig wie seine, und etliche Strähnen ihres langen schwarzen Haares hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst. Wie war es nur möglich, dass er sich scheußlich verschwitzt und verdreckt fühlte, während sie unglaublich hübsch wirkte?
Er bediente die Kurbel. Die Tasche stieg in die Höhe, und diesmal gelangte alles heil oben an.
Mia applaudierte, und auch Natasha klatschte vor Freude in die Hände.
„Lassen Sie das Seil wieder runter. Ich hänge die nächste Tasche an“, rief Mia.
Auch die zweite Tasche kam heil oben an.
„Komm rauf, Tash, und hilf mir, die Sachen in die Wohnung zu bringen“, rief Frisco der Kleinen zu, und sie stürmte sofort die Treppen hinauf. Dann wandte er sich an Mia: „Ich komme gleich wieder runter und räume den Dreck weg.“
„Alan, wissen Sie, ich habe im Moment sowieso nichts zu tun, ich kann …“
„Frisco“, unterbrach er sie. „Nicht Alan. Und aufräumen werde ich. Nicht Sie. Außerdem finde ich, wir könnten uns duzen.“
„Macht es Ihnen … Verzeihung … dir etwas aus, wenn ich dich Alan nenne? Es ist immerhin dein Vorname, und …“
„Ja, es macht mir etwas aus. Mein Name ist Frisco. Seit ich bei den SEALs anfing, bin ich Frisco.“ Seine Stimme wurde leiser. „Wer ist schon Alan? Ein Niemand.“
Ein gellender Schrei riss Frisco aus dem Schlaf.
Noch bevor er richtig wach war, rollte er sich aus dem Bett auf den Boden und tastete hastig nach seiner Waffe. Dann erst fiel ihm ein, dass er keine Pistole mehr unter dem Kopfkissen oder neben dem Bett liegen hatte. All seine Waffen lagen sicher verschlossen in einer Kiste in seinem Schrank. Außerdem befand er sich nicht etwa auf gefährlicher Mission im Dschungel, sondern in seinem Schlafzimmer in San Felipe, Kalifornien. Und der Schrei, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, kam von seiner fünfjährigen Nichte, die eigentlich tief und fest im Wohnzimmer auf der Couch schlummern sollte.
Frisco taumelte schlaftrunken zur Wand und knipste das Licht an. Er griff sich seinen Stock und humpelte über den Flur ins Wohnzimmer.
In dem schmalen Lichtstreifen, der zur Tür hereinfiel, konnte er Natasha sehen. Sie hockte weinend und mit schweißnassem Haar inmitten von zerwühlten Laken.
„He“, sagte er. „Was zum T… ähm … was ist denn los, Tash?“
Die Kleine antwortete nicht, sie weinte nur.
Frisco setzte sich neben sie, aber die Tränen liefen und liefen. „Soll ich dich in den Arm nehmen? Fehlt dir irgendwas?“, fragte er hilflos. Sie schüttelte den Kopf, immer noch schluchzend.
„Hmm, ja …“ Verunsichert sah Frisco sich um. Was sollte er nur tun, um das Mädchen zu beruhigen?
Jemand klopfte von draußen an die Wohnungstür.
„Möchtest du aufmachen, Tasha?“
Keine Antwort.
„Tja, dann … geh ich wohl besser.“
Mia stand in einem weißen Bademantel und mit offenem Haar vor dem Fliegengitter. „Ist alles in Ordnung?“
„Nein, ich bringe meine Nichte nicht um und foltere sie auch nicht“, gab Frisco grob zurück und knallte ihr die Tür vor der Nase zu – nur um sie gleich wieder zu öffnen und die Fliegengittertür aufzustoßen. „Du weißt nicht zufällig, wo Tashs Ein- und Ausschalter ist, oder?“
„Es ist ziemlich dunkel hier drinnen“, sagte Mia und trat ein. „Vielleicht solltest du Licht machen, damit sie sich zurechtfindet.“
Frisco schaltete die helle Deckenbeleuchtung ein … und bemerkte zu spät, dass er nur in einer engen weißen Boxershort vor seiner Nachbarin und seiner Nichte stand. Gut, dass er den gestern noch gekauft hatte. Sonst wäre er jetzt womöglich nackt gewesen.
Schlagartig hörte Natasha auf zu weinen. Sie schniefte zwar noch, und Tränen standen in ihren Augen, aber ihr sirenenartiges Geheul hatte aufgehört.
Mia brachte sein Anblick sichtlich aus der Fassung. Sie tat aber dennoch so, als wäre es das Normalste auf der Welt, wenn ein Nachbar in Unterhosen vor ihr stand. Sie setzte sich zu Natasha aufs Sofa und nahm sie in die Arme. Frisco entschuldigte sich und verschwand im Schlafzimmer, um sich etwas mehr anzuziehen.
„Das muss ein schlimmer Albtraum gewesen sein“, hörte er Mia sagen, als er ins Wohnzimmer zurückkam.
Natasha nickte. „Ich bin in ein ganz tiefes schwarzes Loch gefallen“, wisperte sie, „und ich hab geschrien und geschrien und geschrien. Oben am Rand stand Mommy, aber sie hat mich nicht gehört. Sie machte ihr böses Gesieht, und dann ging sie einfach fort. Und dann war ich unter Wasser, und ich dachte, ich ertrinke.“
Frisco fluchte lautlos in sich hinein. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, Natasha die Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln, die sie brauchte, aber er würde ihr auf jeden Fall die Angst vor dem Meer nehmen. Er setzte sich neben sie auf die Couch, und sie kletterte ihm auf den Schoß. Es schnürte ihm fast das Herz ab, als sie ihm ihre Armchen um den Hals schlang.
„Gleich morgen früh gebe ich dir deinen ersten Schwimmunterricht“, grummelte er, vergebens bemüht, seine Rührung zu verbergen.
Natasha nickte. „Und als ich aufgewacht bin, war es ganz dunkel. Und jemand hat den Fernseher ausgeschaltet.“
„Das war ich, bevor ich ins Bett ging“, sagte Frisco.
Sie wandte ihm ihr tränenverschmiertes Gesichtchen zu. „Mommy lässt ihn immer an. Dann fühlt sie sich nicht so alleine.“
Mia sah ihn über den Kopf des Kindes hinweg an. Ganz offensichtlich lag ihr etwas auf der Seele, was sie nicht in Gegenwart der Kleinen aussprechen wollte.
„Okay, Tasha, ich schlage vor, du wäschst dir das Gesicht. Einverstanden?“, fragte er.
Sie nickte, kletterte von seinem Schoß und wischte sich die tropfende Nase mit der Hand ab. „Bevor ich ins Bett gegangen bin, haben Frisco und ich gespielt, wir wären auf einem Piratenschiff. Er war der Kapitän.“
Mia gab sich Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. Deshalb also waren so gegen acht Uhr von nebenan so seltsame Geräusche zu hören gewesen.
„Wir haben auch russische Prinzessin gespielt“, ergänzte die Kleine.
Frisco lief tatsächlich rot an vor Verlegenheit. „Es ist schon nach null zweihundert, Tash. Beeil dich. Und putz dir auch gleich die Nase.“
Kaum war sie im Flur verschwunden, beugte er sich zu Mia. „Ich bin verloren“, meinte er resigniert. „Jetzt werden Sie mich bis ans Ende aller Zeiten damit aufziehen.“
Mia grinste. „Scheint so, als hätte Tasha mir eine mächtige Waffe in die Hände gespielt … Euer Majestät. Oder durfte Natasha auch mal Prinzessin sein?“
„Sehr witzig.“
„Da wäre ich ja zu gern Mäuschen gewesen!“
„Sie ist gerade mal fünf Jahre alt“, versuchte er, sich zu erklären, und strich sich durch seine zerzausten Haare. „Und ich habe nicht ein einziges Spielzeug für sie. Nicht mal ein Buch – abgesehen von denen, die ich selbst lese, aber die sind nun wirklich nicht das Richtige für sie. Ich habe ja nicht mal Papier und Stifte, damit sie malen kann …“
Mia begriff, dass sie offenbar mit ihrer Neckerei zu weit gegangen war. „Du musst mir nichts erklären. Um ehrlich zu sein: Ich finde das unglaublich toll von dir. Es – nun ja – es überrascht mich eben. Ich hätte dich nicht für jemanden mit so viel Fantasie gehalten.“
Frisco beugte sich vor.
„Tash ist gleich wieder da. Wenn du mir etwas sagen willst, solltest du das jetzt tun.“
Mia war erneut überrascht. Sie hatte ihn nicht für besonders aufmerksam und empfänglich für Zwischentöne gehalten. Er wirkte so verschlossen, so auf sich selbst konzentriert und so von seinem Zorn auf sich und die ganze Welt eingenommen. Aber es gab tatsächlich etwas, was sie ihn fragen wollte, ohne dass die Kleine es hörte.
„Ich habe mich gefragt“, sagte sie, „ob du Natasha erklärt hast, wo ihre Mutter jetzt ist.“
Er schüttelte den Kopf.
„Vielleicht solltest du es tun.“
Frisco rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her. „Wie soll man mit einer Fünfjährigen über Suchtprobleme reden?“
„Wahrscheinlich weiß sie mehr darüber, als du dir vorstellen kannst.“
„Damit könntest du allerdings recht haben.“
„Wenn sie Bescheid weiß, fühlt sie sich vielleicht nicht so im Stich gelassen.“
Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. Und sofort loderte wieder dieses eigenartige Feuer zwischen ihnen auf, obwohl sie sich doch nur ruhig und ernsthaft unterhielten.
Er ließ seine Augen tiefer wandern, bis zum Revers ihres Bademantels, das den Blick freigab auf den hauchdünnen weißen, mit Lochstickerei gesäumten Stoff ihres Nachthemds.
Es war klar zu erkennen, dass er mehr davon sehen wollte. Ob er wohl enttäuscht wäre, wenn er wüsste, wie schlicht und zweckmäßig es war? Ein ganz einfaches, leichtes Baumwollnachthemd, kein bisschen aufreizend und sexy.
Er schaute ihr wieder in die Augen. Nein, ganz sicher wäre er nicht enttäuscht, denn wenn es jemals dazu käme, dass er sie im Nachthemd zu sehen bekam, würde er keine drei Sekunden brauchen, um es ihr auszuziehen.
Die Badezimmertür öffnete sich, und Frisco wandte endlich den Blick ab, während ihre kleine Anstandsdame ins Wohnzimmer zurücktappte.
„Ich gehe jetzt besser.“ Mia stand auf.
„Ich habe Hunger“, sagte die Kleine.
Frisco erhob sich mühsam. „Nun, dann wollen wir mal in der Küche nachsehen, was wir für dich finden.“ Er sah über die Schulter zu Mia, die schon an der Tür war. „Tut mir leid, dass wir dich geweckt haben.“
„Macht nichts.“
Sie stand schon fast draußen, als sie Frisco fragen hörte: „Sag mal, Tash, hat deine Mommy dir eigentlich erzählt, wohin sie gegangen ist?“
In ihrer Wohnung zog Mia den Bademantel aus und legte sich ins Bett. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um Alan Francisco.
Es war schon seltsam. Da wurde er verlegen, nur weil sie mitbekommen hatte, dass er so lieb war, sich auf Spielwünsche seiner Nichte einzulassen und so zu tun, als sei er ein Piratenkapitän oder der Diener einer russischen Prinzessin. Aber es machte ihm offenbar gar nichts aus, nur mit einer Unterhose bekleidet an die Tür zu kommen und Besuch zu empfangen.
Wegen seines Körpers brauchte er allerdings auch nicht verlegen zu werden … Diese Unterhose hatte verdammt knapp gesessen. Mia brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie er ohne aussah – und sie hatte eine sehr lebhafte Fantasie.
Und genau die drohte gerade, mit ihr durchzugehen. Gereizt öffnete sie die Augen. Sicher, sie konnte so tun, als würde es ihr überhaupt nichts ausmachen, dass Alan Berufssoldat war. So wie Alan so tun konnte, als würde ihn seine körperliche Behinderung nicht belasten. Als sei seine Seele gesund. Als versuchte er weder gegen eine Depression anzukommen, noch sich mit Alkohol zu betäuben.
Seufzend drehte Mia sich auf den Bauch und knipste die Nachttischlampe wieder an. Wenn sie schon nicht einschlafen konnte, wollte sie ein wenig lesen. Das war allemal besser, als im Dunkeln zu liegen und sich Dinge auszumalen, die nie geschehen würden.
Frisco breitete eine leichte Decke über das schlafende Kind. Das flackernde bläuliche Licht und das undeutliche Gemurmel aus dem Fernseher hatten tatsächlich geholfen. Tasha war eingeschlafen, nachdem Frisco das Gerät angeschaltet hatte, und er würde sich hüten, ihn wieder auszuschalten.
Auf Zehenspitzen ging er in die Küche, goss sich großzügig Whiskey in ein Glas und nahm einen Schluck. Er genoss das scharfe Brennen in seiner Kehle und die nachfolgende Betäubung. Junge, das hatte er jetzt wirklich gebraucht! Sein Gespräch mit Natasha über Sharons Entziehungskur war alles andere als angenehm für ihn gewesen, aber notwendig. Mia hatte recht gehabt.
Natasha war völlig ahnungslos gewesen, wo ihre Mutter jetzt steckte. Sie wusste von dem Unfall, hatte auch mitbekommen, dass Sharon jemanden angefahren hatte. Sie glaubte, dass ihre Mutter deshalb im Gefängnis saß.
Frisco hatte ihr erklärt, dass der Fahrer des anderen Wagens nicht tot war, sondern schwer verletzt im Krankenhaus lag. Er war freilich nicht näher darauf eingegangen, was geschehen würde, wenn der Mann starb. Das musste die Kleine jetzt nicht unbedingt wissen. Aber er hatte versucht, ihr zu erklären, was eine Entzugsklinik war. Und warum Sharon ihre Tochter nicht besuchen konnte und Natasha sie dort nicht besuchen durfte.
Er hatte ihr versichert, dass Sharon nichts mehr trinken würde, wenn sie aus der Klinik zurückkam. Doch Natasha hatte erkennbar an seinen Worten gezweifelt. Frisco schüttelte den Kopf. Sie war gerade mal fünf Jahre alt und schon so skeptisch. In was für einer Welt lebten sie eigentlich?
Er nahm sein Glas und die Flasche, schlich sich durchs Wohnzimmer und trat hinaus auf den schwach beleuchteten Laubengang. Seine sterile, dank Klimaanlage stets gleich temperierte Wohnung ging ihm auf die Nerven, zumal zu dieser nächtlichen Stunde. Tief sog er die feuchte, salzige Luft und den warmen Geruch des Meeres ein.
Er ließ sich auf der obersten Treppenstufe nieder und nippte ab und an von seinem Whiskey. Der Alkohol sollte ihm helfen, sich zu entspannen, genügend bettschwer zu werden und diese schrecklich langen, dunklen Stunden vor dem Morgengrauen zu überstehen. Schon wieder einmal war es fast drei Uhr morgens, und er saß draußen und war hellwach. Dabei war er so sicher gewesen, wenigstens diese Nacht tief und fest schlafen zu können, durch und durch erschöpft, wie er war. Dass Natasha schreiend aus einem Albtraum hochfuhr, damit hatte er nicht gerechnet. Er leerte sein Glas und goss sich einen zweiten Drink ein.
Die Tür von Mias Wohnung öffnete sich beinahe lautlos, aber er hatte ein feines Gehör. Dennoch rührte er sich nicht, als sie heraustrat, und schwieg, bis sie am Geländer stehen blieb und auf ihn herabsah.
„Wann ist dein Hund gestorben?“, fragte er leise, um die Nachbarn nicht zu stören.
Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Dann lachte sie leise auf und setzte sich neben ihn. „Vor ungefähr acht Monaten. Wie kommst du darauf, dass ich einen Hund hatte?“
„Ein Schuss ins Blaue“, murmelte er.
„Glaub ich nicht. Sag’s mir.“
„Dieses Schäufelchen zum Entfernen von Hundekot, das du mir gestern geliehen hast, war ein ziemlich deutlicher Hinweis. Und in deinem Auto … wie soll ich sagen … riecht es auch ein bisschen nach Hund.“
„Sie hieß Zu und war umgerechnet etwa tausend Jahre alt. Ich war acht, als ich sie bekam.“
„Sie hieß wie?“, fragte Frisco.
„Zu. Abgekürzt für Zuzu. Wie das kleine Mädchen im Film …“
,„Ist das Leben nicht schön?“‘, ergänzte er.
Mia starrte ihn an, schon wieder verblüfft. „Du hast den Film gesehen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Wer nicht?“
„Aber wer erinnert sich schon noch an den Namen von George Baileys jüngster Tochter?“
„Es ist zufällig einer meiner Lieblingsfilme.“ Frisco warf ihr einen Seitenblick zu. „Seltsam, nicht wahr? Wo es darin doch kaum Kriegsszenen gibt.“
„Ich habe nichts dergleichen gesagt.“
„Aber gedacht.“ Frisco nahm einen Schluck aus seinem Glas. Whiskey – Mia konnte das riechen. „Tut mir leid, das mit deinem Hund.“
„Danke.“ Mia schlang die Arme um die Knie. „Ich vermisse sie sehr.“
„Noch zu früh, um sich einen anderen Hund anzuschaffen?“
Sie nickte.
„Was für eine Rasse war es? Nein, lass mich raten.“ Er drehte sich ein wenig und musterte sie prüfend. Als würde ihm das, was er in der Dunkelheit sehen konnte, die Erleuchtung bringen.
Sie hielt den Blick abgewandt, weil sie ihm plötzlich nicht in die Augen zu sehen wagte. Warum nur war sie nach draußen gekommen? Normalerweise war sie nicht der Typ, der sich freiwillig Probleme aufhalste. Und hier im Dunkeln nur ein paar Zentimeter von diesem Mann entfernt zu sitzen war mit Sicherheit brandgefährlich.
„Halb Labrador, halb Cockerspaniel“, entschied Frisco schließlich, und sie blickte überrascht auf.
„Fast richtig. Obwohl nur der Cockerspaniel sicher ist. Manchmal dachte ich, ein Golden Retriever müsste auch dabei gewesen sein.“ Sie hielt inne. „Wie kommst du darauf, dass meine Zu ein Mischling war?“
Frisco zog gespielt ungläubig die Augenbrauen zusammen. „Käme für dich je etwas anderes infrage als ein Hund aus dem Tierheim? Womöglich sogar noch einer, der eingeschläfert werden sollte?“
Mia musste lachen. „Okay, du hast mich voll und ganz durchschaut. Es gibt keine Geheimnisse mehr zwischen uns …
„Nicht ganz. Eine Frage quält mich noch.“ Er grinste, schien unbeschwert mit ihr zu flirten. Eigentlich hätte sie das wundern müssen, aber inzwischen wusste sie, dass dieser Mann voller Überraschungen steckte.
„Wieso bist du eigentlich immer noch wach?“, fragte er.
„Die gleiche Frage könnte ich dir auch stellen.“
„Ich muss mich von meinem Gespräch mit Natasha erholen.“ Er sah in sein Glas hinunter, schlagartig wieder ernst geworden, und ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin kreisen. „Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas gebracht hat. Sie ist ganz schön abgestumpft, wenn es um ihre Mutter geht.“ Er lachte heiser auf. „Man kann es ihr wohl kaum verdenken.“
Mia warf einen Blick über die Schulter hinüber zu Friscos Wohnung. Ein flackernder blauer Lichtschein drang durch die Vorhänge. „Sie ist doch nicht etwa noch auf, oder?“
Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Sie kann nicht schlafen, wenn der Fernseher aus ist. Ich wollte, ich könnte eine ähnlich einfache Lösung für meine Schlafstörungen finden.“
„Die da ist vermutlich keine besonders gute“, erwiderte Mia mit Blick auf das Glas in seiner Hand.
Frisco sah ihr wortlos in die Augen. Zum Glück insistierte sie nicht weiter. Aber da er nicht antwortete und beharrlich schwieg, erhob sie sich schließlich.
„Gute Nacht.“
Er wollte nicht, dass sie wegging. Solange sie bei ihm war, war die Nacht nicht so verdammt bedrückend. Doch er wusste nicht, wie er sie zum Bleiben bewegen sollte. Vielleicht sollte er ihr sagen, dass er anders war als Sharon, dass er jederzeit mit dem Trinken aufhören konnte, wenn er wollte? Aber genau das behauptete jeder Alkoholiker.
Er hätte ihr sagen können, dass er stark genug war, die Finger vom Alkohol zu lassen. Dass er nur jetzt nicht stark genug war, sich damit abzufinden, dass die Navy ihn entlassen hatte.
Aber er blieb stumm. Mia ging leise zurück in ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
Und Frisco goss sich noch einen Drink ein.