|478|FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

11. Oktober, abends

Jonathan Harker hat mich gebeten, dies zu notieren, da er sich, wie er sagte, dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt, aber dennoch ein vollständiges Protokoll wünscht.

Keiner von uns wird wohl überrascht gewesen sein, als wir kurz vor Sonnenuntergang zu Mrs. Harker gerufen wurden. Wir haben in letzter Zeit die Erfahrung gemacht, dass sie zu den Zeiten des Sonnenaufganges und des Sonnenunterganges am freiesten ist. Dann zeigt sich ihr wahres Ich, ohne dass eine über sie herrschende Macht sie einschränkt, schweigen lässt oder ihr ein besonderes Handeln vorschreibt. Dieser Zustand setzt mindestens eine halbe Stunde vor dem Auf- oder Untergang der Sonne ein, und er dauert an, bis sie hoch am Himmel steht, oder bis ihre letzten Strahlen auf den Abendwolken verglühen. Zu Beginn ist Mrs. Harker dabei immer in einer recht hilflosen Verfassung, so als ob sich eine Fessel von ihr löste, dann aber folgt rasch die vollkommene Freiheit. Wenn dieser Zustand sich dann wieder seinem Ende zuneigt, kommt der Rückfall innerhalb kürzester Zeit und kündigt sich nur durch ein warnendes Schweigen an.

Als wir heute Abend zusammenkamen, schien sie bedrückt und zeigte alle Merkmale eines inneren Kampfes. Ich dachte mir, dass sie wohl etwas Dringendes mit sich herumtrage, das bei der ersten Gelegenheit aus ihr herausbrechen würde. Einige Minuten später hatte sie jedoch wieder die Herrschaftüber sich gewonnen. Sie bat ihren Gatten, sich neben sie aufs Sofa zu setzen, auf dem sie sich zurückgelehnt hatte. Uns Übrige lud sie ein, die Stühle an sie heranzuziehen. Die Hand ihres Mannes ergreifend, begann sie:

|479|»Wir alle sind hier in Freiheit zusammengekommen, und vielleicht zum letzten Mal! Ich weiß, Liebster, ich weiß, dass du bis ans Ende bei mir bleiben wirst.« – Dies sagte sie zu ihrem Gatten, der, wie wir erkennen konnten, ihre Hand darauf umso fester drückte. – »Am kommenden Morgen ziehen wir aus, unserer Aufgabe entgegen, und Gott allein weiß, was jedem von uns beschieden ist. Sie erweisen mir die Güte, mich mitzunehmen. Ich weiß, dass Sie alles tun werden, was aufrechte, mutige Männer für eine arme und schwache Frau nur tun können, deren Seele verloren ist. Doch nein, noch ist sie nicht verloren, sie steht auf dem Spiel! Bitte denken Sie zukünftig immer daran, dass ich nicht so bin wie Sie. In meinem Blut, in meiner Seele ist ein schleichendes Gift, das mich zerstören wird, das mich unbedingt vernichten muss, wenn wir keine Rettung finden. Oh, meine Freunde, Sie wissen genauso gut wie ich, wie sehr meine Seele in Gefahr ist, und obwohl ich weiß, dass es nur einen Ausweg für mich gibt, dürfen weder Sie noch ich diesen Weg wählen!« Sie sah uns alle der Reihe nach flehend an, zuletzt blickte sie auf ihren Mann.

»Welchen Weg meinen Sie?«, fragte van Helsing heiser. »Welches ist der Weg, den wir nicht einschlagen dürfen, nicht einschlagen werden?«

»Dass ich jetzt sterbe, entweder durch meine eigene Hand, oder durch die eines anderen, noch bevor das größere Übel vollends ausgebrochen ist. Ich weiß es, und Sie wissen es, dass Sie, wenn ich erst tot bin, meine unsterbliche Seele retten können und retten werden, wie Sie es bei meiner armen Lucy bereits getan haben. Wäre der Tod oder die Furcht vor dem Tod das Einzige, was im Wege stünde, ich würde keinen Augenblick zögern, hier mitten unter Ihnen zu sterben. Aber der Tod ist nicht alles. Ich kann nicht glauben, dass es Gottes Wille ist, mich jetzt sterben zu lassen, wo wir auf ein Gelingen unserer bitteren Aufgabe hoffen dürfen. Deshalb entsage ich hiermit der Gewissheit, die ewige Ruhe zu erlangen, und ich gehe mit Ihnen hinaus ins |480|ungewisse Dunkel, wo uns vielleicht die schwärzesten Dinge erwarten, die diese Welt und die Unterwelt aufzubieten haben!« Wir schwiegen, denn wir fühlten instinktiv, dass dies nur eine Einleitung war. Die Gesichter der anderen waren regungslos, Harkers Gesicht war aschfahl. Vielleicht erriet er besser als wir anderen, was nun kommen musste, als sie fortfuhr:

»Das ist mein Vermächtnis …« – mir fiel der in diesem Zusammenhang bizarre juristische Ausdruck auf, den sie hier mit so großem Ernst verwendete – »… was geben Sie hinzu? Sie alle setzen Ihr Leben ein, ich weiß«, fügte sie rasch an, »aber das ist eine Kleinigkeit für einen tapferen Mann. Ihr Leben gehört Gott, Sie können es ihm zurückgeben. Was aber geben Sie mir?« Sie blickte erneut fragend im Kreis herum, vermied es aber diesmal, ihren Mann anzusehen. Quincey schien sie zu verstehen, denn er nickte, und ihr Gesicht leuchtete auf, als sie weitersprach: »Dann will ich Ihnen offen sagen, was ich meine, denn es darf in dieser Hinsicht keine Unklarheit zwischen uns bestehen. Sie alle müssen mir ohne Ausnahme versprechen – auch du, mein lieber Mann –, dass Sie mich, wenn es nötig werden sollte, töten werden.«

»Wann wäre dies nötig?« Quinceys Stimme klang leise und gepresst.

»Wenn ich mich so verändert haben sollte, dass Sie davon überzeugt sind, dass ich besser tot wäre als auf diese Weise lebendig. Sobald Sie meinen Körper dann getötet haben, müssen Sie mir, ohne einen Augenblick zu zögern, den Pfahl ins Herz treiben und mir den Kopf abschneiden, oder eben das tun, was nötig ist, mich zu erlösen.«

Quincey war wieder der Erste, der sich fasste. Er kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und sagte feierlich:

»Ich bin nur ein ungehobelter Kerl, der vielleicht nicht immer so gelebt hat, wie ein Mann leben müsste, um sich solch eine Auszeichnung zu verdienen. Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was mir lieb und heilig ist, dass ich, wenn die Zeit je kommen |481|sollte, nicht vor der Pflicht zurückschrecken werde, die Sie uns da soeben auferlegt haben. Und ich verspreche Ihnen weiter, dass ich es selbst dann tun werde, wenn ich im Inneren noch Zweifel hege, ob der Zeitpunkt tatsächlich schon gekommen sein sollte.«

»Mein treuer Freund …«, mehr vermochte Mrs. Harker unter ihren Tränen nicht zu sagen. Sie beugte sich vor und küsste seine Hand.

»Ich schwöre Ihnen das Gleiche, meine liebe Madame Mina!«, sagte van Helsing.

»Auch ich«, fügte Lord Godalming hinzu. Der Reihe nach knieten sie vor ihr nieder und leisteten ihr den erbetenen Eid. Ich selbst schloss mich an. Dann wandte sich ihr Gatte zu ihr um, mit glanzlosen Augen und grünlich-grauem Gesicht, das von seinem weißen Haar umso stärker abstach.

»Muss auch ich dieses Versprechen abgeben, liebste Frau?«

»Auch du, Geliebter!«, antwortete sie. »Du darfst nicht davor zurückschrecken. Du stehst mir auf dieser Welt am nächsten und bist mir am teuersten. Unsere Seelen gehören zusammen, für das Leben und die Ewigkeit. Bedenke doch, dass es Zeiten gegeben hat, wo tapfere Männer ihre Frauen und Kinder getötet haben, damit sie nicht in Feindeshände fielen. Ihre Hände zitterten nicht, gerade weil ihre Lieben sie um den Tod baten. In solchen Situationen ist dies die Pflicht des Mannes gegenüber jenen, die er liebt. Und, mein Liebster, wenn ich schon den Tod aus irgendeiner Hand empfangen muss, dann lass es die Hand desjenigen sein, der mich am meisten liebt. Dr. van Helsing, ich habe Ihren Akt der Rücksichtnahme im Falle unserer armen Lucy nicht vergessen, mit dem Sie es demjenigen, der sie am meisten liebte …« – sie unterbrach sich, errötete und änderte ihre Worte – »mit dem Sie es demjenigen, der das größte Anrecht darauf besaß, überließen, ihr den Frieden zu schenken. Wenn sich ein solcher Moment wiederholen sollte, vertraue ich auf Sie, dass Sie diesen Augenblick zu einer tröstlichen Erinnerung im |482|Leben meines Ehemannes machen werden, indem Sie seiner liebenden Hand dazu verhelfen, mich von der entsetzlichen Hörigkeit gegenüber dem Bösen zu befreien.«

»Auch das schwöre ich Ihnen«, sagte der Professor mit lauter Stimme, und Mrs. Harker lächelte. Sie lächelte wirklich, als sie sich mit einem Seufzer der Erleichterung zurücklehnte und sagte:

»Und nun noch ein Wort der Warnung, das Sie nie vergessen dürfen: Der Moment kann, wenn er denn kommt, schnell und unerwartet da sein. In diesem Falle dürfen Sie keine Zeit verlieren, Ihre Chancen zu nutzen, denn ich könnte, oder besser: Ich werde dann bereits mit Ihrem Feind gegen Sie verbündet sein.« Nach einer kurzen Pause fügte sie mit großem Ernst hinzu:

»Eine letzte Bitte. Dies ist nicht so wichtig und so notwendig wie das zuvor Gesagte, aber ich hätte dennoch gerne, dass Sie etwas für mich tun, wenn Sie so freundlich wären.« Wir stimmten ohne Worte zu, denn es war nicht nötig zu sprechen.

»Ich bitte Sie, mir die Totenmesse zu lesen …« Das Aufstöhnen ihres Mannes unterbrach sie. Sie ergriff seine Hand, führte sie an ihr Herz und sagte: »Eines Tages musst du sie mir ohnehin lesen. Was immer sich aus dem bedrohlichen Stand der Dinge ergeben mag, dieser Dienst wird uns allen, oder zumindest einigen von uns, eine große Beruhigung und ein Trost sein. Ich wünsche mir, dass du, mein Geliebter, dieses Gebet für mich liest, denn dann wird es mit deiner Stimme auf ewig in meinem Gedächtnis sein, komme, was da wolle.«

»Aber, Liebste«, bat er, »der Tod ist weit entfernt von dir!«

»Nein« sagte sie und erhob warnend die Hand. »Ich bin in diesem Moment schon in einem tieferen Tod, als wenn das Gewicht eines irdischen Grabes auf mir lastete.«

»Oh, meine liebe Frau, muss denn wirklich ich es sein?«, fragte er noch einmal.

»Es würde mich trösten, Geliebter«, erwiderte sie. Sie reichte ihm das Buch, und er begann zu lesen …

|483|Wie könnte ich, wie könnte irgendjemand diese seltsame Szene mit all ihrer Feierlichkeit, ihrem Schwermut, ihrer Trauer und ihrem Schrecken schildern, wo ihr doch zugleich ein so erhabener Zauber innewohnte? Selbst einem Skeptiker, der in religiösen und emotionalen Dingen nur eine Travestie der bitteren Wahrheiten des Lebens zu sehen vermag, würde das Herz aufgegangen sein, hätte er unsere kleine Gruppe liebender und einander ergebener Freunde so um die geschlagene und leidende Frau knien sehen. Mr. Harkers Stimme war erfüllt von zärtlicher Leidenschaft, und seine Worte waren so von seinen Gefühlen beherrscht, dass er sich immer wieder unterbrechen musste, während er das schlichte und ergreifende Totengebet las. Ich vermag es nicht zu schildern, es gibt keine Worte dafür …

Sie hatte in allem recht gehabt. So seltsam diese Szene auch war, so bizarr sie vielleicht später selbst uns erscheinen wird, die wir uns im Augenblick des Geschehens gänzlich in ihrem Bann befunden hatten, so sehr vermochte sie uns auch zu trösten. Das unmittelbar darauf einsetzende, dem Wandel Mrs. Harkers vorausgehende Schweigen erschien uns schon nicht mehr so hoffnungslos, wie wir gefürchtet hatten.

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

15. Oktober, Varna

Wir verließen Charing Cross am Morgen des 12., kamen in der Nacht noch nach Paris und nahmen dann unsere reservierten Plätze im Orient Express1 ein. Wir fuhren die Nacht und den folgenden Tag hindurch und erreichten Varna etwa um fünf Uhr. Lord Godalming begab sich sofort aufs Konsulat, um nach Telegrammen zu fragen, wir Übrigen begaben uns ins Hotel »Odessa«. Unsere Reise verlief nicht ohne kleinere Zwischenfälle, |484|jedoch war ich zu erwartungsvoll, was das Kommende betraf, als dass ich mich um sie gekümmert und sie festgehalten hätte. Bis die »Zarin Katharina« in den Hafen einläuft, ist mir alles andere auf der weiten Welt gleichgültig. Gott sei Dank geht es Mina recht gut, es hat den Anschein, als kehrten ihre Kräfte zurück, und auch an Farbe hat sie wieder etwas gewonnen. Sie schläft sehr viel, während der Zugfahrt schlief sie fast die ganze Zeit. Vor Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ist sie aber stets sehr lebendig und frisch, und van Helsing hat es sich zur Angewohnheit gemacht, sie zu dieser Zeit zu hypnotisieren. Anfangs hatte ihn dies viel Mühe gekostet, und er musste oft mehrere Versuche unternehmen, nun aber ist sie sehr rasch in Trance, sie folgt ihm augenblicklich, als hätte sie sich an das Verfahren gewöhnt. Es scheint in diesen Momenten, als würden ihre Gedanken dem Willen des Professors gehorchen. Er fragt sie immer, was sie sieht und hört. Auf die erste Frage antwortete sie bisher immer:

»Nichts, alles ist dunkel.« Und auf die zweite Frage hörten wir zuletzt:

»Da sind Wellen, die gegen das Schiff schlagen. Wasser rauscht vorbei. Segeltuch und Tauwerk knattern, Masten und Rahen knarren. Ein starker Wind, ich kann ihn in den Wanten hören, und der Bug schiebt den Schaum vor sich her.« Offenbar ist die »Zarin Katharina« also noch auf hoher See und eilt mit vollen Segeln auf Varna zu. Soeben ist Lord Godalming angekommen. Er hatte vier Telegramme erhalten, an jedem Tag, den wir unterwegs waren, eines. Alle hatten denselben Inhalt: Die »Zarin Katharina« war dem Londoner Lloyd bisher noch von nirgendwo gemeldet worden. Lord Godalming hatte vor unserer Abreise nämlich einen Agenten beauftragt, ihm jeden Tag ein Telegramm über das Vorankommen des Schiffes zu senden. Er hatte sogar eine Mitteilung verlangt für den Fall, dass über das Schiff keine Nachricht eingelaufen sein sollte, sodass er sicher sein konnte, dass man die »Zarin Katharina« von London aus im Blick behielt.

Wir aßen zu Abend und gingen auf unsere Zimmer. Morgen |485|werden wir den Vizekonsul aufsuchen und uns nach Möglichkeit die Erlaubnis holen, unverzüglich das Schiff zu betreten, sobald es eingelaufen ist. Van Helsing meinte, dass wir unbedingt zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an Bord gehen müssten. Der Graf kann das fließende Wasser dann nicht einmal in Gestalt einer Fledermaus überqueren und das Schiff also nicht verlassen. Da er sich aber auch nicht in Menschengestalt zeigen kann, ohne Verdacht zu erregen, muss er den Tag über in seiner Kiste bleiben. Wenn es uns nun gelingt, nach Sonnenaufgang an Bord zu kommen, so ist er in unserer Gewalt. Dann können wir die Kiste öffnen und mit ihm noch bevor er wieder erwacht auf dieselbe Weise verfahren, wie wir es mit der armen Lucy getan haben. Gnade hat er von uns jedenfalls nicht zu erwarten. Mit den Beamten und den Seeleuten werden wir wohl keine besonderen Scherereien haben, denn Gott sei Dank befinden wir uns hier in einem Land, in dem Bestechungsgelder alles vermögen. Und an Geld fehlt es uns ja wirklich nicht. Wir müssen nur darauf achten, dass das Schiff nicht nach Sonnenuntergang in den Hafen einläuft, ohne dass wir gewarnt werden. Der Geldbeutel wird dies sicher für uns einrichten, schätze ich.

 

16. Oktober

Minas Auskunft ist immer noch die Gleiche: plätschernde Wellen, rauschendes Wasser, Dunkelheit und günstiger Wind. Wir sind offenbar zeitig genug hier angekommen, und wenn wir von der »Zarin Katharina« hören, werden wir bereit sein. Sie muss noch die Dardanellen passieren, wo sie zwangsläufig registriert werden wird. Spätestens dann hören wir aus London von ihr.

 

17. Oktober

Ich glaube, es ist nun alles aufs Beste vorbereitet, um den Grafen bei seiner Ankunft gebührend zu empfangen. Godalming hat dem Schiffseigentümer erzählt, er würde an Bord Diebesgut vermuten, |486|Sachen, die einem seiner Freunde gestohlen worden wären, und er hat daraufhin die inoffizielle Genehmigung erhalten, die Kiste auf eigenes Risiko zu öffnen. Der Schiffseigner hat ihm sogar eine Bescheinigung mitgegeben, die den Kapitän anweist, Godalming an Bord alle Rechte einzuräumen, die dieser für nötig erachten würde. Für den Agenten in Varna besitzt er eine identische Vollmacht. Wir besuchten den Agenten, der sich von Godalmings ausgesuchter Höflichkeit sehr beeindruckt zeigte, und wir waren alle sehr zufrieden, als er uns versprach, alles zu tun, um unseren Wünschen zu entsprechen. Auch das Verfahren haben wir bereits geklärt: Wenn wir die Kiste geöffnet haben und der Graf darin ist, werden van Helsing und Seward ihm sofort den Kopf abtrennen und ihm einen Pfahl durch das Herz treiben. Morris, Godalming und ich werden dafür sorgen, dass keine Störungen eintreten, selbst wenn wir dabei unsere Waffen einsetzen müssten, die wir bereit haben werden. Der Professor sagt, dass der Körper des Grafen recht bald nach dieser Behandlung zu Staub zerfallen wird. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass man Mordanschuldigungen gegen uns vorbringen sollte, wird also kein Beweis vorliegen. Aber selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, werden wir mit unserem Vorhaben entweder siegen oder untergehen. Vielleicht werden uns eines Tages ja auch diese unsere Aufzeichnungen dazu dienen, vor einem Gericht unsere Unschuld zu beweisen – ich selbst würde eine solche Möglichkeit aus vollem Herzen begrüßen. Jetzt aber werden wir nichts unversucht lassen, unseren Plan auszuführen. Wir haben mit gewissen Hafenbeamten verabredet, dass wir in dem Moment, in dem die »Zarin Katharina« in Sicht kommt, unverzüglich durch einen speziellen Boten informiert werden.

 

23. Oktober

Über eine Woche haben wir nun gewartet. Täglich trifft ein Telegramm an Godalming ein, es ist aber immer die alte Geschichte: »Noch nicht gemeldet.« Minas hypnotische Morgen- und Abendberichte |487|sind ebenfalls unverändert: plätschernde Wellen, rauschendes Wasser, knarrende Masten.

 

Telegramm von Rufus Smith, Lloyd’s, London,

an Lord Godalming, c/o H. B. M.2 Vizekonsul, Varna

 

24. Oktober

»Zarin Katharina« heute Morgen von den Dardanellen gemeldet.

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

24. Oktober

Wie ich meinen Phonographen vermisse! Es ist schrecklich ermüdend, ein Tagebuch von Hand zu führen, aber van Helsing sagt, es müsse sein. Wir waren heute alle in größter Aufregung, als Godalming sein Telegramm von Lloyd’s erhielt. Jetzt weiß ich, wie man sich als Soldat fühlen mag, wenn zum Angriff geblasen wird. Mrs. Harker war die Einzige von uns, die keine Gefühlsregung zeigte. Kein Wunder, nahmen wir uns doch äußerst in Acht, sie nichts von unserer Information merken zu lassen; keiner von uns zeigte in ihrer Gegenwart ein verändertes Verhalten. Ich bin sicher, dass sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit etwas bemerkt haben würde, so sehr wir uns auch bemüht hätten. Aber in dieser Beziehung hat sie sich in den vergangenen drei Wochen stark verändert. Sie wird zunehmend träger, und obwohl sie kräftig und gesund wirkt und auch etwas von ihrer Farbe zurückgewinnt, sind van Helsing und ich nicht zufrieden. Wir beide sprechen oft über sie, den anderen gegenüber aber halten wir uns zurück. Es würde dem armen Harker das Herz brechen, zumindest aber die Nerven zerrütten, wenn er wüsste, dass |488|wir unsere Vermutungen über sie haben. Van Helsing untersucht regelmäßig Mrs. Harkers Zähne, wenn sie sich in Trance befindet, denn er ist der Auffassung, dass sie erst dann in den Zustand der Transformation eintritt, wenn die Zähne bedeutend spitzer werden. Wenn dies geschehen sollte, sei es an der Zeit, unabdingbare Schritte einzuleiten. Wir beide wissen, welche Schritte dies wären, aber wir sprechen nicht darüber. Trotzdem würde keiner von uns beiden vor der Aufgabe zurückschrecken, so schrecklich allein der Gedanke daran auch sein mag. »Euthanasie« ist ein vorzügliches und beruhigendes Wort, ich bin demjenigen, der es erfunden haben mag, äußerst dankbar dafür.

Es ist für die »Zarin Katharina« nur noch eine Strecke von 24 Stunden von den Dardanellen bis hierher, vorausgesetzt, sie läuft mit der gleichen Geschwindigkeit wie bisher. Nach dieser Berechnung sollte sie irgendwann gegen Morgen hier einlaufen. Da sie auf gar keinen Fall früher hier sein kann, werden wir uns zeitig niederlegen. Um eins stehen wir auf, um bereit zu sein.

 

25. Oktober, mittags

Keine Neuigkeiten über die Ankunft des Schiffes. Der hypnotische Bericht Mrs. Harkers war heute früh derselbe wie bisher, es ist also möglich, dass wir jeden Augenblick Nachricht bekommen. Wir Männer befinden uns in einem förmlichen Fieber der Erregung, außer Harker, der eine merkwürdige Ruhe zeigt. Seine Hände sind kalt wie Eis. Vor einer Stunde sah ich ihn sein langes Gurkha-Messer schleifen, von dem er sich jetzt nicht mehr trennt. Die scharfe Schneide eines Khukuri, geführt von dieser entschlossenen, eiskalten Hand – das sind keine guten Aussichten für die Kehle des Grafen!

Van Helsing und ich sind beunruhigt über Mrs. Harker. Gestern verfiel sie in eine Art Lethargie, die uns gar nicht gefallen wollte. Und obgleich wir mit den anderen nicht darüber sprachen, waren wir doch sehr unglücklich darüber. Abends war sie dann |489|sehr unruhig geworden, sodass wir anfänglich froh waren, als sie endlich schlief. Als aber dann ihr Mann heute Morgen erzählte, seine Frau schlafe so tief, dass er sie nicht aufwecken könne, gingen wir in ihr Zimmer, um selbst nachzusehen. Sie atmete regelmäßig und sah so frisch und friedlich aus, dass wir übereinkamen, sie nicht zu stören. Armes Mädchen, sie hat so viel zu vergessen, dass es kein Wunder ist, dass der Schlaf ihr guttut.

 

Später

Unser Entschluss war richtig, denn als sie nach mehreren Stunden von allein aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, war sie heiterer und wohler, als wir sie seit Tagen gesehen hatten. Bei Sonnenuntergang erstattete sie wie gewöhnlich ihren hypnotischen Bericht. Wo immer der Graf auch im Schwarzen Meer unterwegs sein mag, er schwimmt seinem Verhängnis entgegen. Ich hoffe, sein Untergang ist nahe.

 

26. Oktober

Wieder ein Tag vorbei und noch keine Nachricht über die »Zarin Katharina«. Sie müsste eigentlich längst hier sein. Dass sie noch immer irgendwo unterwegs ist, wissen wir aber mit Sicherheit, denn Mrs. Harkers hypnotischer Bericht bei Sonnenaufgang war unverändert. Es könnte sein, dass das Schiff durch Nebel gelegentlich zum Stillliegen gezwungen ist; einige der Dampfer, die gestern Abend hereingekommen sind, haben über Nebelschwaden nördlich und südlich des Hafens berichtet. Wir dürfen in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen, denn das Schiff kann jeden Augenblick gemeldet werden kann.

 

27. Oktober, mittags

Zu merkwürdig, immer noch keine Nachrichten von dem erwarteten Schiff. Mrs. Harker berichtete gestern Abend und heute früh wie üblich »plätschernde Wellen, rauschendes Wasser«, wobei sie noch hinzufügte, dass die Wellen »sehr schwach« seien. |490|Auch die Telegramme von London bringen immer dasselbe: »Keine weitere Meldung.« Van Helsing ist schrecklich besorgt und vertraute mir soeben an, er fürchte sehr, dass der Graf uns entwische. Er fügte bedeutsam hinzu:

»Diese Lethargie Madame Minas gefiel mir vom ersten Augenblick an nicht recht. Die Seele und das Gedächtnis können in Trance seltsame Dinge verrichten.« Ich wollte ihn gerade um eine Erklärung seiner Worte bitten, da kam Harker herein, van Helsing hob warnend die Hand und ich schwieg. Wir müssen heute bei Sonnenuntergang versuchen, sie in ihrer Hypnose zum Reden zu bringen.

 

Telegramm von Rufus Smith, London,

an Lord Godalming, c/o H. B. M. Vizekonsul, Varna

 

28. Oktober,

»Zarin Katharina« heute um ein Uhr vor Galatz gemeldet.

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

28. Oktober

Als das Telegramm eintraf, das uns die Ankunft des Schiffes in Galatz meldete, waren wir alle weit weniger entsetzt, als man hätte vermuten können. Natürlich wussten wir vorher nicht, woher, wie und wann uns der Blitz in Form einer schlimmen Nachricht treffen würde, aber ich denke, wir alle waren darauf gefasst zu erfahren, dass unsere Pläne durchkreuzt waren. Die sich immer weiter hinauszögernde Ankunft des Schiffes in Varna hatte uns bereits darauf vorbereitet, dass die Dinge nicht so laufen würden, wie wir erwartet hatten. Tief in unserem Inneren warteten wir wahrscheinlich schon seit einiger Zeit nicht mehr auf das Schiff, sondern eher auf die Offenbarung des Punktes, an dem |491|unsere Pläne vereitelt worden waren. Und dennoch muss man es wohl eine Überraschung nennen. Ich nehme an, die menschliche Natur beruht auf dem Prinzip der Hoffnung, denn wir nehmen nur allzu oft gegen unser besseres Wissen an, dass sich die Dinge so entwickeln würden, wie wir es uns wünschen. Eine solche Hoffnung mag für die Engel ein Leuchtturm sein, für die Menschen aber ist sie ein Irrlicht. Diese Enttäuschung war eine merkwürdige Erfahrung, und jeder von uns ging auf seine eigene Weise damit um. Van Helsing hob für einen Moment die Hände über den Kopf, als wollte er sich beim Allmächtigen selbst beschweren, aber er sagte kein einziges Wort und hatte sich schon nach wenigen Augenblicken wieder in der Gewalt. Lord Godalming wurde kreidebleich und saß schwer atmend auf seinem Stuhl. Ich selbst war nur halb überrascht und schaute die anderen mit Verwunderung der Reihe nach an. Quincey Morris zog mit einer raschen, mir wohlvertrauten Bewegung seinen Gürtel enger – auf unseren gemeinsamen Reisen bedeutete dies bei ihm immer: »Vorwärts!« Mrs. Harker wurde leichenblass, sodass die Narbe auf ihrer Stirn zu brennen schien, aber sie faltete demütig die Hände und blickte wie im Gebet empor. Harker aber lächelte, er lächelte tatsächlich! Es war das finstere, bittere Lächeln derer, die alle Hoffnung aufgeben, aber zugleich strafte seine Hand seine Miene Lügen, denn sie fuhr instinktiv an den Griff seines Gurkha-Messers und klammerte sich dort fest. »Wann geht der nächste Zug nach Galatz?«, fragte plötzlich van Helsing ganz allgemein in den Raum.

»Morgen früh um 6:30 Uhr.« – Welche Überraschung: Die Antwort war von Mrs. Harker gekommen.

»Woher um alles in der Welt wissen Sie das denn?«, fragte Arthur.

»Wissen Sie denn nicht, dass ich eine Eisenbahn-Fanatikerin bin? Jonathan und Dr. van Helsing ist das bekannt! Zu Hause in Exeter lerne ich immer die Fahrpläne auswendig, um meinem Mann behilflich sein zu können. Das hat sich als so nützlich erwiesen, |492|dass ich beständig irgendwelche Fahrpläne studiere, auch hier. Ich wusste, dass wir, sollten wir zur Burg Dracula wollen, über Galatz oder wenigstens über Bukarest reisen müssten, und so habe ich mir diese Zeiten sorgfältig eingeprägt. Unglücklicherweise gab es aber nicht besonders viel zu lernen, denn der einzige Zug, der morgen fährt, ist der gerade genannte.«

»Prächtige Frau!«, murmelte der Professor.

»Können wir denn keinen Privatzug mieten?«, fragte Lord Godalming. Van Helsing schüttelte den Kopf: »Ich fürchte, das geht nicht. Dieses Land ist sehr anders als Ihres oder meines. Selbst wenn Sie einen Sonderzug bekämen, würde er vermutlich später ankommen als der reguläre. Außerdem haben wir noch Verschiedenes vorzubereiten, wir müssen überlegen und alles organisieren. Sie, Freund Arthur, gehen zum Bahnhof, besorgen die Fahrkarten und arrangieren alles Nötige, dass wir am frühen Morgen abreisen können. Sie, Freund Jonathan, gehen zu dem Schiffsagenten und lassen sich von ihm einen Empfehlungsbrief an den Agenten in Galatz ausstellen, damit wir auch dort die Erlaubnis bekommen, das Schiff zu durchsuchen. Quincey Morris, Sie begeben sich zum Vizekonsul und bitten ihn, uns seinem Kollegen in Galatz zu empfehlen und uns die Wege so gut wie möglich zu ebnen, damit wir keine Zeit verlieren, wenn wir jenseits der Donau sind. John bleibt bei mir und Madame Mina, wir wollen uns beraten. Falls es bei Ihnen länger dauern und die Sonne bereits untergehen sollte, so machen Sie sich keine Sorgen, denn wir sind ja bei ihr und werden sie befragen.«

»Und ich«, sagte Mrs. Harker strahlend, wobei ihr lange verschollenes früheres Wesen wieder hervorzubrechen schien, »ich werde mich bemühen, Ihnen in jeder Beziehung nützlich zu sein, für Sie zu denken und zu schreiben, wie ich es zuvor getan habe. Ich fühle, dass sich irgendetwas auf eine seltsame Weise von mir ablöst, dass ich freier bin als in der letzten Zeit.« Die drei jüngeren Männer freuten sich, als sie diese Worte hörten, aber van |493|Helsing und ich blickten uns gleichzeitig an und jeder von uns sah in sorgenvolle, ernste Augen. Gleichwohl sagte keiner von uns beiden etwas.

Als die drei zu ihren Aufträgen aufgebrochen waren, bat van Helsing Mrs. Harker darum, für ihn die Kopien der Tagebücher nach dem Abschnitt zu durchsuchen, den Harker auf Burg Dracula geschrieben hatte. Sie ging darauf hinaus, und als die Tür hinter ihr zufiel, sagte er zu mir:

»Wir beide haben dieselbe Vermutung. Sprechen Sie!«

»Es ist irgendeine Veränderung eingetreten, aber es ist eine Art von Hoffnung, die mich krank macht, denn sie ist trügerisch.«

»Ganz recht. Wissen Sie, warum ich sie bat, mir das Manuskript zu holen?«

»Nein«, sagte ich, »wahrscheinlich um Gelegenheit zu erhalten, mit mir allein zu sprechen?«

»Zum Teil haben Sie da recht, Freund John, aber eben nur zum Teil. Ich muss Ihnen nämlich etwas mitteilen. Ich gehe damit ein großes, ein schreckliches Risiko ein, aber ich denke trotzdem, dass es richtig ist. Also: In dem Augenblick, in dem Madame Mina die Worte sagte, die uns beide stutzig machten, kam mir eine Eingebung. In ihrer Trance vor drei Tagen hat der Graf seinen Geist zu ihr geschickt, um ihre Gedanken zu lesen. Oder anders: Er holte ihren Geist zu sich in seine Erdkiste auf dem Schiff, wo draußen das Wasser vorbeirauschte. Er muss dabei erfahren haben, dass wir hier sind, denn sie, mit ihren offenen Augen und hörenden Ohren, konnte ihm weit mehr sagen, als er aus seiner engen Kiste zu erzählen weiß. Nun macht er die größten Anstrengungen, uns zu entkommen. Gegenwärtig bedarf er ihrer nicht. Er ist sich seiner großen Macht wohl bewusst, dass er sie nur zu rufen braucht, aber er hat sie trotzdem vorläufig freigegeben, auf einige Zeit aus seiner Macht entlassen, damit ihr Geist nicht zu ihm kommen kann. Und hier schöpfe ich die Hoffnung, dass unser Menschenverstand, den wir schon so lange geschult haben und von dem die Gnade Gottes nicht gewichen |494|ist, seinen Kinderverstand übertrumpfen wird; sein selbstsüchtiges, kleines Kindergehirn, das seit Jahrhunderten in dieser Gruft gelegen hat und bis jetzt noch nicht so weit gewachsen ist, dass es sich mit unseren Männerhirnen messen könnte. Gleich kommt Madame Mina zurück – kein Wort zu ihr über diese Geschichte! Sie weiß es nicht, und es würde sie überwältigen und zur Verzweiflung treiben, wo wir doch gerade alle ihre Hoffnung und allen ihren Mut benötigen. Am meisten benötigen wir aber ihren einzigartigen Verstand, der arbeitet wie der Verstand eines Mannes und der dennoch zu einer schönen Frau gehört und eine spezielle, vom Grafen verliehene Fähigkeit besitzt, die er ihr nicht vollständig wieder abnehmen kann, auch wenn er dies glauben mag. Lassen Sie mich jetzt allein mit ihr reden, und hören Sie nur aufmerksam zu. Oh John, mein Freund, wir stecken in einer bösen Klemme, meine Befürchtungen sind größer als je zuvor. Wir können einzig auf Gott vertrauen – still, hier kommt sie!«

Ich befürchtete fast, der Professor bekäme wieder einen nervösen Anfall wie damals, als Lucy starb, aber er raffte sich mit großer Anstrengung auf und hatte sein Gleichgewicht wiedererlangt, als Mrs. Harker strahlend und glücklich ins Zimmer trat. Sie schien über ihrer Arbeit ihr Elend völlig vergessen zu haben und gab van Helsing eine Anzahl maschinengeschriebener Blätter. Anfangs blickte der Professor sehr ernst auf die Papiere, während er aber las, klärte sich sein Gesicht auf. Dann hielt er die Seiten zwischen Zeigefinger und Daumen und sprach:

»Freund John, der Sie schon so viele Erfahrungen gesammelt haben, und Madame Mina, die Sie noch so jung sind – ich möchte Ihnen etwas mit auf den Weg geben: Fürchten Sie sich niemals vor dem Denken! Ich hatte seit langem einen halbfertigen Gedanken in meinem Kopf, von dem ich fürchtete, dass er seine Schwingen entfalten würde. Heute aber, mit größerem Wissen, kehre ich dahin zurück, woher der halbe Gedanke kam, und ich erkenne, dass es gar kein halber Gedanke, sondern dass es ein ganzer Gedanke war, wenn auch noch zu jung, um den Flug zu |495|wagen. Und wie es der hässlichen kleinen Ente im Märchen meines Freundes Hans Andersen erging, die nämlich überhaupt keine Ente war, so wird auch mein Gedanke auf seinen stolzen Schwanenflügeln abheben, wenn seine Zeit gekommen ist. Hören Sie, ich lese Ihnen vor, was Jonathan einst geschrieben hat: ›Dann aber war es wieder jener Geist des ersten Dracula, der einen Späteren seines Geschlechts über den breiten Strom gehen und ins Land der Türken einfallen ließ, immer und immer wieder. Wurde er auch zurückgetrieben, wurde sein Heer auch vernichtet und kehrte er auch als Einziger zurück, so griff er dennoch wieder an, denn er wusste, dass nur er allein den Sieg erzwingen konnte.‹ – Was sagt uns das? Nicht viel? Falsch! Der Kinderverstand des Grafen ist unbekümmert, deshalb spricht er sich so frei aus. Ihr Männerverstand sieht auch nichts, der meinige ebenfalls nicht – bis jetzt! Denn nun kommt plötzlich ein Wort von ihr, welches sie ganz gedankenlos benutzt, weil sie ja ebenfalls nicht weiß, was es bedeuten kann – was es bedeuten könnte! So wie in der Natur manche an sich ruhigen Elemente in ihrem Lauf manchmal auf andere prallen und dann – Bum! – einen mächtigen, den Himmel erleuchtenden Blitz verursachen, der einige blind macht, zerstört und tötet, die Erde aber über zahllose Meilen erleuchtet – verstehen Sie mich? Ich will es Ihnen erklären. Um anzufangen: Haben Sie sich je mit der Philosophie des Verbrechens befasst? Ja und nein. Sie, John, kennen sich da aus, denn es hängt mit dem Studium des Wahnsinns eng zusammen. Sie, Madame Mina, hatten mit dem Verbrechen bislang nur in einem, in unserem Fall zu tun. Aber ihr Verstand arbeitet tadellos, und er argumentiert nicht a particulari ad universale3. Verbrecher haben immer etwas Einzigartiges an sich. Es ist dies eine so konstante Eigenschaft des Verbrechens in allen Ländern und zu allen Zeiten, dass sogar die Polizei, die nicht gerade sehr viel Philosophie treibt, durch praktische Erfahrung |496|darauf kommt, dass es sich so verhält. Der Verbrecher ist nur auf eine einzige Art des Verbrechens aus – das ist der wahre Verbrecher, dem sein Verbrechen vorherbestimmt scheint und der kein anderes will. Dieser Verbrecher hat keinen vollkommenen Menschenverstand. Er ist klug, schlau und erfinderisch, aber sein Gehirn ist dennoch nicht ausgereift – er hat in vielerlei Hinsicht ein Kindergehirn. Auch unser Verbrecher ist zum Verbrechen prädestiniert, auch er hat ein Kindergehirn und agiert wie ein Kind. Weder der kleine Vogel, noch der junge Fisch, ja überhaupt kein junges Tier lernt theoretisch, sondern sie alle lernen durch Erfahrung. Was bereits gelernt wurde, ist der neue Ausgangspunkt für neues Lernen. ›Dos moi pou sto kai kino taen gaen‹, sagt Archimedes.4 ›Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.‹ Es einmal zu probieren ist für das Kindergehirn der feste Punkt, von dem aus es sich zum Mannesgehirn entwickelt, und bis es auf die Idee kommt, mehr zu erreichen, tut es immer das Gleiche, genau wie bisher. Oh, Madame Mina, ich sehe Ihre Augen offen, Sie erblicken den hellen Lichtblitz, der Ihnen alles meilenweit erhellt!« In der Tat schlug Mrs. Harker ihre Hände zusammen, und ihre Augen begannen zu funkeln. Der Professor fuhr fort:

»Nun sollen Sie sprechen. Erzählen Sie uns beiden trockenen Männern der Wissenschaft, was Sie mit Ihren leuchtenden Augen erblicken!« Während sie sprach, nahm er ihre Hand und hielt sie fest. Mir fiel auf, dass er dabei Zeigefinger und Daumen verwendete, wie um ihren Puls zu fühlen. Ich nahm an, dass er dies instinktiv tat, und hörte Mrs. Harker zu.

»Der Graf ist ein Verbrecher, und zwar von einem ganz bestimmten Typus. Nordau und Lombroso5 würden ihn so klassifizieren, |497|und weil er Verbrecher ist, ist er auch von unvollkommen ausgebildetem Verstand. Er greift also unter schwierigen Verhältnissen zu dem, was ihm die Gewohnheit eingibt. Seine Vergangenheit mag uns vielleicht einen Anhaltspunkt geben. Das eine Blatt aus dem Buch seiner Vergangenheit, das wir kennen – es sind seine eigenen Worte –, sagt uns, dass er früher schon, wenn er in der Klemme war, aus dem Land, in das er eingefallen war, wieder in sein eigenes zurückkehrte. Von da aus bereitete er dann, ohne sein Ziel auch nur einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, einen neuen Überfall vor. Er kam wieder, besser ausgerüstet, und er gewann. So kam er auch nach London, um sich ein neues Land untertan zu machen. Er wurde zurückgeschlagen, und als er sah, dass alle seine Hoffnung auf Erfolg umsonst, dass seine Existenz in Gefahr war, flüchtete er über das Meer in sein Heimatland zurück, gerade wie er vor Jahren aus dem Türkenland über die Donau entwichen war.«

»Sehr gut, oh Sie kluge Frau!«, applaudierte van Helsing enthusiastisch, beugte sich nieder und küsste ihr die Hand. Einen Augenblick später raunte er mir zu, so still, als handle es sich um eine Konsultation am Krankenbett.

»Nur zweiundsiebzig, und das bei dieser Erregung! Ich beginne wieder zu hoffen.« Gleich darauf wandte er sich wieder erwartungsvoll an sie:

»Aber nun weiter. Sie können uns noch mehr erzählen, wenn Sie nur wollen. Seien Sie ohne Sorge, John und ich sind bereits im Bilde. Ich bin es auf jeden Fall, und ich werde es Ihnen sagen, wenn Sie das Richtige treffen. Sprechen Sie ohne Furcht!«

»Ich will es versuchen, aber Sie dürfen es mir nicht verübeln, wenn es egoistisch klingt.«

»Nein, keine Sorge, Sie müssen egoistisch sein, denn es geht in unseren Überlegungen ja schließlich auch um Sie.«

»Also gut: Als Verbrecher ist er selbstsüchtig, und da sein Intellekt klein und sein Handeln nur auf Selbstsucht begründet ist, so konzentriert er sich auch nur auf ein einziges Ziel. Dieses Eine |498|aber verfolgt er skrupellos. Wie er damals über die Donau entfloh und seine Heerscharen in Stücke hauen ließ, so ist er auch heute nur darauf aus, sich in Sicherheit zu bringen. Auf diese Weise ist durch seinen Egoismus meine Seele frei geworden von der entsetzlichen Macht, die er seit jener Unglücksnacht über mich besaß. Ich fühle es! Meine Seele ist freier als je seit jener grauenvollen Stunde, mich quält einzig die Sorge, er könnte meine Trance oder meine Träume zu seinen Zwecken ausgenützt haben.« Der Professor stand auf.

»Ja, er hat Ihren Geist benutzt. Auf diese Weise konnte er uns hier in Varna zurücklassen, während er das Schiff, das ihn trug, mit Hilfe seines Nebels nach Galatz führte, wo er sicherlich schon Vorbereitungen für seine Flucht getroffen hat. Sein kurzsichtiger Verstand hat nur bis hierher gereicht, Gottes Vorsehung jedoch sorgt dafür, dass genau das, was der Übeltäter in seinem Eigennutz am meisten wünscht, sich als sein größter Schaden herausstellen wird. Der Jäger wird in seinen eigenen Fallstricken gefangen werden, wie es im Psalm heißt. Denn jetzt, wo er sich vor unserer Verfolgung sicher und uns mit einem großen Vorsprung entronnen zu sein glaubt, wird ihn sein egoistisches Kindergehirn in Ruhe wiegen. Auch meint er, dass wir keine Kenntnis von ihm bekommen können, da er ja die Verbindung zu Ihnen abgebrochen hat. Aber hier irrt er! Diese entsetzliche Bluttaufe, die er Ihnen gegeben hat, hat Ihnen die Fähigkeit verliehen, im Geiste zu ihm zu kommen, wie Sie es ja schon mehrfach getan haben. Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang folgen Sie meinem Willen, und nicht dem seinen. Diese Fähigkeit, die Ihnen und uns zum Heil gereicht, haben Sie durch das Leid gewonnen, das seine Hand Ihnen zugefügt hat. Das ist alles umso wertvoller, als er selbst es nicht weiß, und seine Vorsicht hat ihm auch die Möglichkeit genommen, zu erfahren, wo wir uns befinden. Wir sind nicht selbstsüchtig, und wir glauben, dass Gott durch all diese Schwärze und all diese finsteren Stunden hindurch mit uns ist. Wir werden den Feind verfolgen und wir werden nicht wanken, |499|selbst auf die Gefahr hin, so zu werden wie er. Freund John, dies war eine gesegnete Stunde, die uns ein großes Stück auf unserem Weg vorangebracht hat. Sie müssen all dies zu Papier bringen, damit die anderen, wenn sie von ihren Erledigungen zurück sind, es lesen können. Dann wird ihnen alles so klarwerden wie uns.«

Und so habe ich dies niedergeschrieben, während wir auf die Heimkehr der Freunde warten; Mrs. Harker aber hat es auf der Reiseschreibmaschine vervielfältigt.