Jonathan Harkers Tagebuch
3. Oktober
Da ich etwas tun muss, um nicht wahnsinnig zu werden, schreibe ich dieses Tagebuch. Es ist jetzt sechs Uhr, und in einer halben Stunde wollen wir im Studierzimmer zusammenkommen, um zu frühstücken. Van Helsing und Dr. Seward stimmen darin überein, dass wir kräftig essen müssen, wenn wir etwas leisten wollen. Weiß Gott, heute wird uns unser Bestes abverlangt werden. Jedenfalls darf ich nicht mit dem Schreiben aufhören, damit ich nicht nachdenken muss. Alles, Großes und Kleines, muss festgehalten werden, vielleicht lernen wir am Ende ja gerade aus den kleinen Dingen am meisten. Und dennoch hätten Mina und ich auch ohne all unsere Aufzeichnungen an keinem schlimmeren Punkt landen können als dem gegenwärtigen. Aber wir müssen vertrauen und hoffen. Die arme Mina hat mir gerade mit Tränen auf ihren lieben Wangen gesagt, dass dieser Kummer und diese Not eine Prüfung für unsere Treue wären, dass wir standhaft bleiben müssten und dass Gott uns zu einem guten Ende geleiten werde. Das Ende! Oh, mein Gott, was für ein Ende? … An die Arbeit! An die Arbeit!
Als Dr. van Helsing und Dr. Seward aus der Zelle des armen Renfield zurückkamen, begannen wir sogleich ernsthaft mit unserer Beratung. Zuerst erzählte Dr. Seward, wie sie Renfield im Zimmer unter uns auf dem Boden liegend vorgefunden hatten, mit zerschundenem Gesicht, eingedrücktem Schädel und gebrochenem Rückgrat.
Dr. Seward hatte den Pfleger, der auf dem Gang Aufsicht hatte, gefragt, ob er etwas Verdächtiges gehört habe. Dieser sagte, er habe |421|sich gerade etwas niedergesetzt – er gestand auch, ein wenig gedöst zu haben –, als aus dem Zimmer laute Stimmen drangen und Renfield mehrere Male »Gott!« rief. Danach habe er etwas umfallen gehört, und als er darauf hineinging, fand er ihn auf dem Boden liegend, mit dem Gesicht nach unten, genau wie die beiden Ärzte ihn später gesehen hatten. Van Helsing fragte den Pfleger, ob er eine oder mehrere Stimmen gehört habe, worauf dieser keine bestimmte Antwort zu geben vermochte. Zwar habe er anfangs gemeint, zwei Stimmen zu vernehmen, da aber doch weiter niemand im Zimmer war, konnte es natürlich nur eine gewesen sein. Das aber wolle er beschwören, dass das Wort »Gott!« von dem Patienten ausgerufen wurde. – Dr. Seward sagte in unserer Runde, er wünsche in dieser Angelegenheit möglichst wenig Aufmerksamkeit. Andernfalls müsste man sich auf eine gerichtliche Untersuchung gefasst machen, die jedoch niemals die Wahrheit ans Licht brächte, da die Wahrheit ohnehin nicht geglaubt werden würde. Wie die Dinge lagen, könne er wohl aufgrund der Zeugenaussage des Pflegers einen Totenschein darüber ausstellen, dass Renfield durch einen Sturz aus dem Bett verunglückt wäre. Falls der Leichenbeschauer doch noch eine Untersuchung verlangte, wäre das eine reine Formsache ohne andere Ergebnisse.
Als wir zur Frage unserer nächsten Schritte kamen, beschlossen wir als Erstes, Mina wieder vollkommen ins Vertrauen zu ziehen, auf dass nichts, wie schmerzlich auch immer, vor ihr verborgen sei. Sie selbst erkannte die Notwendigkeit dieser Entscheidung an, und es war rührend, sie mitten in ihrem Elend und ihrer Trauer so tapfer zu sehen. »Nichts darf mehr verheimlicht werden«, sagte sie. »Leider haben wir bisher zu viele Geheimnisse gehabt. Davon abgesehen, kann mir kein größeres Leid mehr zugefügt werden als jenes bereits erlittene, an dem ich so schwer trage. Was auch immer sich ereignen mag, für mich kann es nur neue Hoffnung und neuen Mut bringen!« Van Helsing hatte sie aufmerksam angesehen, während sie sprach, und sagte dann plötzlich, aber ruhig:
|422|»Aber liebe Madame Mina, haben Sie denn keine Angst, nach allem, was geschehen ist? Nicht um sich selbst, sondern um andere – um uns, die wir mit Ihnen zu tun haben?« Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an, aber ihre Augen leuchteten mit der Hingabe einer Märtyrerin, als sie antwortete:
»Oh nein! Ich weiß genau, was ich zu tun habe.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er freundlich, während wir anderen schwiegen, denn jeder von uns hatte wohl eine eigene vage Vorstellung davon, was ihre Worte bedeuteten. Ihre Antwort klang unvermittelt sachlich, so als würde sie lediglich eine Tatsache konstatieren:
»Ich werde mich scharf beobachten, und wenn ich an mir selbst auch nur das geringste Anzeichen dafür entdecke, dass Ihnen von meiner Seite aus eine Gefahr droht, so werde ich sterben.«
»Sie werden sich doch nicht selbst töten wollen?«, fragte der Professor heiser.
»Natürlich, wenn ich keinen Freund finden sollte, der mich genug liebt, um mir den Schmerz und die Verzweiflung dieses Schrittes zu ersparen.« Bei diesen Worten sah sie ihn bedeutungsvoll an. Van Helsing hatte bisher gesessen, nun aber stand er auf, trat nahe an sie heran, legte seine Hand auf ihren Kopf und verkündete feierlich:
»Mein liebes Kind, hier ist dieser Freund, sollte dies zu Ihrem Besten nötig werden. Ich wollte es vor Gott wohl verantworten, Ihnen einen leichten und schmerzfreien Tod zu verschaffen, selbst in diesem Moment schon, wenn es nötig sein sollte. Nein, wenn es sicher sein sollte! Denn, mein gutes Kind …« – hier musste er sich unterbrechen, denn ein tiefer Seufzer stieg in ihm auf. Er schluckte hörbar, dann fuhr er fort:
»Hier sitzen ja immerhin einige, die sich zwischen Sie und den Tod stellen. Sie dürfen nicht sterben! Sie dürfen durch niemandes Hand sterben, erst recht nicht durch die eigene! Bis dieser andere, der Ihr junges Leben vergiftet hat, wahrhaft tot ist, dürfen Sie nicht sterben, denn solange er zu den wandelnden Untoten |423|gehört, würde Ihr Tod Sie zu Seinesgleichen machen. Nein, Sie müssen leben! Sie müssen kämpfen und sich ans Leben klammern, auch wenn der Tod Ihnen als unbeschreibliche Wohltat erscheinen sollte. Sie müssen sich gegen den Tod zur Wehr setzen, ob er nun in Schmerz oder in der Freude, bei Tag oder bei Nacht, in Sicherheit oder in der Gefahr zu Ihnen kommt. Um Ihrer unsterblichen Seele willen bitte ich Sie, sterben Sie nicht – nein, denken Sie nicht einmal an den Tod, bis dieses große Unheil vorbei ist!« Die Ärmste wurde leichenblass, sie schauderte und zitterte wie Treibsand bei Einbruch der Flut. Wir alle waren still, denn wir konnten nichts tun. Endlich wurde sie wieder etwas ruhiger, wandte sich van Helsing zu, reichte ihm ihre Hand und sagte freundlich, aber unendlich traurig:
»Ich verspreche Ihnen, teurer Freund, dass, wenn Gott mich leben lässt, auch ich nach dem Leben streben werde, bis seine Güte dieses Entsetzen von mir nimmt.« Sie war so gut und so tapfer, dass wir alle in unseren Herzen die Kraft fühlten, für sie zu kämpfen und zu leiden. Dann begannen wir, über unsere nächsten Schritte zu sprechen. Ich teilte Mina mit, dass sie alle Papiere im Safe finden würde, und dass zukünftig alle Aufzeichnungen, Tagebücher und Zylinder des Phonographen dorthin kämen. Die Betreuung der Unterlagen wurde ab sofort wieder an sie übergeben, worüber sie sehr erfreut war, soweit der Ausdruck »erfreut« in einer so grausigen Angelegenheit überhaupt anwendbar ist. Immerhin kann sie so wenigstens etwas tun.
Wie gewöhnlich war van Helsing mit seinen Gedanken uns anderen schon wieder weit voraus, und er hatte die einzelnen Aufgaben bereits ausgearbeitet und zugeordnet.
»Es war vielleicht ganz gut«, sagte er, »dass wir auf dem Treffen nach unserem Besuch in Carfax beschlossen hatten, noch nichts mit den Kisten zu unternehmen, die dort standen. Hätten wir etwas getan, so hätte der Graf wohl Argwohn gefasst und unsere Absicht erraten, und zweifellos hätte er dann auch Maßregeln |424|getroffen, unsere Pläne bezüglich der anderen Kisten zu vereiteln. Aber jetzt kennt er unsere Absichten noch nicht. Mehr noch, er hat wahrscheinlich gar keine Ahnung davon, dass wir über Mittel verfügen, seine Lager zu sterilisieren, sodass er sie nicht mehr benutzen kann. Wir wissen nun immerhin so viel über ihre Verteilung, dass wir nach dem Besuch des Hauses in Piccadilly wohl auch die letzten Kisten entdeckt haben werden. Der heutige Tag gehört uns, und auf ihm ruhen unsere Hoffnungen. Dieselbe Sonne, die heute Morgen über unserem Elend aufgegangen ist, leuchtet uns zu unserem Werk. Bis sie sich neigt, muss das Monster in der Gestalt verbleiben, die es zuletzt angenommen hat. Der Feind ist an die Bedingungen seiner irdischen Hülle gebunden, er kann sich nicht unsichtbar machen und auch nicht durch Ritzen, Löcher oder Spalten verschwinden. Wenn er durch eine Tür will, muss er sie öffnen wie jeder Sterbliche. Wir müssen also heute alle seine Schlupfwinkel ausfindig machen und sterilisieren. Und wenn wir ihn bei dieser Gelegenheit nicht antreffen und vernichten können, so wird ihn unser heutiges Tagwerk binnen Kurzem an einem anderen Platz in die Enge treiben, wo wir ihn stellen und vernichten, so viel ist sicher!« Hier sprang ich auf, denn ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Minuten und Sekunden, die doch so kostbar für Minas Leben und Glück waren, ungenutzt dahinschwanden, dass wir plauderten, anstatt zu handeln. Aber van Helsing hob warnend die Hand. »Nein, Freund Jonathan«, sagte er, »in diesem Falle ist der schnellste Heimweg der längste, wie Ihr Sprichwort sagt. Wir werden alle handeln, und das mit extremer Schnelligkeit, aber erst, wenn die Zeit gekommen ist. Denn überlegen Sie sich bitte, dass die Lösung unserer Aufgabe wahrscheinlich in diesem Haus in Piccadilly zu finden ist. Wahrscheinlich hat der Graf sogar noch andere Häuser gekauft, zu denen er Kaufverträge, Schlüssel und weitere Dinge besitzen muss. Er wird Papier haben, darauf zu schreiben, und er wird ein Scheckbuch haben. Es müssen viele solcher Dinge vorhanden sein, und er muss sie irgendwo |425|aufbewahren. Warum sollte er das nicht an diesem so zentralen Ort tun, wo er zu jeder Stunde zur Vorder- oder Hintertür kommen und gehen kann, wo ihn im Gedränge der großen Straße niemand beachtet und wo es rückwärtig doch so still ist? Wir werden also zuerst dorthin gehen und das Haus durchsuchen. Wenn wir seine Geheimnisse kennen, dann beginnen wir das, was unser Freund Arthur in seiner Waidmannssprache ›Röhren verstopfen‹ nennt. Und danach werden wir schließlich den alten Fuchs zur Strecke bringen, einverstanden?«
»Dann lassen Sie uns augenblicklich aufbrechen«, rief ich, »wir verschwenden kostbare Zeit!« Der Professor aber regte sich nicht, sondern fragte nur:
»Und wie kommen wir in das Haus in Piccadilly hinein?«
»Irgendwie«, rief ich, »wenn es sein muss, brechen wir eben ein!«
»Und wie steht es mit der Polizei? Wird sie nicht gleich zur Stelle sein, und was passiert dann?«
Ich wurde unsicher, zugleich war mir aber bewusst, dass er seine Gründe haben würde, noch zu warten. Ich sagte deshalb so ruhig ich konnte:
»Bitte warten Sie nicht länger als unbedingt nötig. Sie können sich ja denken, welche Qualen es mir bereitet.«
»Ja, mein Junge, ich weiß, und ich habe ganz und gar nicht den Wunsch, Ihren Kummer zu vergrößern. Aber bitte überlegen Sie einmal, ob wir denn überhaupt etwas tun können, bevor die Stadt auf den Beinen ist! Erst dann ist unsere Zeit gekommen. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass der einfachste Weg eben doch der beste ist. Wir wollen in das Haus gelangen, aber wir haben keinen Schlüssel – verhält es sich nicht so?« Ich nickte.
»Nun stellen Sie sich einmal vor, Sie wären der Eigentümer des Hauses und könnten aus irgendeinem Grund nicht hinein. Den Gedanken an einen Einbruch einmal beiseitegelassen: Was würden Sie tun?«
|426|»Ich ließe einen geschickten Schlosser holen und beauftragte ihn, das Schloss zu öffnen.«
»Und was wäre mit der Polizei? Würde sie einschreiten oder nicht?«
»Oh nein, nicht wenn sie wüsste, dass der Mann einen gültigen Auftrag hat.«
»Dann«, er sah mich scharf an, »wäre das einzig Problematische die Vertrauenswürdigkeit des Auftraggebers und also die Meinung des Polizisten, ob dieser Auftraggeber ein reines Gewissen hat oder nicht? Ihr Polizist muss aber ein sehr dienstbeflissener und kluger Mann sein, wenn er derart ins Herz des Auftraggebers zu blicken vermag! Nein, mein Freund Jonathan, Sie können hier in Ihrem London und auch in jeder anderen Stadt der Welt Hunderte von Schlössern an leeren Häusern öffnen lassen, wenn Sie sich nur so stellen, als hätten Sie das Recht dazu. Und wenn es noch zu einer Zeit geschieht, wo solche Dinge in der Regel zu geschehen pflegen, wird erst recht niemand Einspruch erheben. Ich habe einmal eine schöne Geschichte von einem Gentleman gelesen, der ein feines Haus in London besaß. Er verreiste in die Schweiz, um die Sommermonate dort zu verbringen, und schloss sein Haus ab. Nun kam ein Einbrecher und stieg durch das Hinterfenster ein. Er öffnete die Fensterläden an der Vorderseite und ging fortan im Hause aus und ein, alles vor den Augen der Polizei. Dann schrieb er eine Auktion aus, für die er vorab große Zettel aushängte. Als der Tag gekommen war, verkaufte er über ein renommiertes Auktionshaus das gesamte Hab und Gut des Gentlemans. Schließlich ging er noch zu einer Baufirma, verkaufte das Grundstück und schloss einen Vertrag, gemäß dem das Haus innerhalb einer bestimmten Zeit abgerissen und der Schutt entfernt wurde. Die Polizei und die Behörden unterstützten ihn dabei in jeder nur erdenklichen Weise. Als der Besitzer schließlich aus seinem Urlaub in der Schweiz zurückkehrte, fand er an der Stelle, wo zuvor sein Haus gestanden hatte, nur noch ein großes Loch. Alles war ganz nach den Regeln |427|abgelaufen, und bei unserem Werk werden wir ebenso nach den Regeln handeln. Wir werden nicht so zeitig beginnen, dass es einem Polizisten, der um die frühe Stunde noch wenig zu grübeln hat, komisch vorkommen mag. Erst nach zehn Uhr werden wir anfangen, zu einer Zeit, wenn schon viele Leute unterwegs sind und zu der wir auch als Eigentümer des Hauses diese Dinge vornehmen lassen würden.«
Ich konnte nicht umhin, ihm recht zu geben. Die schreckliche Verzweiflung in Minas Gesicht legte sich etwas, denn der gute Rat van Helsings gab uns Hoffnung. Er fuhr fort:
»Wenn wir erst einmal im Haus sind, werden wir sicher weitere Hinweise finden. Auf jeden Fall aber werden dann einige von uns dort bleiben, während der Rest die anderen Plätze in Bermondsey und in Mile End aufsucht, wo sich noch Erdkisten befinden sollen.«
Lord Godalming erhob sich. »Vielleicht kann ich hier von Nutzen sein«, sagte er. »Ich werde meinen Leuten telegrafieren, dass sie Wagen und Pferde dorthin schicken, wo es für uns am günstigsten ist.«
»Hör mal, alter Bursche«, erwiderte Morris, »es ist ja nett von dir, alles für den Fall bereitzustellen, dass wir Eile haben sollten. Aber meinst du nicht auch, dass deine eleganten, wappengeschmückten Equipagen in einer Nebenstraße von Walworth oder Mile End zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden? Ich halte es für zweckmäßiger, Mietdroschken zu nehmen, wenn wir nach Süden oder Osten müssen, und diese sogar noch vor unserem eigentlichen Ziel zu verlassen.«
»Freund Quincey hat recht«, entschied der Professor. »Sein Kopf ist, wie man so schön sagt, auf Augenhöhe mit dem Horizont. Es ist eine schwierige Aktion, die wir da vor uns haben, und wir sollten dabei nicht unbedingt beobachtet werden.«
Minas Interesse an der Sache wuchs zusehends. Ich war froh, dass die Beschäftigung mit dieser Angelegenheit sie die grässlichen Ereignisse der Nacht etwas vergessen ließ. Sie war blass, |428|fast gespenstisch blass, und so schwach, dass sich ihre Lippen bereits etwas zurückzogen und die Zähne hervortraten. Ich sagte dazu nichts, um ihr nicht neuen Kummer zu bereiten, aber das Blut stockte mir in den Adern, wenn ich daran dachte, was der Graf seinerzeit aus Lucy gemacht hatte. Bis jetzt sind Minas Zähne wohl noch nicht spitzer geworden, aber es ist auch noch nicht viel Zeit vergangen, und wir haben alle Ursache, besorgt zu sein.
Als wir darauf zu sprechen kamen, in welcher Reihenfolge wir die verschiedenen Tätigkeiten vornehmen und wie wir unsere Kräfte aufteilen wollten, traten wieder neue Probleme auf. Schließlich einigten wir uns darauf, zuerst den uns benachbarten Schlupfwinkel des Grafen zu zerstören, bevor wir nach Piccadilly aufbrachen. Sollte er uns dort nämlich überraschen, so wären wir ihm mit unseren Zerstörungen immerhin etwas voraus. Sein Erscheinen in materieller Gestalt, also in seinem schwächsten Zustand, würde uns dann trotz allem neue Anhaltspunkte liefern.
Was nun die Aufteilung unserer Kräfte betraf, so schlug der Professor vor, dass wir uns nach dem Einsatz in Carfax zunächst alle in das Haus in Piccadilly begeben sollten. Die beiden Ärzte und ich würden dann dort zurückbleiben, während Lord Godalming und Quincey die Schlupfwinkel in Walworth und in Mile End aufsuchen und zerstören mussten. Van Helsing meinte weiter, es sei möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass der Graf im Laufe des Tages in Piccadilly erscheine. In diesem Falle müssten wir gleich dort mit ihm fertig werden. Um jeden Preis aber sollten wir in der Lage sein, ihn mit vereinter Kraft zu jagen. Diesem Plan widersprach ich aufs Heftigste, wenigstens soweit es meine Rolle dabei betraf, denn ich hatte die Absicht, bei Mina zu bleiben und sie zu beschützen. Ich führte meine Gründe an, aber Mina wollte nichts davon hören. Sie sagte, es könne sich irgendetwas ereignen, das meine juristischen Kenntnisse erforderte, oder es könne sich unter den Papieren des Grafen manches |429|befinden, was aufgrund meiner Erlebnisse in Transsilvanien nur mir verständlich wäre. Überdies sei es unabdingbar, alle unsere Kräfte zu vereinen, um der übernatürlichen Stärke des Grafen etwas entgegenzusetzen. Ich musste nachgeben, denn Minas Entschluss stand unerschütterlich fest. Sie betonte, es sei immerhin die letzte Hoffnung für sie selbst, dass wir alle zusammenarbeiteten. »Was mich betrifft«, sagte sie, »so fürchte ich mich nicht. Die Dinge stehen so schlecht, wie sie nur können, und was immer auch passieren mag, wird mir Hoffnung und Erleichterung bringen. Geh, mein lieber Mann! Wenn Gott mich schützen will, so wird er es unabhängig davon tun, ob du an meiner Seite bist oder nicht.« So sprang ich also wieder auf und rief: »Dann lassen Sie uns nun in Gottes Namen endlich aufbrechen, wir verlieren kostbare Zeit! Der Graf mag früher nach Piccadilly kommen, als wir denken!«
»Gemach!«, sagte van Helsing mit erhobener Hand.
»Aber was ist denn noch?« verlangte ich zu wissen.
»Haben Sie denn vergessen«, sagte der Professor, und er brachte es tatsächlich fertig, dabei zu lächeln, »dass er heute Nacht lange gezecht hat und sich also ordentlich ausschlafen wird?«
Vergessen! Werde ich das je vergessen – kann ich es je vergessen? Kann auch nur einer von uns diese schreckliche Szene vergessen? Mina kämpfte tapfer darum, ihre Fassung zu bewahren, aber schließlich überwältigte sie der Schmerz doch. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte, dass ihr ganzer Leib erzitterte. Van Helsing hatte natürlich nicht die Absicht gehabt, ihre schrecklichen Erinnerungen wieder aufzufrischen, er hatte ihre Gegenwart über seinen Erwägungen schlichtweg vergessen. Als ihm zu Bewusstsein kam, was er gesagt hatte, war er selbst über seine Gedankenlosigkeit am meisten entsetzt, und er bemühte sich, sie zu trösten: »Oh, Madame Mina«, sagte er, »liebe, liebe Madame Mina! Warum musste ausgerechnet ich, der ich Sie doch so tief verehre, gerade derjenige sein, der Ihnen, ohne es zu wollen, |430|solche Dinge sagt? Diese alten, dummen Lippen und dieser alte Schädel haben es nicht böse gemeint. Sie werden es doch gleich wieder vergessen, nicht wahr?« Er verbeugte sich tief vor ihr, sie aber ergriff seine Hand und sagte leise und unter Tränen:
»Nein, ich werde es nicht vergessen. Es ist gut, wenn ich dessen eingedenk bleibe, denn dabei denke ich auch an all das Gute, das Sie für mich getan haben. Nun, bald müssen Sie alle aufbrechen, zuvor sollten Sie aber noch frühstücken. Wir müssen essen, damit wir stark bleiben!«
Ein eigentümliches Mahl war dieses Frühstück für uns. Wir bemühten uns, heiter zu sein und uns gegenseitig zu ermutigen, und Mina schien die Vergnügteste und Lebhafteste von allen. Nachdem wir gesättigt waren, erhob sich van Helsing und sagte:
»Und nun, meine lieben Freunde, machen wir uns an unser schreckliches Unternehmen! Sind Sie alle gerüstet, wie Sie es kürzlich waren, als wir das erste Mal des Nachts den Schlupfwinkel unseres Feindes aufsuchten, gerüstet gegen natürliche und übernatürliche Angriffe?« Wir bejahten. »Gut! Madame Mina, Sie sind hier in jeder Hinsicht bis Sonnenuntergang vor dem Monster in Sicherheit, bis dahin aber sind wir wieder zurück, wenn … Nun, wir werden auf jeden Fall zurückkehren! Aber bevor wir gehen, wollen wir uns noch versichern, dass Sie gegen etwaige Angriffe hinreichend geschützt sind. Ich selbst habe vorhin Ihr Zimmer so hergerichtet, dass dem Vampir jeder Zutritt versperrt ist. Zum Abschluss lassen Sie mich nun noch Ihre Person gegen ihn wappnen, indem ich Ihre Stirn mit der geweihten Hostie im Namen des Vaters, des Sohnes und …«
Hier ertönte ein furchtbarer Schrei, der uns das Blut in den Adern gefrieren ließ: Der Professor hatte die Hostie auf Minas Stirn gedrückt, und der heilige Gegenstand hatte sich wie ein Stück weißglühendes Eisen in ihr Fleisch eingebrannt. So schnell, wie die Nerven meiner unglücklichen Frau den Schmerz empfanden, so schnell hatte aber auch ihr Verstand die ganze furchtbare Bedeutung des Geschehnisses überblickt – ihr Schrei war |431|ebenso sehr ein Schmerzensschrei wie ein Aufbäumen aus der tiefsten Tiefe ihres gequälten Herzens. Das Echo war noch nicht verklungen, da sank sie in ihrer furchtbaren Verzweiflung auf die Knie, zog sich ihr schönes Haar über dem Gesicht zusammen wie ein Aussätziger seinen Mantel und beklagte ihre Demütigung:
»Unrein! Unrein! Sogar der Allmächtige meidet mein geschändetes Fleisch! Ich muss dieses Zeichen der Schande an der Stirn tragen bis zum Jüngsten Gericht!« Alle schwiegen. Ich hatte mich in meiner jämmerlichen Hilflosigkeit neben sie auf die Knie geworfen und meine Arme um sie geschlungen. Eine Weile schlugen unsere unglücklichen Herzen nebeneinander, während die Freunde um uns herum ihre Augen abwandten, um ihre Tränen zu verbergen. Schließlich drehte sich van Helsing zu uns um und begann mit so seltsamem Ernst zu sprechen, dass es schien, als habe er eine Eingebung, als würde statt seiner etwas aus ihm heraus sprechen:
»Es mag sein, dass Sie dieses Zeichen auf der Stirn tragen müssen, bis Gott der Herr am Jüngsten Tag alles Leid von der Erde und von Seinen Kindern hinwegnimmt. Möge es uns, liebe, teure Madame Mina, die wir Sie innig lieben, dann vergönnt sein zu sehen, wie dieses Mal, mit dem Gott Sie gezeichnet hat, wieder verschwindet und Ihre Stirn wieder so rein und weiß wird wie Ihr Herz, das wir so genau kennen. So wahr wir leben, dieses Mal wird schwinden, wenn Gott die Zeit für gekommen hält, die Bürde, die so schwer auf uns lastet, von unseren Schultern zu nehmen. Bis dahin aber wollen wir unser Kreuz tragen, wie es auch Sein Sohn getan hat, dem Willen des Vaters gehorsam. Vielleicht sind wir auserwählte Werkzeuge Seiner göttlichen Gnade, vielleicht steigen wir aus Blut und Tränen, aus Angst und Zweifel und allem, was den Menschen von Gott zu trennen vermag, empor, wie Sein Sohn vor uns aus Geißelhieben und Schmach emporgestiegen ist.«
Es lag Hoffnung in seinen Worten, und sie spendeten Trost. Zugleich ermutigten sie uns dazu, das Schicksal anzunehmen. |432|Mina und ich fühlten dies gemeinsam, und gleichzeitig ergriffen wir die Hände des alten Mannes, neigten unsere Köpfe und küssten sie. Dann knieten alle, ohne ein Wort zu sagen, nieder, wir reichten uns im Kreis die Hände, als wollten wir uns schwören, treu zueinanderzuhalten. Wir Männer gelobten, den düsteren Schleier des Leides vom Haupt derjenigen zu lösen, die wir alle, jeder auf seine Art, liebten. Und wir beteten um Hilfe und Führung in der schrecklichen Aufgabe, die noch vor uns lag.
Dann wurde es Zeit aufzubrechen. Ich verabschiedete mich von Mina – ein Abschied, den keiner von uns bis zu seinem Tode je vergessen wird –, und wir gingen.
In einem Punkt habe ich mich entschieden: Wenn wir herausfinden sollten, dass Mina schließlich doch ein Vampir werden muss, dann soll sie nicht allein in dieses unbekannte, schreckliche Land gehen müssen. Ich vermute, dass es auch vor Urzeiten auf diese Weise zugegangen sein muss, dass ein Vampir mehrere erzeugte. So wie ihre scheußlichen Körper nur in geweihter Erde ruhen konnten, so war wohl die heiligste Liebe auch die stärkste Triebkraft, sich ihren gespenstischen Reihen anzuschließen.
Wir betraten Carfax ohne Schwierigkeiten und fanden alles so vor wie bei unserem ersten Besuch. Bei Tageslicht war es schwer zu glauben, dass sich unter all diesen nüchternen Dingen, inmitten dieser Verwahrlosung, in diesem Staub und Verfall die schreckliche Ursache unserer Furcht verbergen sollte. Wären wir nicht so fest entschlossen gewesen und hätten uns nicht die entsetzlichen Erinnerungen angespornt, so hätten wir vielleicht an unserer Aufgabe gezweifelt. Im Haus selbst fanden wir keine Papiere, und wir stießen auch sonst auf keine Spur einer Nutzung. In der alten Kapelle befanden sich die Kisten noch in demselben Zustand, in dem wir sie verlassen hatten. Als wir vor ihnen standen, sagte Dr. van Helsing feierlich:
»Und nun, meine Freunde, haben wir eine Pflicht zu erfüllen. Wir müssen diese Erde sterilisieren, die so angefüllt ist mit heiligen Erinnerungen, dass er sie aus einem weit entfernten Land |433|hierhergebracht hat, um sie so schändlich zu nutzen. Er hat diese Erde gewählt, denn sie war einst heilig. Und so besiegen wir ihn mit seinen eigenen Waffen, denn wir werden diese Erde erneut segnen. Hat man sie einst für die Menschen geweiht, so weihen wir sie nun Gott!« Noch während er sprach, holte er aus seiner Tasche einen Schraubendreher, und schnell war der Deckel der ersten Kiste geöffnet. Die Erde roch muffig und faulig, aber wir nahmen keine Notiz davon, denn unsere Aufmerksamkeit war auf den Professor gerichtet. Er holte aus seiner Büchse ein Stück einer Hostie hervor und legte es ehrerbietig auf die Erde in der Kiste. Dann schloss er den Deckel wieder und schraubte ihn zu, wobei wir ihm behilflich waren.
Eine der großen Kisten nach der anderen behandelten wir auf die gleiche Weise, und wir hinterließen sie für das Auge nicht anders, als wir sie vorgefunden hatten – allerdings lag nun in jeder von ihnen ein Stück des heiligen Brotes.
Während wir das Tor hinter uns schlossen, sagte der Professor:
»Dies wäre getan. Wenn wir mit dem Übrigen ebenso viel Erfolg haben, dann könnte Madame Minas Stirn heute noch weiß wie Elfenbein und fleckenlos in der Abendsonne glänzen!«
Als wir dann über die Wiese auf den Bahnhof zugingen, um dort den Zug zu besteigen, konnten wir noch einmal die Front der Irrenanstalt sehen. Gespannt schaute ich hinüber und entdeckte Mina am Fenster unseres Zimmers. Ich winkte ihr und nickte ihr zu, zum Zeichen, dass dieser Teil unserer Expedition erfolgreich verlaufen war. Sie nickte gleichfalls, um zu zeigen, dass sie verstanden habe. Dann sah ich noch, wie sie uns mit der Hand ein Lebewohl zuwinkte. Wir erreichten die Station mit schweren Herzen und kamen gerade rechtzeitig an, als der Zug hereinbrauste.
Dies habe ich in der Eisenbahn geschrieben.
Kurz bevor wir Fenchurch Street erreichten, sagte Lord Godalming zu mir:
»Quincey und ich werden einen Schlosser besorgen. Es ist besser, Sie gehen nicht mit, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass uns Unannehmlichkeiten erwachsen. Uns würde man es unter den gegebenen Umständen vielleicht nicht so sehr verübeln, dass wir in ein leeres Haus eingebrochen sind. Sie aber sind Jurist, und die Anwaltskammer würde Ihnen sicher zu verstehen geben, dass Sie sich als solcher doch besser hätten vorsehen müssen.« Ich machte Einwände, dass ich nicht an der Gefahr, und sei es auch nur die Gefahr, den Ruf zu verlieren, beteiligt werden sollte, aber er fügte hinzu: »Außerdem wird es weniger auffallen, wenn wir nicht zu viele sind. Mein Titel wird die Bedenken des Schlossers zerstreuen, und auch die jedes Polizisten, der sich vielleicht einmischt. Sie gehen besser mit Jack und dem Professor und warten in Green Park in Sichtweite des Hauses. Wenn Sie dann sehen, dass die Tür geöffnet und der Schlosser wieder gegangen ist, so kommen Sie herüber. Wir werden nach Ihnen Ausschau halten und Sie einlassen.«
»Der Rat ist gut«, sagte van Helsing, und wir hatten nun nichts mehr einzuwenden. Godalming und Morris fuhren eiligst in einer Droschke davon, wir stiegen in eine andere. An der Ecke Arlington Street stiegen wir aus und schlenderten gemächlich in den Green Park. Mein Herz schlug heftig, als ich das Haus erblickte, auf das sich all unsere Hoffnungen richteten; düster und schweigend ragte es in seiner Verwahrlosung unter seinen lebendigen, geputzten Nachbarn empor. Wir ließen uns auf einer Bank nieder, von der aus wir eine gute Sicht hatten, und begannen zu rauchen, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Die Minuten schienen mit bleiernen Füßen dahinzuschleichen, während wir auf die Ankunft der anderen warteten.
Endlich sahen wir eine Kutsche herannahen, aus der mit großer Ruhe Lord Godalming und Morris stiegen, gefolgt von |435|einem untersetzten Handwerker mit geflochtenem Werkzeugkorb. Morris bezahlte den Kutscher, der darauf grüßend seinen Hut berührte und davonfuhr. Sie stiegen die Treppe hinauf, und Lord Godalming erläuterte dem Schlosser, was zu tun sei. Der Mann zog gemächlich seine Jacke aus und hängte sie an einen der Gitterstäbe, während er einem vorbeischlendernden Polizisten etwas zurief. Der Polizist nickte zustimmend, und der Mann ließ sich auf die Knie nieder und zog seinen Korb zu sich heran. Eine Weile suchte er darin herum, um dann eine Anzahl Werkzeuge herauszuholen, die er in gewissenhafter Ordnung auf der obersten Treppenstufe ausbreitete. Schließlich stand er aber wieder auf, sah in das Schlüsselloch, blies hinein und sagte etwas zu seinen Auftraggebern. Lord Godalming lächelte, und der Mann brachte einen großen Schlüsselbund hervor. Er suchte einen Schlüssel heraus und probierte ihn im Schloss. Nachdem er ein wenig herumgerüttelt hatte, versuchte er es mit einem zweiten und dann mit einem dritten. Plötzlich öffnete sich die Tür auf einen leichten Druck von ihm, und er trat mit den beiden anderen ein. Wir saßen mit angehaltenem Atem, meine Zigarre brannte wie Zunder, van Helsings Zigarre war ausgegangen, und Dr. Seward war mit seiner Zigarette längst fertig. Dann kam der Handwerker wieder heraus und holte seinen Werkzeugkorb, hielt die Tür mit den Knien halb geöffnet und machte einen passenden Schlüssel zurecht. Diesen überreichte er schließlich Lord Godalming, der seine Börse zog und ihn bezahlte. Der Mann tippte sich an die Mütze, nahm sein Werkzeug, zog seine Jacke wieder an und ging. Keine Seele hatte sich auch nur das Geringste um den ganzen Vorgang gekümmert.
Als der Mann weit genug entfernt war, gingen wir drei über die Straße und klopften an die Tür. Quincey Morris öffnete uns augenblicklich, neben ihm stand Lord Godalming und zündete sich eine Zigarre an.
»Der Ort stinkt scheußlich«, sagte Letzterer, als wir eintraten. Es roch in der Tat schrecklich, ganz wie in der alten Kapelle in |436|Carfax. Aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen zogen wir also den Schluss, dass der Graf schon ziemlich oft hier gewesen sein musste. Wir machten uns daran, das Haus zu durchsuchen, blieben dabei aber für den Fall, dass wir angegriffen würden, eng beieinander, denn schließlich hatten wir es mit einem starken und verschlagenen Feind zu tun, und es war ja noch nicht sicher, ob der Graf nicht doch schon irgendwo im Hause war. Im Esszimmer, das am Ende der Eingangshalle lag, fanden wir acht Kisten mit Erde. Nur acht Kisten von neun, nach denen wir suchten! Unsere Arbeit war also noch nicht vollendet, und wir konnten sie auch nicht vollenden, bis wir die fehlende Kiste finden würden. Trotzdem begannen wir. Zuerst öffneten wir die Läden des einzigen Fensters im Raum und blickten auf einen kleinen, gepflasterten Hof, den die nackte Wand eines Stalles begrenzte. Da diese keine Fenster aufwies, brauchten wir nicht zu befürchten, beobachtet zu werden. Ohne weitere Zeit zu verlieren, machten wir uns an die Untersuchung der Kisten, öffneten eine nach der anderen mit unseren mitgebrachten Werkzeugen und verfuhren mit ihnen in der gleichen Weise wie mit denen in der alten Kapelle. Da wir mittlerweile überzeugt waren, dass der Graf nicht im Haus weilte, begannen wir im Anschluss, nach seinen persönlichen Dingen zu suchen.
Nachdem wir uns flüchtig die übrigen Räume des Hauses vom Keller bis zur Dachkammer angesehen hatten, waren wir uns einig, dass einzig das Esszimmer Dinge enthielt, die dem Grafen gehörten, und wir unterzogen diese einer eingehenden Untersuchung. Alles lag in halbherziger Ordnung über den großen Tisch verstreut, wir fanden die dicke Besitzurkunde für das Haus in Piccadilly, Akten über den Kauf der Häuser in Bermondsey und Mile End, Briefpapier, Umschläge, Tinte und Feder. Die meisten Dinge waren zum Schutz gegen den Staub mit dünnem Einschlagpapier bedeckt. Wir fanden zudem eine Kleiderbürste, einen Kamm, einen Krug und eine Waschschüssel mit einer schmutzigen, wie von Blut geröteten Flüssigkeit. Schließlich |437|entdeckten wir noch eine Anzahl Schlüssel aller Größen und Formen, die wahrscheinlich zu den beiden anderen Häusern gehörten. Nachdem sie diesen letzten Fund eingehend untersucht hatten, notierten sich Lord Godalming und Quincey die genauen Adressen der beiden Häuser im Osten und im Süden, nahmen die Schlüssel an sich und machten sich auf den Weg, um die dortigen Kisten unbrauchbar zu machen. Wir anderen müssen nun geduldig warten, bis die beiden zurückkehren – oder bis der Graf kommt.