Zeitungsausschnitte aus dem »Dailygraph«
(in Minas Murrays Tagebuch geklebt)
Von einem Korrespondenten
Whitby, den 8. August. Eines der schwersten und überraschendsten Unwetter, an die sich Whitby erinnern kann, hat gestern hier gewütet, und zwar unter seltsamen, einzigartigen Begleitumständen. Das Wetter war etwas schwül, aber keineswegs anders, als man es im August erwarten kann. Samstagabend war es so schön wie je, und der größte Teil der Sonntagsausflügler besuchte gestern Mulgrave Woods, Robin Hood’s Bay, Rig Mill., Runswick, Staithes und die anderen zahlreichen Erholungsorte in der Umgebung Whitbys. Die Dampfer »Emma« und »Scarborough« besorgten den Verkehr entlang der Küste, und es war ein ungewöhnlicher Andrang von Ausflüglern. Der Tag war besonders schön, bis nachmittags einige der Spaziergänger, die den Kirchhof am East Cliff zu besuchen pflegen, von dessen mächtiger Höhe aus man einen weiten, prächtigen Rundblick nach Norden und Osten über die See hin genießt, die Aufmerksamkeit auf eine plötzlich hoch am nordwestlichen Himmel auftauchende Sturmwolke lenkten. Der Wind blies sanft aus Südwest; in der Sprache der Meteorologen würde man ihn als »Windstärke zwei, leichte Brise« bezeichnen. Der diensttuende Küstenwart machte sofort Meldung, und ein alter Fischer, der seit mehr als einem halben Jahrhundert vom East Cliff aus auf die Wetterzeichen achtet, sagte in bestimmtester Weise einen schweren Sturm voraus. Der Sonnenuntergang war so prächtig, so grandios in der Fülle reich gefärbter Wolken, dass sich eine große Menge Menschen auf dem alten Friedhof auf der Klippe versammelte, um die |115|Schönheit zu bewundern. Ehe die Sonne hinter den schwarzen Massen von Kettleness versank, das sich scharf vom westlichen Himmel abhob, war ihr Weg von zahllosen Wölkchen übersät, die in jeder nur erdenklichen Farbe schimmerten, in Feuerrot, Purpur, Rosa, Grün, Violett und Gold. Zwischen den Wölkchen hingen schmale Streifen von tiefstem Schwarz und seltsamen Formen, die sich wie ungeheure Silhouetten ausnahmen. Die ansässigen Maler haben sich diese Farbenpracht jedenfalls nicht entgehen lassen, und zweifelsohne werden wir im kommenden Mai einige Bilder des Titels »Vor dem großen Sturm« an den Wänden der Royal Academy of Arts und des Royal Institute erwarten dürfen. Mehr als ein Kapitän entschloss sich, mit seinem »Cobble« oder »Mule«1, wie man hier die verschiedenen Arten von Wasserfahrzeugen nennt, im Hafen das Ende des Sturmes abzuwarten. Der Wind flaute gegen Abend immer mehr ab, und um Mitternacht war es totenstill. Eine drückende Schwüle und jene Spannung, die beim Herannahen eines Gewitters besonders empfindliche Personen ergreift, lag über allem. Nur wenige Lichter waren noch auf See zu bemerken, denn sogar die Küstendampfer, die sonst dicht am Ufer entlangfahren, hielten sich heute bedächtig seewärts, und auch Fischerboote waren kaum noch unterwegs. Das einzige bemerkenswerte Schiff war ein fremder Schoner, der, alle Segel gesetzt, augenscheinlich westwärts ging. Die Ungeschicklichkeit oder Unwissenheit der Offiziere war ein fruchtbares Thema für die Zuschauer, solange das Schiff in Sichtweite war. Man bemühte sich sogar, ihm zu signalisieren, dass es angesichts der drohenden Gefahr die Segel reduzieren solle. Ehe die Nacht völlig hereingebrochen war, sah man den Schoner dann mit schlaffen Segeln sanft auf den Wellen schaukeln, »so müßig wie ein gemaltes Schiff auf gemalten Wogen«2.
|116|Kurz von zehn Uhr wurde die Stille in der Luft geradezu beängstigend, und das Schweigen war so tief, dass man das Blöken eines Schafes oder das Bellen eines Hundes aus der Stadt deutlich vernehmen konnte. Die Musikkapelle auf dem Pier mit ihren lieblichen französischen Weisen war beinahe ein Misston in der großen Harmonie der schweigenden Natur. Kurz nach Mitternacht fuhr ein scharfer Laut über die See, und hoch in den Lüften begann ein seltsames, schwaches, hohles Brausen.
Dann brach ohne eine weitere Warnung der Sturm los, und zwar mit einer Plötzlichkeit, welche in diesem Augenblick unvorstellbar war und selbst im Nachhinein nicht zu erklären ist. Die ganze Natur schien auf einen Schlag erschüttert. Die Wogen erhoben sich in wachsender Wut, jede über die vorangegangene hinwegstürzend, sodass in wenigen Minuten die bisher spiegelglatte See in ein tosendes, alles verschlingendes Ungeheuer verwandelt war. Weißgekrönte Wellen schlugen wie toll über die flachen Sandbänke und leckten an den steilen Klippen hinauf; andere brachen über den Damm, und ihre Gischt fegte über die Lichter der Leuchttürme, die an den Enden der beiden Piers des Hafens von Whitby aufragen. Der Wind brüllte wie Donner und blies mit solcher Gewalt, dass selbst starke Männer sich kaum auf den Füßen zu halten vermochten, und er fuhr mit grimmigem Klatschen durch die eisernen Gitter. Man musste den gesamten Pier von der Masse der Zuschauer räumen, da sich sonst die Unfälle dieser Nacht bis ins Ungeheure vermehrt hätten. Die Schwierigkeiten und Gefahren wurden dadurch noch erhöht, dass Massen von Meeresnebeln landeinwärts fegten – weiße, feuchte Wolken, die wie Gespenster vorbeihuschten, so nass und dumpf und kalt, dass man sich leicht einbilden konnte, die Geister derer, die draußen auf See ihr Grab gefunden hatten, berührten ihre lebenden Brüder mit ihren kalten, klebrigen Totenhänden. So mancher mochte wohl schaudern, wenn die weißen Nebelfetzen an ihm vorbeistrichen. Zeitweilig klärten sich die Nebel auf, und man sah das Meer im Licht der Blitze, die unausgesetzt |117|die Wolken durchfurchten. Den Blitzen folgten solch furchtbare Donnerschläge, dass der ganze Himmel unter den schweren Fußtritten des Sturmes zu erzittern schien. Die vom Blitzlicht erhellten Szenen waren von schwer zu beschreibender Erhabenheit und Faszination: Die See, bergehoch aufgetürmt, warf mit jeder Woge Massen weißer Gischt gegen den Himmel, die der Sturm zerstäubte und im Kreise herumwirbelte. Hier und dort schoss ein Fischerboot mit zerfetztem Segel in wahnsinniger Eile vor dem Wind dahin, um sich vor dem Unwetter zu retten; verschiedentlich waren die weißen Schwingen vom Sturm herumgeworfener Seevögel zu entdecken. Auf der Spitze des East Cliff stand der neue Suchscheinwerfer in Bereitschaft, war aber bis jetzt noch nicht eingesetzt worden. Die mit seiner Handhabung betrauten Offiziere machten ihn einsatzfähig, und durch die Lücken der dahinstürmenden Nebelfetzen strich sein klarer Strahl über die Oberfläche der wild erregten See. Einige Male war er von ausgezeichnetem Nutzen, wenn nämlich ein Fischerboot, dessen Seitendeck bereits unter Wasser stand, auf den rettenden Hafen zueilte und der Lichtstrahl es davor bewahrte, an den Piers zu zerschellen. Als alle Boote den sicheren Hafen erreicht hatten, klangen Jubelrufe durch die Menge am Ufer, die für einen Augenblick sogar dem Sturm Einhalt zu gebieten schienen, sich dann aber schnell in seinem Brausen auflösten. Bald darauf entdeckte der Scheinwerfer in einiger Entfernung einen Schoner unter vollen Segeln, offenbar dasselbe Schiff, das schon am früheren Abend gesichtet worden war. Der Wind hatte sich unterdessen nach Osten gedreht, und ein Schaudern bemächtigte sich der Zuschauer, als sie erkannten, in welcher Gefahr das Schiff jetzt schwebte. Zwischen ihm und dem Hafen lag nun das lange, flache Riff, an dem schon so manches gute Schiff sein Ende gefunden hatte. Bei der Richtung, aus der der Wind blies, schien es undenkbar, dass der Schoner noch den Hafen erreichen würde. Es war die Zeit der höchsten Flut, aber die Wogen hatten eine solche Höhe, dass in den Wellentälern der Sand |118|des Ufers sichtbar wurde. Der Schoner flog mit solcher Hast dahin, dass er nach den Worten eines alten Seemannes »irgendwo auflaufen musste, und sei es in der Hölle«. Dann kam wieder neuer Nebel vom Meer herein, dichter als bisher – dumpfe Schwaden, die sich wie ein graues Leichentuch auf alles legten und den Menschen am Ufer nur mehr das Gehör ließen, denn das Brüllen des Sturmwindes, das Krachen des Donners und das Heulen der mächtigen Wogen klang durch die Finsternis lauter als je zuvor. Die Strahlen des Scheinwerfers waren über den Ostpier hinweg starr auf die Hafenmündung gerichtet, wo man das Auflaufen des Schiffes erwartete, und alles starrte atemlos hinaus. Plötzlich drehte der Wind sich nach Nordost, und die Nebelfetzen flatterten durch den Lichtkegel. Und dann, mirabile dictu3, schoss plötzlich zwischen den Piers in rasender Eile und mit vollen Segeln der fremde Schoner vor dem Wind in den sicheren Hafen. Der Scheinwerfer folgte ihm mit seinem Licht, und ein Schauer durchrieselte alle: Am Steuerruder war ein Leichnam angebunden, der, mit gesenktem Haupt, bei jeder Bewegung des Schiffes hin- und herschwankte. Keine andere Gestalt war an Deck sichtbar. Ein grausiges Entsetzen überkam alle, als man sich klar wurde, dass das Schiff, das den Hafen erreicht hatte, wie durch ein Wunder von der Hand eines toten Mannes gesteuert wurde. Alles ging natürlich rascher vonstatten, als es sich schildern lässt. Der Schoner hielt aber nicht an, sondern er flog quer durch den Hafen und lief auf einen Haufen aus Sand und Steinen auf, den die Gezeiten und so mancher Sturm in der Südwestecke des Hafens angespült hatten, eine Stelle gerade unter dem East Cliff, die die Einheimischen Tate Hill Pier nennen.
Es gab natürlich eine heftige Erschütterung, als der Schoner auf den Sand auflief. Jede Spiere, jedes Tau und jeder Balken des Schiffes war bis an seine Grenze angespannt, und krachend stürzten Teile der Takelage herunter. Äußerst seltsam war, dass |119|in dem Augenblick, als das Auflaufen erfolgte, ein großer Hund, wie durch den Stoß aus dem Inneren des Schiffes herausgeschleudert, auf Deck erschien und vom Bug aus in den Sand sprang. Er lief sogleich direkt auf die Klippen zu, wo der Friedhof so steil über dem Weg zum East Pier hängt, dass einige der Grabsteine – der Volksmund nennt sie »thruff-steans« oder »through-stones« – über den abgestürzten Klippenrand hervorragen. Hier verschwand er im Dunkel, das den vom grellen Licht des Scheinwerfers geblendeten Augen noch schwärzer erschien.
Es befand sich zu diesem Zeitpunkt niemand am Tate Hill Pier, da alle in der Nähe Wohnenden sich entweder schon zu Ruhe begeben hatten oder aber als Zuschauer draußen auf den Höhen standen. So war die auf der Ostseite des Hafens ihren Dienst verrichtende Küstenwache, die in höchster Eile dem kleinen Pier zustrebte, der erste Mann, der an Bord des Wracks ging. Die Leute am Scheinwerfer drehten, nachdem sie die Hafenmündung nochmals abgesucht hatten, ohne etwas zu entdecken, das Licht auf das Wrack und ließen es dort ruhen … Der Wächter lief sogleich nach achtern zum Steuerrad. Dort angekommen, beugte er sich vor, um es zu untersuchen, aber er prallte augenblicklich wie unter Schock wieder zurück. Dies fachte die allgemeine Neugier an, und der ganze Menschenschwarm der Zuschauer begann zu laufen. Es ist ein gutes Stück Weg vom West Cliff an der Zugbrücke vorbei zum Tate Hill Pier, aber der Korrespondent ist ein leidlicher Läufer, und es gelang ihm, als Erster von allen den Schauplatz der Katastrophe zu erreichen. Als ich also ankam, fand ich zwar schon eine Anzahl Menschen auf dem Pier versammelt, aber der Küstenwart und mehrere Polizisten hinderten diese daran, an Bord zu gehen. Dank der Freundlichkeit des Ersten Bootsmannes erhielt ich als Korrespondent hingegen die Erlaubnis, das Deck zu betreten. Insgesamt war es nur einer kleinen Gruppe vergönnt, einen Blick auf den toten Seemann zu werfen, wie er dort am Steuerrad festgeschnürt hing.
|120|Es war kein Wunder, dass der Küstenwart überrascht oder vielmehr entsetzt war, denn nicht oft im Leben steht man vor einem solchen Anblick. Der Steuermann war mit den Händen, eine über der anderen, an einer Speiche des Rades festgebunden. Zwischen den Handflächen und dem Holz war das Kruzifix eines Rosenkranzes eingeklemmt. Die Kette des Rosenkranzes wand sich um die Hände und die Radspeiche, alles zusammen aber wurde festgehalten durch mehrere Schlingen eines Taus. Das arme Opfer mag wohl ursprünglich gesessen haben, aber das Schlagen der Segel musste das Steuerrad – und ihn folglich ebenfalls – unzählige Male hin- und hergedreht haben, denn die Schnüre, mit denen der Mann gefesselt war, hatten sein Fleisch bis auf die Knochen durchschnitten. Alle Umstände wurden akkurat verzeichnet, und ein kurz nach mir eingetroffener Arzt – der Chirurg J. M. Caffin, wohnhaft 33 East Elliot Place – erklärte nach einer ersten Untersuchung, dass der Mann schon seit mindestens zwei Tagen tot sein musste. In seiner Tasche fand man eine Flasche, die sorgfältig verkorkt war und eine kleine Papierrolle enthielt; wie sich dann herausstellte, war es eine Ergänzung zum Logbuch. Der Küstenwart erklärte, der Mann müsse seine Hände selbst festgebunden und dann mit den Zähnen die Schnüre festgezogen haben. Die Tatsache, dass die Küstenwache als Erstes an Bord war, wird später die Verhandlung vor dem Seegericht vereinfachen – ein Küstenwart kann nämlich keinen Bergungslohn beanspruchen wie etwa ein Zivilist, wenn dieser als Erster ein Wrack betritt. Trotzdem rührten sich schon die juristischen Zungen, und ein junger Rechtsstudent behauptete laut, dass die Rechte des Schiffseigners unrettbar verloren wären, da hier ein sogenannter »Mortmain-Fall« eingetreten wäre, denn das Steuerruder als Symbol der Rechteübertragung des Eigners hätte sich ja im Wortsinne in toten Händen befunden. Unnötig zu betonen, dass der tote Steuermann mit aller Ehrfurcht von seinem Platz getragen wurde, auf dem er in Ehren seine Wacht getreu bis in den Tod gehalten hatte – eine Standhaftigkeit, |121|so edel wie die des jungen Casabianca4. Er wurde ins Leichenhaus gebracht, um dort bis zu den gerichtlichen Untersuchungen zu verbleiben.
Schon zieht der furchtbare Sturm weiter und seine Wildheit beginnt sich zu legen; die Menge zerstreut sich heimwärts und der Himmel rötet sich über den Hochebenen von Yorkshire. Ich werde rechtzeitig für die nächste Ausgabe weitere Details über das Wrack sammeln, das im schrecklichen Sturm auf so seltsame Weise den Weg in den Hafen fand.
Whitby, den 9. August. Das Nachspiel zur befremdlichen Ankunft des Wracks im Sturm der letzten Nacht ist fast noch merkwürdiger als das Ereignis selbst. Es hat sich herausgestellt, dass der Schoner russisch ist, aus Varna kommt und »Demeter« heißt. Er hatte fast ausschließlich Silbersand als Ballast geladen, seine einzige Fracht bestand aus einer Anzahl großer Kisten mit Erde. Die Ladung war adressiert an einen Anwalt aus Whitby, Mr. S. F. Billington, The Crescent No. 7, welcher heute Morgen an Bord ging und offiziell von den für ihn bestimmten Gütern Besitz ergriff. Der russische Konsul ergriff als Vertreter des Eigners formell Besitz von dem Schiff und beglich alle Hafengebühren etc. Man spricht heute über nichts anderes als die seltsamen Ereignisse. Die Beamten der Handelskammer sehen mit aller Strenge darauf, dass alles in Übereinstimmung mit den bestehenden Verordnungen abgewickelt wird. Da es sich um ein ganz außerordentliches und kompliziertes Ereignis handelt, sind sie bemüht, alles so zu regeln, dass nicht etwa später Gründe zur Reklamation gegeben sind. Ein großer Teil des allgemeinen Interesses war auch auf den Hund gerichtet, der an Land gesprungen war, als das Schiff strandete, und nicht wenige Mitglieder des Tierschutzvereins, der in Whitby sehr stark ist, hatten versucht, |122|des Tieres habhaft zu werden. Die allgemeine Enttäuschung war groß, als all diese Versuche fehlschlugen; der Hund scheint gänzlich aus der Stadt verschwunden zu sein. Möglicherweise ist er in seiner Panik ins Moor gelaufen, wo er sich immer noch versteckt halten mag. Manche Bürger sind aufgrund dieser Vermutung in Sorge, denn früher oder später könnte das Tier selbst zu einer Gefahr werden. Offenbar handelt es nämlich um eine wilde Bestie: Heute in aller Frühe fand man einen großen Hund, den Mastiffbastard eines Kohlenhändlers, in der Nähe von Tate Hill Pier tot auf der Straße, gerade gegenüber dem Haus seines Herrn. Er hatte offensichtlich mit einem sehr wilden Gegner gekämpft, denn seine Kehle war aufgerissen und sein Bauch war aufgeschlitzt wie durch die Klauen eines großen Raubtieres.
Später. Durch die Freundlichkeit des Inspektors der Handelskammer erhielt ich die Erlaubnis, das Logbuch der »Demeter« zu inspizieren. Es war ordentlich geführt bis auf die letzten drei Tage, brachte aber bis auf den Hinweis, dass auf dem Schiff Leute vermisst worden waren, keine neuen Erkenntnisse. Von größerem Interesse ist hingegen das in der Flasche gefundene Papier, das heute bei der Verhandlung verlesen wurde; noch nie war es mir beschieden, einen seltsameren Bericht zu hören als diese zwei Seiten. Da kein Grund zur Geheimhaltung besteht, wurde mir gestattet, den Bericht hier in einer Abschrift wiederzugeben. In dieser sind einzig seemännische Details und Fragen der Ladung weggelassen worden. Es scheint beinahe so, als wäre der Kapitän schon bevor er in See stach von einem eigentümlichen Wahn befallen gewesen, der sich während der Fahrt weiter steigerte. Natürlich muss mein Bericht cum grano salis5 gelesen werden, da ich ihn nach dem Diktat eines Sekretärs des russischen Konsuls schreibe, der die Güte hatte, mir in Anbetracht der Kürze der Zeit das Schriftstück zu übersetzen:
Varna – Whitby
Aufgezeichnet am 18. Juli
Es geschehen so seltsame Dinge, dass ich sie von nun an sorgfältig festhalten will, bis wir wieder an Land sind.
Am 6. Juli hatten wir die Zuladung abgeschlossen: Silbersand und Kisten mit Erde. Mittags setzten wir Segel. Ostwind, frisch. Besatzung: fünf Matrosen, zwei Maaten, Koch und ich selbst (Kapitän).
Am 11. Juli in der Morgendämmerung Einfahrt in den Bosporus. Türkischer Zoll an Bord. Bakschisch. Alles in Ordnung. 4 Uhr nachmittags weiter.
Am 12. Juli durch die Dardanellen. Wieder Zoll sowie Flaggschiff der Hafenwache. Wieder Bakschisch. Kontrolle der Beamten gründlich, aber schnell – wir wollten rasch weiter. Bei Dunkelheit in den Archipel eingelaufen.
Am 13. Juli Kap Matapan passiert. Männer über irgendetwas unzufrieden. Schienen verängstigt, aber keiner wollte reden.
Am 14. Juli. Machte mir Sorgen um die Leute. Alles kräftige Kerle, alle schon früher mit mir gefahren. Der Maat konnte nicht aus ihnen herausbringen, was los war. Sie sagten ihm nur, da wäre Etwas an Bord, und bekreuzigten sich. Der Maat verlor mit einem von ihnen die Geduld und schlug ihn. Erwartete heftigen Tumult, aber alles blieb ruhig.
Am 15. Juli früh meldete der Maat, dass einer der Leute, Petrowski, fehle. Maat hatte keine Erklärung dafür. Petrowski hatte die vorangegangene Nacht um 8 Uhr die Backbordwache übernommen, wurde dann von Abramoff abgelöst, kam aber nicht in die Kajüte zum Schlafen. Mannschaft noch bedrückter. Alle sagten, sie erwarteten etwas, wollten aber nicht mehr sagen, als dass Etwas an Bord wäre. Der Maat wurde sehr heftig mit ihnen, ich befürchtete schon eine Meuterei.
Am 17. Juli, gestern, kam einer der Leute, Olgaren, zu mir in die |124|Kajüte und vertraute mir völlig verstört an, dass er meine, es befinde sich ein fremder Mann an Bord. Er erzählte mir, dass er als Wachhabender hinter dem Deckhäuschen Schutz vor dem Regen gesucht habe, als er einen großen, hageren Mann bemerkte, der keinem aus der Besatzung glich. Er kam die Mannschaftsstiege herauf, ging auf Deck gegen den Bug zu und verschwand. Er folgte ihm vorsichtig, doch als er an den Bug kam, fand er niemanden, und die Luken waren alle geschlossen. Er war vor abergläubischer Furcht fast wahnsinnig; ich bin in Sorge, es könnte eine Panik entstehen. Um dies zu verhindern, werde ich heute das ganze Schiff von vorne bis hinten sorgfältig durchsuchen lassen.
Habe mir sämtliche Leute zusammengeholt und gesagt, dass ich, weil sie glaubten, es wäre etwas Fremdes an Bord, das ganze Schiff bis in den letzten Winkel durchsuchen lassen werde. Der Erste Maat war ärgerlich und meinte, das wäre Unsinn, solch dummen Ideen nachzugeben hieße bloß, die Mannschaft zu demoralisieren. Er sagte, er würde ihnen die Angst schon mit einem eisernen Zinken austreiben. Ich schickte ihn ans Ruder, während die Übrigen gründlich zu suchen begannen, sogar mit Laternen. Wir ließen keinen Winkel undurchforscht. Da wir nur die großen Holzkisten geladen haben, gab es nirgends einen Ort, an dem wir einen versteckten Menschen nicht gefunden hätten. Die Leute atmeten spürbar auf, als die Suche vorüber war, und gingen mit neuem Mut an ihre Arbeit. Der Erste Maat grollte, sagte aber nichts.
22. Juli
Raues Wetter die letzten drei Tage, alle Leute fleißig in den Segeln. Keine Zeit, sich der Angst hinzugeben. Die Leute scheinen ihre Furcht vergessen zu haben. Der Maat ist wieder beruhigt und alles in gewohnten Bahnen. Habe die Mannschaft für ihre Arbeit bei rauem Wetter gelobt. Haben Gibraltar passiert und sind durch die Straße hinaus nun auf offener See. Alles in Ordnung.
Es scheint ein Fluch auf dem Schiff zu liegen. Einen Mann hatten wir ja bereits verloren, dann Einfahrt in den Golf von Biskaya bei furchtbarem Unwetter, und nun heute Nacht wieder ein Mann verloren – er ist einfach verschwunden. Ganz wie der erste hatte auch er seine Wache abgegeben und ward nicht mehr gesehen. Die Leute überreichten mir in panischer Furcht eine Petition, die Wachen zukünftig zu zweit beziehen zu dürfen, da sie sich allein fürchteten. Der Maat war wütend. Ich fürchte, es wird Ärger geben. Entweder wird er Gewalt anwenden, oder die Mannschaft tut’s.
28. Juli
Vier Tage in der Hölle, umhergetrieben in einer Art Mahlstrom, dazu Sturm. Kein Schlaf für uns. Die Leute alle erschöpft. Weiß kaum noch, wie ich Wachen garantieren soll, da keiner bereit ist, eine solche zu beziehen. Der Zweite Maat erbot sich freiwillig zur Wache, damit die Leute ein paar Stunden ruhen können. Der Wind lässt langsam nach, die See ist zwar noch wild, wird aber stiller – das Schiff läuft ruhiger.
29. Juli
Eine neue Tragödie: Ich hatte letzte Nacht wieder Einzelwachen aufgestellt, da die Mannschaft zu müde war. Als die Morgenwache an Deck kam, fand sie nur den Steuermann. Sie stieß einen Schrei aus und alles rannte an Bord. Alles durchsucht, nichts gefunden. Sind nun ohne Zweiten Maat, und die Mannschaft ist in Panik. Der Maat und ich kamen überein, von nun an bewaffnet zu gehen und auf alle Anzeichen zu achten.
30. Juli
Unsere letzte Nacht. Freude, England näher zu kommen. Wetter ausgezeichnet, alle Segel gesetzt. Habe mich völlig erschöpft zurückgezogen und tief geschlafen. Wurde vom Maat mit der |126|Meldung geweckt, dass sowohl die Wache als auch der Steuermann vermisst werden. Nur ich, der Maat und zwei Mann sind noch zum Segeln des Schiffes übrig.
1. August
Zwei Tage Nebel, kein fremdes Segel in Sicht. Hatte gehofft, im Ärmelkanal ein Notsignal abgeben oder irgendwo anlaufen zu können. Habe nicht mehr genug Männer, um die Segel zu reffen, wage auch nicht, sie zu verringern, da ich sie nicht wieder setzen könnte. Muss also vor dem Wind laufen. Wir treiben wohl in unser Verderben. Der Maat ist noch demoralisierter als die anderen. Seine kräftige Natur scheint sich gegen sich selbst gerichtet zu haben. Die beiden Leute sind hingegen über sich hinausgewachsen, sie arbeiten wacker und geduldig, sind dabei aber auf das Schlimmste gefasst. Sie sind Russen, der Maat Rumäne.
2. August, Mitternacht
Hatte erst einige Minuten geschlafen, da weckte mich ein Schrei direkt vor meiner Luke. Ich konnte vor Nebel nichts sehen, rannte also an Deck und stieß dort mit dem Maat zusammen. Er sagte mir, dass er auf den Schrei sofort herbeigelaufen sei, dass er aber keine Spur von dem Wachhabenden gefunden habe. Wieder einer dahin! Gott helfe uns! Der Maat behauptete, wir hätten die Enge von Dover schon passiert; er habe durch eine Lücke im Nebel gerade eben North Foreland erkannt, als der Schrei des Mannes ertönte. Wenn es wirklich so ist, befinden wir uns jetzt auf der Nordsee. Nur Gott kann uns in diesem Nebel, der uns zu verfolgen scheint, leiten. Aber Gott scheint uns verlassen zu haben.
3. August
Um Mitternacht wollte ich den Mann am Steuer ablösen, als ich aber dorthin kam, fand ich niemanden vor. Der Wind war beständig, |127|und da wir mit ihm segelten, ging das Schiff sehr ruhig. Ich durfte das Steuer nicht unbemannt lassen und rief deshalb nach dem Maat. Nach wenigen Augenblicken kam er in seinem Schlafzeug aufs Deck gelaufen. Er sah wild und verstört aus, und ich fürchte, dass sein Verstand Schaden genommen hat. Er trat dicht an mich heran und flüsterte mir voll Entsetzen ins Ohr, als hätte er Angst, dass die Luft um uns herum ihn hören könne: »Es ist hier, ich weiß es jetzt. Auf Wache letzte Nacht habe ich Es gesehen, so groß wie ein Mensch, mager und totenbleich. Es stand am Bug und sah aufs Meer hinaus. Ich schlich mich hinter das Gespenst und stach mit meinem Messer nach ihm; aber das Messer ging einfach hindurch, wie durch Luft …« Während er sprach, nahm er sein Messer und fuchtelte wild damit herum. Dann fuhr er fort: »Aber Es ist hier und ich werde Es finden. Es ist im Laderaum, vielleicht in einer der Kisten. Ich werde sie öffnen, eine nach der anderen, und nachsehen. Sie bleiben so lange am Steuer.« Und mit einem warnenden Blick, den Finger an den Lippen, ging er hinunter. Indessen waren Böen aufgekommen, und ich durfte das Ruder nicht verlassen. Mit einer Werkzeugkiste und einer Laterne kam der Maat wieder an Deck und begab sich nach vorn zur Ladeluke. Ich dachte bei mir: Er ist verrückt, vollkommen wahnsinnig, und jeder Versuch, ihn aufzuhalten, wäre vergeblich. Den großen Kisten kann er nichts anhaben; sie sind als »Tonerde« deklariert, und sie etwas herumzustoßen schadet niemandem. So stehe ich nun hier, achte auf das Steuer und schreibe meine Notizen. Ich kann nichts tun als auf Gott vertrauen und warten, bis der Nebel sich aufklärt. Dann, wenn ich mit dem herrschenden Wind keinen Hafen anlaufen kann, werde ich die Segeltaue kappen, still liegen und »Hilfe« signalisieren …
Nun ist bald alles vorbei. Gerade hoffte ich noch, dass der Maat etwas beruhigter wiederkommen würde – ich hörte ihn unten im Schiffsraum klopfen, diese Arbeit schien mir gut für ihn –, da |128|gellte die Luke herauf plötzlich ein furchtbarer Schrei, der mir das Blut gerinnen ließ. Dann sprang er wie aus der Kanone geschossen an Deck – ein rasender Tobsüchtiger, mit rollenden Augen und verzerrtem Gesicht. »Retten Sie mich! Retten Sie mich!«, brüllte er und blickte Hilfe suchend im Nebelgrau um sich. Sein Entsetzen verwandelte sich augenblicklich in Hoffnungslosigkeit, und mit tonloser Stimme sagte er: »Es ist besser, Kapitän, Sie kommen gleich mit mir, ehe es zu spät ist. Er ist hier, ich kenne das Geheimnis jetzt. Aber die See wird mich vor Ihm retten, es gibt keinen anderen Ausweg!« Und ehe ich noch ein Wort erwidern oder auf ihn zutreten konnte, um ihn zu halten, war er schon auf die Reling gesprungen und hatte sich ins Meer gestürzt. Ich glaube, auch ich kenne nun das Geheimnis: Er selbst war der Wahnsinnige, der die Leute, einen nach dem anderen, verschwinden ließ, und nun ist er ihnen gefolgt! Gott helfe mir! Wie soll ich all das nur verantworten, all diese Gräuel, wenn ich in den Hafen komme? Wenn ich in einen Hafen komme! Wird das wohl noch der Fall sein?
4. August
Immer noch Nebel, den kein Sonnenaufgang durchdringt. Ich weiß, dass jetzt gerade die Sonne aufgeht, denn ich bin Seemann, aber erkennen kann ich es nicht. Ich durfte nicht hinuntergehen, durfte das Steuer nicht verlassen; so stand ich also die ganze Nacht hier, und in der Finsternis sah ich Es dann auch. Ihn! Gott vergib mir, der Maat hat recht getan, über Bord zu gehen, es ist besser, wie ein Mann zu sterben. Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn ein Seemann seinen Tod in den blauen Fluten sucht, aber ich bin Kapitän, und ich darf mein Schiff nicht verlassen! Ich will den Feind, das Ungeheuer, bekämpfen. Ich werde meine Hände an das Ruder binden, wenn meine Kräfte zu schwinden beginnen, und etwas darumwickeln, damit Es oder Er das Steuer nicht berühren kann. Und dann möge guter Wind kommen oder nicht: Ich habe meine Seele und meine Ehre als Kapitän gerettet …
|129|Ich werde schwächer, und die Nacht bricht schon herein. Wenn ich Ihn wieder von Angesicht zu Angesicht sehe, werde ich wohl keine Zeit mehr haben zu handeln … Wenn wir schiffbrüchig werden, mag man diese Flasche finden, und die, welche sie finden, werden das alles vielleicht verstehen. Wenn nicht, dann soll man wenigstens wissen, dass ich meiner Pflicht treu geblieben bin. Gott und die Heilige Jungfrau und alle Heiligen, helft einer armen Seele, ihre Schuldigkeit zu tun …
Ohne Zweifel entspricht diese Darlegung den Tatsachen. Jedenfalls ist es unmöglich, weiteres Beweismaterial beizubringen, und ob der Maat die Mordtaten selbst begangen hat oder nicht, darüber kann kein lebender Mund mehr etwas aussagen. Die Leute hier sind allgemein der Ansicht, dass der Kapitän zweifelsohne ein Held war und dass ihm ein ehrenvolles Begräbnis zuteil werden muss. Es ist bereits arrangiert, dass eine Flottille von Booten ihn ein Stück den Esk hinaufbegleitet, dann wird der Leichnam zurück zum Tate Hill Pier gebracht und von dort die Abteitreppen hinaufgetragen, denn er wird auf dem Friedhof an den Klippen begraben werden.
Von dem großen Hund hat man noch keine Spur gefunden, was sehr bedauert wird, denn wie die öffentliche Meinung nun steht, würde die Stadt ihn sicher gerne adoptieren. Für morgen ist das Begräbnis geplant, mit dem dieses neue »Geheimnis des Meeres« seinen Abschluss finden wird.
Mina Murrays Tagebuch
8. August
Lucy war die ganze Nacht über sehr unruhig, und auch ich vermochte nicht zu schlafen. Der Sturm war schrecklich, und wie er so laut durch den Kamin herunterpfiff, durchrann es mich eiskalt. Wann immer ein starker Stoß kam, klang es wie fernes Kanonenfeuer. |130|Seltsamerweise wachte Lucy nicht auf, aber sie stand zweimal im Schlaf auf und kleidete sich an. Glücklicherweise erwachte ich beide Male rechtzeitig und konnte sie, ohne dass sie erwachte, wieder auskleiden und zu Bett bringen. Es ist eine seltsame Sache, dieses Schlafwandeln. Sobald Lucys Tun auf irgendeine physische Weise durchkreuzt wird, verschwindet ihre Absicht, und sie hält sich wieder genau an die Gewohnheiten ihres Lebens.
Früh am Morgen standen wir beide auf und gingen hinunter zum Hafen, um zu sehen, ob sich in der Nacht irgendetwas ereignet habe. Es waren nur sehr wenige Leute draußen, und obgleich die Sonne freundlich schien und die Luft klar und frisch war, drängten sich doch große, tobende Wellen, finster und mit schneeweißem Schaum gekrönt, durch die Enge der Hafenmündung, ganz wie ein kämpfender Mann, der sich seinen Weg durch eine Menschenmenge bahnt. Eigentlich bin ich froh, dass Jonathan wenigstens diese Nacht nicht auf See, sondern auf festem Land war. – Aber weiß ich es denn wirklich, war er an Land oder auf See? Wo ist er? Wie geht es ihm? Ich habe schreckliche Angst um ihn. Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll und ob sich überhaupt etwas tun lässt!
10. August
Die Beerdigung des armen Schiffskapitäns war sehr ergreifend. Alle Boote im Hafen schienen sich an der Feier beteiligt zu haben, und der Sarg wurde von Kapitänen den ganzen Weg von Tate Hill Pier bis zum Friedhof hinaufgetragen. Lucy und ich kamen sehr früh zu unserem gewohnten Platz, während der Zug der Boote den Fluss bis zum Viadukt hinauffuhr und dann wieder umkehrte. Wir hatten eine gute Sicht und konnten den Trauerzug fast über seinen ganzen Weg beobachten. Man hat dem Kapitän einen Ruheplatz ganz in der Nähe unserer Bank angewiesen, sodass wir auf diese hinaufsteigen und alles genau sehen konnten, als der Zug herankam. Die gute Lucy schien mir sehr aufgeregt. Sie war unruhig und fühlte sich die ganze Zeit über |131|unbehaglich; ich muss wirklich annehmen, dass ihre nächtlichen Träume schädigend auf sie einzuwirken beginnen. In einer Hinsicht ist sie ganz merkwürdig: Sie will mir die Ursache ihrer Ruhelosigkeit nicht eingestehen. Es mag aber auch sein, dass, wenn eine solche besteht, sie sich ihrer vielleicht selbst gar nicht bewusst ist. Verschlimmernd auf ihre Gemütsverfassung wirkte noch der Umstand ein, dass man den alten Mr. Swales heute früh tot, mit gebrochenem Genick, auf unserer Bank gefunden hatte. Er war, wie der Doktor behaupte, in einem Anfall von Schrecken auf den Sitz gestürzt, denn es lag wohl ein Zug von Abscheu und Entsetzen auf seinem Gesicht, dass es einem, wie die Leute erzählten, hätte schaudern mögen. Guter, armer, alter Mann! Vielleicht hat er den Tod selbst mit seinen brechenden Augen erblickt? – Lucy ist so zart und so empfindlich, dass alle Eindrücke viel tiefer auf sie einwirken als auf andere. Eben jetzt war sie ganz aufgeregt durch ein kleines Ereignis, auf das ich gar nicht recht geachtet habe, obgleich ich Tiere sehr mag: Einer der Männer, die oft hier heraufkommen, um nach den Booten zu sehen, hatte seinen Hund bei sich – er begleitet ihn eigentlich ständig. Beide haben ein äußerst ruhiges Temperament, weder habe ich den Mann einmal ärgerlich gesehen, noch den Hund je bellen gehört. Während der Zeremonie wollte der Hund nun absolut nicht zu seinem Herrn kommen, der neben uns auf der Bank stand, sondern das Tier hielt sich in einer gewissen Entfernung, heulend und bellend. Sein Herr sprach ihm zuerst gütlich zu, dann ernst, schließlich ärgerlich. Aber der Hund kam nicht heran und hörte auch nicht zu bellen auf. Er befand sich in einem Zustand der Wut, seine Augen glühten wild, und sein Fell sträubte sich wie der Schweif einer Katze auf dem Kriegspfad. Zuletzt wurde auch der Besitzer ärgerlich; er sprang von der Bank herunter, packte den Hund, prügelte ihn, griff ihn am Fell und brachte ihn, halb ziehend, halb stoßend, zu dem Grabstein, auf dem unsere Bank befestigt ist. In dem Augenblick, als das arme Geschöpf diesen berührte, wurde es still und begann heftig zu zittern. Es versuchte |132|gar nicht zu entfliehen, sondern duckte sich nieder, bebend und sich krümmend, und befand sich in einem so erbärmlichen Zustand der Angst, dass ich, wenn auch vergeblich, den Versuch machte, es zu beruhigen. Lucy war gleichfalls voller Mitleid, aber sie konnte sich nicht entschließen, das Tier anzurühren, sondern sah es nur mit verängstigten Blicken an. Ich fürchte, sie ist eine zu empfindsame Natur, um das Leben ohne Leiden zu ertragen. Sie wird heute Nacht von all dem träumen, das weiß ich. Die ganze Reihe der Ereignisse, das Schiff, das von einem toten Mann gesteuert in den Hafen lief; der Leichnam, der mit Kruzifix und Rosenkranz in den Händen an das Steuerrad gefesselt war; die rührende Bestattung; der halb wütende, halb verängstigte Hund – all das wird ihr Material für ihre Träume liefern.
Es wird, denke ich, das Beste für sie sein, wenn sie physisch ermüdet zu Bett geht. Ich werde also noch einen langen Spaziergang zu den Klippen der Robin Hood’s Bay mit ihr unternehmen. Danach wird sie hoffentlich kaum noch besondere Lust zum Schlafwandeln empfinden.