|303|SECHZEHNTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

(Fortsetzung)

 

Es war gerade drei viertel zwölf, als wir über die niedrige Friedhofsmauer stiegen. Die Nacht war finster, von Zeit zu Zeit brach das Mondlicht hell zwischen den jagenden Wolken hervor. Wir blieben alle eng zusammen, van Helsing aber war immer etwas voraus, als wenn er uns führen wollte. Als wir nahe beim Grab waren, beobachtete ich Arthur scharf, denn ich fürchtete, dass seine Anwesenheit an diesem Ort, der so furchtbare Erinnerungen in ihm wachrufen musste, ihn sehr aufregen würde. Es schien jedoch, als sei das Geheimnisvolle unseres Vorhabens ein Gegenmittel gegen seinen Schmerz.

Der Professor öffnete die Pforte und trat, da er bei jedem von uns ein natürliches Zögern bemerkte, zuerst ein. Wir folgten ihm, und er schloss die Tür. Dann entzündete er eine Laterne und deutete auf den Sarg. Arthur trat zögernd näher, und van Helsing sagte laut zu mir:

»Sie waren gestern mit mir hier. War der Körper von Miss Lucy in diesem Sarg?«

»Ja.« Der Professor wandte sich darauf zu den anderen beiden und sagte:

»Sie hören es, und doch ist einer unter uns, der meinen Glauben nicht teilt.« Er nahm seinen Schraubendreher und schraubte den Deckel auf. Arthur sah gespannt zu, er war bleich und schweigsam. Als der Deckel schließlich abgehoben war, trat er näher. Er wusste offenbar nicht oder hatte es aus irgendeinem Grunde vergessen, dass die Leiche zusätzlich von einem Bleisarg umgeben war. Als er die Schnitte in dem Metall sah, schoss ihm das Blut ins Gesicht. Schnell jedoch wurde er wieder so bleich wie |304|zuvor. Immer noch schwieg er. Van Helsing bog das Blei zurück, wir sahen alle hin und erschraken:

Der Sarg war leer!

Eine lange Zeit sagte niemand ein Wort, dann brach Quincey Morris die Stille:

»Professor, ich habe mich für Sie verbürgt. Ich brauche nichts als Ihr Ehrenwort. Ich würde Sie unter gewöhnlichen Verhältnissen so etwas nicht fragen, es nicht wagen, Ihre Ehrlichkeit infrage zu stellen. Aber dies ist ein Geheimnis, das jenseits von Ehre und Unehre liegt. Haben Sie das getan?«

»Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, dass ich sie nicht berührt, geschweige denn beiseitegebracht habe. Die Sache verhält sich folgendermaßen: Vorgestern Nacht kam ich mit John hierher, mit den besten Absichten, das dürfen Sie mir glauben. Ich öffnete den Sarg, der noch versiegelt war, und wir fanden ihn, wie auch heute, leer. Wir warteten und sahen dann etwas Weißes zwischen den Bäumen. Gestern kamen wir bei Tage, und sie lag da. Ist dies so, Freund John?«

»Ja.«

»In jener Nacht kamen wir gerade noch zur rechten Zeit. Ein kleines Kind wurde vermisst, wir fanden es aber, Gott sei Dank, unverletzt zwischen den Gräbern. Gestern Abend kam ich vor Sonnenuntergang nochmals hierher, denn zu dieser Zeit kommen die Untoten heraus. Ich wachte hier, bis die Sonne aufging, konnte aber nichts bemerken. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil ich über die Ritzen der Grabtür Knoblauch gelegt hatte, den die Untoten verabscheuen, und einige andere Dinge, vor denen sie zurückschrecken. Vergangene Nacht unterblieb also der Ausgang, und heute Abend vor Sonnenuntergang nahm ich meinen Knoblauch und die anderen Sachen fort. Darum haben wir den Sarg leer vorgefunden. Aber haben Sie Geduld! Ist es bislang schon seltsam genug, so warten Sie nur eine Weile mit mir draußen, verborgen und stumm, dann werden noch wesentlich seltsamere Dinge geschehen. – So«, van Helsing schloss die Klappe |305|seiner Blendlaterne, »und nun hinaus!« Er öffnete die Tür, und wir stiegen einer nach dem anderen ins Freie zurück, worauf er die Tür wieder verschloss.

Wie frisch und rein wehte uns der Nachtwind um die Gesichter, als wir dem Schrecken dieser Gruft wieder entronnen waren. Wie schön war es, die Wolken am nächtlichen Himmel dahineilen zu sehen, wie schön der helle Mond zwischen ihnen bald verschwand, bald wieder erschien, sodass Licht und Schatten sich abwechselten wie Glück und Leid im Menschenleben. Wie herrlich war es, die kühle Nachtluft zu atmen, die nicht nach Tod und Verfall roch, wie anheimelnd, hinter dem Hügel den geröteten Nachthimmel zu sehen und das halb erstickte Brausen zu hören, die beide die Nähe der großen Stadt verkündeten. Jeder von uns war in seiner Art feierlich gestimmt und bewegt. Arthur verhielt sich schweigend und bemühte sich offenbar, den Zweck und die Bedeutung des Vorhabens zu ergründen. Ich selbst war verhältnismäßig geduldig und wieder geneigt, meine Zweifel beiseitezulegen und mich van Helsings Meinung anzuschließen. Quincey Morris war stoisch in der Art eines Mannes, der alles mit kaltem Mut hinnimmt, wie viel auch immer für ihn auf dem Spiel stehen mag. Da es in unserer Situation unangebracht wäre zu rauchen, schnitt er sich ein großes Stück Tabak ab und begann zu kauen. Van Helsing aber war auf ganz besondere Weise beschäftigt: Als Erstes entnahm er seinem Koffer einen halb in ein weißes Tuch eingeschlagenen Gegenstand, der sich als dünner, oblatenähnlicher Biskuit herausstellte. Dann holte er eine doppelte Handvoll von einem weißlichen Teig oder Kitt hervor. Er zerbröselte den Biskuit und knetete die Krümel in die Masse ein, welche er schließlich zu dünnen Streifen rollte, die er in die Ritzen zwischen Grufttür und Steinfassung einlegte. Ich war sehr erstaunt über seine Vorkehrungen, und da ich neben ihm stand, fragte ich ihn, was dies denn zu bedeuten habe. Auch Arthur und Quincey kamen näher heran, denn sie waren ebenfalls neugierig geworden. Van Helsing antwortete:

|306|»Ich verschließe die Tür, damit die Untote nicht wieder hinein kann.«

»Alter Schwede! Sind wir denn auf der Jagd?«, fragte Quincey. »Ist der Stoff, den Sie da zurechtmachten, wirklich imstande, ein Eindringen zu verhindern?«

»Ja.«

»Was ist denn das für eine Masse, die Sie dazu benutzen?«, mischte sich Arthur ein. Van Helsing nahm ehrfürchtig den Hut ab und erwiderte:

»Eine Hostie. Ich habe sie aus Amsterdam mitgebracht, ich habe eine kirchliche Dispens1 dafür.« Diese Antwort musste auch den ärgsten Zweifler unter uns überzeugen. Wir fühlten alle, dass dem Professor, der zur Durchführung seines Planes selbst die ihm heiligsten Dinge verwendete, unbedingtes Vertrauen zu schenken sei. In ehrerbietigem Schweigen nahmen wir drei die uns von van Helsing angewiesenen Plätze rings um die Gruft ein, und zwar so, dass wir nicht gesehen werden konnten. Mir taten die beiden Freunde leid, insbesondere Arthur. Ich selbst hatte mich durch meine früheren Besuche ja schon damit vertraut machen können, Schreckliches in Ruhe zu erwarten, trotzdem aber fühlte ich, der ich noch vor einer Stunde alles Übernatürliche geleugnet hatte, wie sich mein Herz zusammenzog. Noch nie zuvor waren mir Gräber so unheimlich erschienen, nie waren mir die finsteren Zypressen, Eiben und der Wacholder wie Symbole des Todes vorgekommen. Die Bäume und Sträucher hatten noch niemals so bedrohlich gerauscht, nie die Zweige so geheimnisvoll geknackt, und noch niemals war mir das ferne Heulen der Hunde so wehmütig und unheilverkündend erschienen wie in dieser Nacht.

Eine lange Zeit war es still und einsam um uns herum, und wir wahrten ein beinahe schmerzhaftes Schweigen. Plötzlich tönte von dort, wo der Professor stand, ein scharfes: »Pst!« Van Helsing |307|zeigte auf etwas. Weit unten an der Eibenallee sahen wir etwas herankommen, eine schmale, weiße Gestalt, die einen dunklen Gegenstand an ihre Brust drückte. Dann blieb sie kurz stehen, und im gleichen Augenblick fiel ein Mondstrahl zwischen den ziehenden Wolken hervor und ließ uns in unheimlicher Deutlichkeit eine dunkelhaarige Frau im Totengewand erkennen. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, denn sie hielt es auf ein kleines, lockiges Kind niedergebeugt. Durch die Stille drang ein leises Jaulen, wie es Kinder manchmal im Schlaf auszustoßen pflegen, oder Hunde, die vor dem Feuer liegen und träumen. Wir wollten schon hervorstürzen, sahen aber gerade noch die warnend erhobene Hand des Professors, der uns von seinem Platz hinter einer Eibe Einhalt gebot. Nun bewegte sich die weiße Gestalt wieder vorwärts. Bald war sie nahe genug, dass wir sie deutlicher sehen konnten, denn auch das Mondlicht hielt an. Mein Herz wurde kalt wie Eis, und ich hörte Arthur keuchen, als wir gleichzeitig Lucy Westenras Züge erkannten. Lucy Westenra – aber wie verändert war sie! Strahlte sie früher nur Reinheit und Liebenswürdigkeit aus, so waren ihre Züge nun von diamantener, herzloser Grausamkeit, und aus ihrem Blick sprachen Wollust und Mutwillen. Nun trat van Helsing vor. Wir folgten seinem Beispiel und stellten uns in einer Linie vor der Gruft auf. Der Professor hob die Laterne und öffnete die Blende. Der helle Lichtstrahl fiel auf Lucys Gesicht und zeigte uns, dass frisches Blut von ihren Lippen tropfte, es lief in einem dünnen Streifen über ihr Kinn und färbte das weiße Totenkleid rot.

Wir schauderten vor Entsetzen. Am Zittern des Laternenlichtes war zu erkennen, dass selbst van Helsings eiserne Nerven dem nicht standhielten. Arthur stand neben mir, und wenn ich ihn nicht gestützt hätte, so wäre er wohl umgesunken.

Als Lucy – ich nenne das Ding, das da vor uns stand, Lucy, weil es ihre Züge trug – vom Licht getroffen wurde, prallte sie zunächst mit einem ärgerlichen Fauchen zurück; es klang wie bei einer Katze, die man überraschend packt. Dann glitten ihre Augen über |308|uns hinweg. In Form und Farbe waren es Lucys Augen, aber sie waren nicht mehr die reinen und klaren Sterne, die wir kannten, sondern sie leuchteten in höllischer Glut. In diesem Augenblick verwandelten sich die Überreste meiner Liebe in Hass und Abscheu, und hätte ich sie jetzt töten können, so würde ich es mit wilder Lust getan haben. Während sie uns anstarrte, veränderte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht zu einem lüsternen Lächeln. Oh mein Gott, wie entsetzlich war mir dieser Anblick! Das Kind, das sie bislang an ihre Brust gedrückt hatte – sie knurrte dabei wie ein Hund, der sich über einen Knochen beugt –, warf sie nun mit einer achtlosen Bewegung von sich. Das Kleine stieß einen Schrei aus und blieb wimmernd liegen. Die Rohheit dieses beiläufigen Wegwerfens entrang Arthur ein Stöhnen, woraufhin Lucy ihre Arme nach ihm ausstreckte und sich mit einem lasziven Lächeln auf ihn zu bewegte. Arthur wich zurück und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Sie kam immer näher und begann, ihn mit tiefer, wollüstiger Stimme zu locken:

»Komm zu mir, Arthur. Verlasse diese anderen und komm zu mir! Mein Körper verzehrt sich nach dir, komm, dann legen wir uns beide nieder! Komm zu mir, mein Gatte, komm!«

Es lag etwas diabolisch Süßes in ihrer Stimme, dem Klingen aneinanderstoßender Gläser nicht unähnlich, und ihre Worte brachten Verwirrung in die Köpfe von uns allen, auch wenn sie nur an einen von uns gerichtet waren. Arthur aber stand wie unter einem Bann, er nahm die Hände vom Gesicht und öffnete weit und sehnsüchtig die Arme. Sie sprang auf ihn los, im gleichen Augenblick aber warf sich van Helsing zwischen beide und hielt sein goldenes Kruzifix hoch. Sie prallte davor zurück und huschte mit wutverzerrtem Gesicht an beiden vorbei, als wollte sie in die Gruft schlüpfen.

Kurz vor dem Tor blieb sie jedoch stehen, als würde eine unüberwindliche Kraft sie bannen. Sie fuhr herum, und wir sahen ihr Gesicht im Mondlicht und im hellen Laternenschein, der |309|nun nicht mehr zitterte – van Helsings Nerven waren wieder stark wie früher. Nie zuvor hatte ich eine derart verstörte Boshaftigkeit in einem Gesicht gesehen, und ich hoffe, dass menschliche Augen so etwas nie wieder sehen müssen. Die Farbe des Antlitzes wurde aschfahl, die Augen schienen Funken des Höllenfeuers zu versprühen und die Augenbrauen waren derart zusammengezogen, dass die Falten auf der Stirn an das Schlangengewimmel eines Medusenhauptes erinnerten. Der schöne, blutbefleckte Mund war weit aufgerissen und bildete fast ein Viereck, wie bei den Theatermasken der Griechen oder Japaner. Wenn es je ein Gesicht gegeben hat, das den Tod bedeutete, so sahen wir es in diesem Moment vor uns.

Eine halbe Minute, die uns wie eine Ewigkeit erschien, stand sie so zwischen dem erhobenen Kruzifix und dem durch den geweihten Stoff verschlossenen Eingang. Van Helsing brach schließlich die Stille, indem er Arthur fragte: »Antworten Sie mir, mein Freund, soll ich mit meiner Arbeit fortfahren?«

Arthur warf sich auf die Knie, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und stieß hervor:

»Tun Sie, was Sie müssen, Freund, tun Sie, was Sie müssen! Schlimmeres als das hier kann es nicht geben!« Darauf schluchzte er aus tiefster Seele. Ich wandte mich zugleich mit Quincey nach ihm um, und wir nahmen ihn bei den Armen und halfen ihm auf. Die Laternenblende klickte; van Helsing hatte das Licht heruntergenommen und damit begonnen, ein kleines Stück der geweihten Verschlussmasse vom Eingang der Gruft zu entfernen. Als er daraufhin ein paar Schritte zurücktrat, konnten wir mit Entsetzen und Faszination zugleich beobachten, wie diese Frau, deren Körper so real wie der unsere schien, durch einen Schlitz fuhr, der kaum groß genug war, eine Messerschneide aufzunehmen. Wir alle verspürten eine große Erleichterung, als der Professor sich anschließend mit großer Ruhe daranmachte, die Türritze wieder mit der elastischen Masse zu verschließen.

Nachdem er damit fertig war, hob er das Kind auf und sagte: |310|»Kommt, meine Freunde, bis morgen können wir nun nichts mehr ausrichten. Morgen Mittag ist hier eine Beerdigung, kurz darauf wollen wir uns dann wieder hier einfinden. Gegen zwei werden sich alle Trauergäste entfernt haben, und wenn der Friedhofswärter das Tor verschlossen hat, werden wir ungestört sein. Dann aber gibt es allerhand zu tun, anders als heute Nacht. Was dieses Kind hier anbetrifft, so ist ihm kein großes Leid geschehen, spätestens morgen Abend wird es sich erholt haben. Wir werden es, wie neulich schon einmal, an einer Stelle zurücklassen, wo die Polizei es finden muss. Und dann nach Hause!« Sich Arthur zuwendend, fügte er an:

»Mein lieber Arthur, das war eine schwere Prüfung für Sie. Wenn Sie aber später darauf zurückblicken, werden Sie erkennen, wie nötig dies alles war. Sie befinden sich nun mitten in den bitteren Wassern, mein Sohn, aber morgen um diese Zeit werden Sie, so hoffe ich, diese bereits verlassen und den ersten Schluck aus der klaren Quelle getrunken haben. Grämen Sie sich also heute nicht allzu sehr! Bevor nicht alles erledigt ist, werde ich Sie nicht bitten, mir zu verzeihen.«

Arthur und Quincey kamen mit mir. Unterwegs versuchten wir, einander aufzuheitern, so gut es ging. Nachdem wir das Kind in Sicherheit gebracht und zu Hause angekommen waren, waren wir sehr müde. Und so fielen wir alle bald in einen mehr oder minder erquickenden Schlaf.

 

29. September, nachts

Kurz vor zwölf holten wir drei – Arthur, Quincey Morris und ich – den Professor ab. Seltsamerweise hatten wir alle schwarze Kleidung gewählt, ganz als wäre es zuvor vereinbart worden. Arthur trug zwar ohnehin Schwarz, weil er ja in Trauer war, aber wir anderen hatten uns instinktiv dafür entschieden. Gegen halb zwei betraten wir den Friedhof und begannen herumzuschlendern, wobei wir uns allmählich aus der Sichtweite der anderen Leute entfernten. Als die Totengräber dann ihre Arbeit beendet |311|hatten und der Aufseher in der Überzeugung, dass der Friedhof nun verlassen wäre, das Tor verschlossen hatte, gehörte der Ort uns. Van Helsing hatte heute nicht wie sonst seinen kleinen schwarzen Koffer mitgebracht, dafür aber ein längliches, ledernes Futteral, ähnlich einer Krickettasche, aber von erkennbar großem Gewicht.

Nachdem die letzten Schritte draußen auf der Straße verhallt und wir allein waren, folgten wir dem Professor schweigend und wie auf Befehl zur Gruft. Er öffnete das Tor, wir gingen hinein und er sperrte hinter uns wieder zu. Dann nahm er die Laterne aus seiner Tasche und zündete sie an. Es folgten zwei Wachskerzen, die er, nachdem er ihre Enden erhitzt hatte, auf anderen Särgen befestigte, um zu seiner Arbeit mehr Licht zu haben. Als wir den Deckel des Sarges abhoben, blickten wir alle gespannt, und Arthur zitterte wie Espenlaub, aber der Leichnam lag in all seiner toten Schönheit darin. In meinem Herzen war die Liebe erloschen, und ich hasste dieses unheimliche Wesen, das Lucys Gestalt, aber nicht ihre Seele besaß. Auch Arthurs Gesicht zeigte keine Spur von Mitleid, als er zu van Helsing sagte:

»Ist dies wirklich Lucys Leib oder nur ein Dämon, der ihre Gestalt angenommen hat?«

»Es ist ihr Leib – und doch auch wieder nicht. Warten Sie noch eine kleine Weile, und Sie werden sie sehen, wie sie war, und wie sie ist.«

Es schien nur ein gespenstisches Zerrbild von Lucy zu sein, was da vor uns lag. Die spitzen Zähne im blutigen, wollüstigen Mund ließen uns erschaudern; die ganz reale Körperlichkeit dieses Dinges, dem alles Seelische zu fehlen schien, war eine teuflische Verhöhnung der unschuldigen Reinheit der echten Lucy. Van Helsing begann in gewohnt methodischer Weise, den Inhalt seiner Tasche auszupacken und zum Gebrauch bereitzulegen. Zuerst brachte er ein Löteisen und etwas Lötmasse hervor, dann eine kleine Öllampe, die beim Anzünden Gas entwickelte, das mit heißer, hellblauer Flamme brannte. Er stellte sie etwas |312|abseits in einen Winkel der Gruft. Dann legte er sich seine Operationsmesser griffbereit zurecht, worauf ein runder Holzpfahl erschien, zweieinhalb bis drei Zoll dick und drei Fuß lang. Ein Ende des Pflockes war angespitzt und im Feuer angekohlt worden. Schließlich brachte er einen schweren Hammer hervor, wie man ihn im Kohlenkeller zum Zerschlagen großer Brocken verwendet. Ich verfolge die Vorbereitungen eines Arztes, welcherart seine Tätigkeit auch sein mag, immer mit neugierigem Interesse, Arthur und Quincey aber schienen eher konsterniert zu sein. Immerhin blieben sie still und behielten ihre Fassung.

Als alle Vorbereitungen getroffen waren, sagte van Helsing:

»Bevor wir beginnen, muss ich Ihnen einiges erklären. Das, was ich tue, entspricht den Erfahrungen und dem Wissen der Alten und derer, die sich mit dem Studium der Untoten befasst haben. Wenn jemand zu einem solchen wird, so trifft ihn mit dieser Veränderung zugleich der Fluch der Unsterblichkeit. Er kann nicht sterben, sondern muss Jahrhundert um Jahrhundert wandeln, immer neue Opfer suchen und so die Übel der Welt ins Unermessliche steigern. Denn alle, die einem Untoten zum Opfer fallen, werden selbst Untote und gehen auf neue Beute aus. So weitet sich der unheimliche Kreis immer mehr, wie auch ein ins Wasser geworfener Stein immer größere Wellenringe hervorruft. Wenn ich Ihnen, Freund Arthur, erlaubt hätte, Lucy vor ihrem Tode zu küssen, oder wenn Sie letzte Nacht ihrem lockenden Ruf gefolgt wären, dann hätten Sie nach Ihrem raschen Tod das werden müssen, was man im östlichen Europa einen ›Nosferatu‹ nennt. In der Folge hätten auch Sie dann immer mehr arme Opfer zu Untoten gemacht, die uns mit Grauen überziehen würden. Die Laufbahn dieser unglücklichen jungen Lady hier hat gerade erst begonnen. Die Kinder, deren Blut sie getrunken hat, sind noch nicht in Gefahr der Ansteckung. Wenn die Untote aber noch länger mit ihnen ihr Unwesen treiben kann, verlieren die Kleinen immer mehr Blut und sind schließlich dahin, denn bei der Macht, die Lucy über sie besitzt, kommen die Kinder immer wieder |313|zu ihr zurück. Wenn die Untote nun endgültig stirbt, dann ist der Zauber gebrochen. Die Wunden an den kleinen Kehlen verschwinden, die Kinder kehren zu ihren fröhlichen Spielen zurück und vergessen alles, was mit ihnen geschehen ist. Das Wichtigste aber ist, dass, wenn wir diese Untote zu wirklicher Grabesruhe gebracht haben, die Seele Lucys, die wir so liebten, wieder frei sein wird. Anstatt nachts Fluch und Elend zu verbreiten und immer tiefer zu sinken, wird sie ihren Platz unter den Engeln einnehmen. Sie wird die Hand segnen, die den Streich führt, der sie frei macht. Ich bin dazu bereit. Aber möglicherweise ist einer unter uns, der ein größeres Anrecht darauf besitzt? Wird es nicht beruhigend für ihn sein, wenn ihn in tiefer Nacht der Schlaf flieht, denken zu können: ›Es war meine Hand, die ihr den Weg zu den Sternen geöffnet hat, die Hand dessen, der sie am meisten liebte. Es war die Hand, die sie sich selbst für diesen Liebesdienst erkoren hätte.‹ Sagen Sie mir jetzt, ob so jemand unter uns ist!«

Wir blickten auf Arthur. Er erkannte wie wir alle die Freundlichkeit des Vorschlages, dass es seine Hand sein sollte, durch die Lucys Andenken wieder ein heiliges würde, anstatt ein Fluch für die Menschen zu sein. Mutig trat er zu van Helsing, obgleich seine Hände bebten und sein Gesicht weiß wie Schnee war:

»Mein aufrechter Freund«, sagte Arthur, »ich danke Ihnen aus dem tiefsten Grund meines gebrochenen Herzens. Sagen Sie mir, was ich tun soll, und ich werde nicht zurückschrecken!« Van Helsing legte ihm die Hand auf die Schulter und antwortete:

»Tapferer Junge! Es braucht nur einen kurzen Augenblick Mut, dann ist alles vorüber. Dieser Pfahl hier muss ihr durchs Herz getrieben werden. Es wird eine furchtbare Tortur, darüber wollen wir uns nicht täuschen, aber es wird nur kurze Zeit dauern, und Ihre Freude danach wird größer sein als der Schmerz. Wenn Sie dieses unheimliche Grab wieder verlassen, wird es Ihnen vorkommen, als atmeten Sie Himmelsluft. Sie dürfen allerdings keinesfalls zögern, wenn Sie einmal begonnen haben. |314|Denken Sie daran, dass wir, Ihre Freunde, bei Ihnen sind und ununterbrochen für Sie beten werden.«

»Vorwärts«, sagte Arthur heiser, »sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Nehmen Sie diesen Pflock in Ihre Linke, die Spitze kommt über das Herz der Leiche. In die Rechte nehmen Sie den Hammer. Wenn wir mit dem Totengebet beginnen – ich habe das Buch hier, ich werde es lesen, und die anderen werden einstimmen –, dann schlagen Sie in Gottes Namen zu, auf dass die, die wir lieben, Frieden finde und nicht länger untot sei!«

Arthur ergriff den Pfahl und den Hammer, und da er fest entschlossen war, zitterten seine Hände nicht. Van Helsing schlug sein Messbuch auf und begann zu lesen, wobei Quincey und ich ihm nachsprachen, so gut wir es vermochten. Arthur setzte die Spitze auf das Herz des Leichnams, dass man die Vertiefung auf dem weißen Fleisch erkennen konnte. Dann schlug er mit aller Kraft zu.

Das Ding im Sarg krümmte sich zusammen, und ein grauenerregender Schrei kam aus den weit aufgerissenen Lippen. Der Körper wand sich, erzitterte und zuckte in wilden Krämpfen, die spitzen weißen Zähne hämmerten aufeinander, bis die Lippen zerfetzt waren, und aus dem Mund quoll blutroter Schaum. Arthur aber wich nicht zurück. Wie er den hammerbewehrten Arm unnachgiebig hob und niedersausen ließ und den gnadenbringenden Pfahl immer tiefer in die Untote hineintrieb, glich er dem nordischen Gott Thor. Das Blut quoll aus dem durchbohrten Herzen und spritzte weit umher, aber auf Arthurs Gesicht waren nur unerschütterliche Entschlossenheit und Pflichtbewusstsein zu erkennen. Sein Anblick gab auch uns Mut, und unsere Stimmen klangen laut durch das Grabgewölbe.

Dann ließen die krampfartigen Bewegungen des Leichnams nach, die Zähne schlugen nicht mehr aufeinander und das Zucken des Gesichtes hörte auf. Schließlich lag er still, die entsetzliche Tat war getan.

|315|Der Hammer fiel aus Arthurs Hand. Der tapfere Freund schwankte und wäre gefallen, wenn wir ihn nicht gehalten hätten. Große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und sein Atem kam in röchelnden Stößen aus der Brust. Es war in der Tat eine grauenvolle Aufgabe für ihn gewesen, und rein diesseitige Erwägungen hätten ihn sicher nicht dazu gebracht, sie auszuführen. Einige Minuten waren wir so mit ihm beschäftigt, dass wir keine Zeit fanden, nach dem Sarg zu sehen. Als wir uns schließlich wieder umblickten, gaben wir alle Ausrufe der Überraschung von uns. Unser Erstaunen war so groß, dass auch Arthur, der sich niedergesetzt hatte, sich vom Boden erhob und näher herantrat. Er sah auf den Sarg, und ein eigentümlich glückliches Leuchten breitete sich auf seinem Gesicht aus, das bis eben noch von Entsetzen verfinstert war.

Vor uns im Sarg lag nun nicht mehr das unheimliche, gefürchtete und verhasste Wesen, dessen Vernichtung ein jeder von uns als Privileg betrachtet hatte, zu dessen Ausführung wir alle bereit gewesen wären. Stattdessen lag Lucy da, so wie wir sie im Leben gekannt hatten, das Gesicht verklärt von lebendiger Schönheit und Reinheit. Es zeigte nun allerdings auch die Spuren der Krankheit und des Leides ihrer letzten Lebenswochen, aber auch diese Spuren waren uns teuer, denn sie bewiesen, dass wir hier wirklich Lucy vor uns hatten. Alle fühlten wir, dass die heilige Stille, die wie Sonnenschein über dem abgezehrten Gesicht und dem ganzen Leichnam lag, ein Symbol des ewigen Friedens war, den sie nun für immer erlangt hatte.

Van Helsing trat leise hinzu und sagte, indem er seine Hand auf Arthurs Schulter legte:

»Und nun, Arthur, mein Freund, lieber Junge, ist mir verziehen?«

Als Arthur die Hand des alten Professors ergriff, schien er erst die ganze Tragweite des Geschehenen zu begreifen. Er führte van Helsings Hand an die Lippen, küsste sie und sagte tief gerührt:

|316|»Es ist vergeben! Gott segne Sie dafür, dass Sie meiner lieben Braut ihre Seele und mir den Frieden wiedergegeben haben!« Dann legte er seinen Arm um die Schultern des Professors und seinen Kopf an dessen Brust, um dort für eine Weile still vor sich hinzuweinen. Wir anderen standen regungslos. Als er den Kopf schließlich wieder erhob, sagte van Helsing milde:

»Und nun, mein Junge, können Sie sie küssen. Küssen Sie die toten Lippen, sie hätte es sich gewünscht, wenn sie es noch gekonnt hätte. Sie ist jetzt kein grinsender Teufel mehr, kein auf alle Ewigkeiten verdammtes Wesen. Sie ist nicht länger mehr eine Untote des Teufels, sondern wahrhaft in Gott gestorben, und ihre Seele ist bei Ihm.«

Arthur beugte sich über die Tote und küsste sie, dann schickten wir Quincey mit ihm aus der Gruft. Der Professor und ich sägten das stumpfe Ende des Pfahles ab, die Spitze ließen wir im Körper stecken. Dann trennten wir das Haupt vom Leib und füllten den Mund mit Knoblauch. Schließlich verlöteten wir den Bleisarg, schraubten den Deckel wieder auf, packten alle unsere Sachen zusammen und entfernten uns ebenfalls. Van Helsing verschloss die Tür und übergab Arthur den Schlüssel.

Draußen war die Luft süß, die Sonne schien und die Vögel sangen – die ganze Natur schien freundlich gestimmt. Zufriedenheit, Ruhe und ein gemäßigtes Glücksgefühl zogen in unsere Herzen ein, denn wir hatten das uns gesteckte Ziel erreicht.

Bevor wir endgültig aufbrachen, erklärte van Helsing:

»Nun, liebe Freunde, ein Schritt zur Vollendung unseres Werkes ist getan, und zwar der für uns schmerzhafteste. Aber es bleibt uns noch eine weit schwierigere Aufgabe: den Urheber all dieses Leides ausfindig zu machen und ihn zu vernichten. Ich habe schon Spuren, denen wir folgen können, aber, wie gesagt, es ist eine schwierige und langwierige Aufgabe. Viele Gefahren und Schrecken liegen vor uns. Wollen Sie mir behilflich sein? Wir haben alle zu glauben gelernt, nicht wahr? Und da dies so ist, sollten wir da nicht auch unsere Pflicht erkennen und sie annehmen? |317|Doch! Wir wollen einander versprechen, zusammenzuhalten bis zum Äußersten!«

Wir legten, einer nach dem anderen, unsere Rechte auf seine Hand, und der Bund war geschlossen. Im Weggehen sagte der Professor:

»Übermorgen Abend werden wir wieder zusammenkommen und um sieben Uhr bei Freund John speisen. Ich werde noch zwei andere mitbringen, zwei, die Sie bis jetzt noch nicht kennen. Ich werde Ihnen dann unser ganzes Werk darlegen und Ihnen meine Pläne entwickeln. Freund John, Sie kommen bitte jetzt noch mit mir, denn ich habe vieles vorzubereiten, wobei Sie mir helfen können. Heute Abend fahre ich nach Amsterdam, morgen Abend aber werde ich wieder zurück sein. Dann beginnt die große Suche! Vorab allerdings muss ich Sie noch in einiges einweihen, damit Sie wissen, was wir zu tun und was wir zu fürchten haben. Dann wollen wir unser Versprechen von vorhin noch einmal erneuern, denn es stehen uns schreckliche Dinge bevor. Da wir aber nun bereits begonnen haben, können wir nicht mehr zurück.«