|438|DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

3. Oktober

Die Zeit, während wir auf die Rückkehr von Godalming und Quincey Morris warteten, schien uns schrecklich lang. Der Professor bemühte sich, unsere Aufmerksamkeit rege zu erhalten, indem er uns ständig beanspruchte.

Ich erkannte seine wohlmeinende Absicht aus den Seitenblicken, die er von Zeit zu Zeit auf Harker warf. Der arme Kerl ist in geradezu beängstigender Weise von seinem Schmerz überwältigt. Gestern Nacht noch war er ein freimütiger, glücklich aussehender Mann mit jugendlichem Antlitz, dunkelbraunem Haar und voller Energie – heute ist er ein gezeichneter, verhärmter älterer Herr, dessen weißes Haar gut zu den tiefliegenden Augen und den Leidensfalten seines Gesichtes passt. Seine Energie ist jedoch noch vorhanden, er kommt mir vor wie eine lodernde Flamme. Wahrscheinlich ist das seine Rettung, und im besten Falle wird es ihm über die Zeit der schlimmsten Verzweiflung hinweghelfen, bis er irgendwann wieder zum wirklichen Leben zurückzukehren vermag. Armer Bursche, ich hielt mein eigenes Leid schon für schlimm genug, aber verglichen mit ihm … Der Professor war sich dessen wohl bewusst, und er tat sein Möglichstes, Harker nicht ins Grübeln geraten zu lassen. Das, was er erzählte, war für uns unter den gegebenen Verhältnissen von größtem Interesse. Ich will es niederschreiben, so weit ich mich noch entsinnen kann:

»Ich habe mehrfach sämtliche, mir über dieses Monster zur Verfügung stehenden Texte studiert, und je tiefer ich in die Materie eingedrungen bin, desto fester wurde meine Überzeugung, |439|dass es ausgemerzt werden muss. Es existieren deutliche Anzeichen dafür, dass es erstarkt und sich ausbreitet, und neben seiner Macht nimmt auch sein Bewusstsein der eigenen Stärke zu. Wie ich aus den Forschungsergebnissen meines Freundes Arminius in Budapest entnehmen konnte, war Dracula in seinem Leben ein erstaunlicher Mann, ein Soldat, Staatsmann und Alchemist, wobei die Alchemie damals die höchste Entwicklungsstufe der Wissenschaft darstellte. Er besaß einen mächtigen Verstand, verfügte über unvergleichliche Erfahrungen und hatte ein Herz, das weder Furcht noch Reue kannte. Er wagte es sogar, sich an die Scholomance1 zu begeben, wo es keinen Zweig des Wissens seiner Zeit gab, in dem er sich nicht versuchte. Die Fähigkeiten seines Geistes überlebten seinen physischen Tod, wenn es auch so aussieht, als wäre sein Gedächtnis nicht immer ganz lückenlos. In einigen geistigen Dingen war er stets ein Kind, und er ist es noch immer. Andererseits wächst er auch, und so manches, was bei ihm einst kindisch war, hat nun die Stufe eines erwachsenen Mannes erreicht. Er experimentiert, probiert herum, und er macht dies sehr geschickt. Wenn wir nicht zufällig seinen Weg gekreuzt hätten, so würde er jetzt der Vater oder Förderer einer neuen Rasse sein, deren Weg den Tod durchschreitet, nicht das Leben. Und wenn wir versagen, wird er dies tatsächlich!«

Harker stöhnte: »Und all dies tritt nun gegen meine liebe Frau an! Aber auf welche Weise probiert er herum, wie sammelt er seine Erfahrungen? Vielleicht gibt es hier etwas, das uns hilft, ihn zurückzuschlagen!«

»Die ganze Zeit seit seiner Ankunft ist er schon damit beschäftigt, seine Kräfte zu erproben und sich in unserer Welt zurechtzufinden; sein großes Kinderhirn arbeitet. Zu unserem Glück ist es aber trotz allem noch immer ein Kinderhirn, denn hätte er von Anfang an gewagt, gewisse Dinge zu vollbringen, so wäre er längst jenseits unserer Möglichkeiten. Jedenfalls will er |440|seine Ziele erreichen, und als ein Mann, der noch Jahrhunderte vor sich hat, kann er es sich leisten, langsam vorzugehen und zu warten. ›Festina lente‹2 könnte sein Wappenspruch sein.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Harker erschöpft. »Bitte werden Sie deutlicher, wahrscheinlich hindern mich Schmerz und Sorgen am Denken.« Der Professor legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und sprach weiter:

»Ja, mein Junge, ich werde mich klarer ausdrücken: Sehen Sie nicht auch, wie dieses Monster sich sein Wissen auf experimentelle Weise aneignet, indem es Dinge einfach ausprobiert? Der Graf hat den Zoophagus-Patienten benutzt, um in das Haus unseres Freundes John zu gelangen, denn der Vampir muss ja beim ersten Kommen von einem Bewohner zum Eintreten aufgefordert werden, um danach dann beliebig ein und aus gehen zu können. Dies gehört aber nicht zu seinen neuen Erfahrungen, lassen Sie mich daher ein anderes Beispiel nehmen: Haben wir nicht gesehen, dass er anfänglich alle Kisten von anderen transportieren ließ? Er glaubte damals schlicht, das müsse eben so sein. Doch weil sein großes Kinderhirn wuchs und lernte, begann er sich zu fragen, obernichtauch selbst so eine Kiste tragen könnte. Er begann also mit zuzupacken, und dann, als er bemerkte, dass er dies konnte, trug er sie auch alleine. Und so wird er nun die Absicht haben, seine Särge selbstüber die ganze Stadt zu verteilen, sodass niemand außer ihm ihre Verstecke kennt. Wahrscheinlich plant er, sie tief in die Erde zu versenken, um sie nur des Nachts oder zu den Zeiten zu benutzen, in denen er seine Gestalt wechseln kann. So würde niemand je herausfinden können, wo seine Schlupfwinkel sind. Aber verzweifeln Sie nicht, mein Freund, diese Idee ist ihm nämlich erst viel zu spät gekommen. Bis auf eine letzte sind alle seine Ruhestätten für ihn ja schon unbrauchbar gemacht, und die fehlende Kiste werden wir bis Sonnenuntergang auch sterilisiert haben. Dann hat er keinen Ort mehr, zu dem er flüchten und wo er sich verstecken kann. Ich |441|mahnte Sie heute Morgen zur Ruhe, damit wir unserer Sache nun umso sicherer sein können, denn steht für uns nicht ungleich mehr auf dem Spiel als für ihn? Also müssen wir auch noch weitaus vorsichtiger sein als er selbst. Auf meiner Uhr ist es jetzt eins; wenn alles gut gegangen ist, befinden sich unsere Freunde Arthur und Quincey schon wieder auf dem Rückweg. Sind sie erst wieder da, so können wir immerhin fünf Männer gegen unseren Feind aufbieten!«

Plötzlich wurde unser Gespräch durch ein Geräusch an der Haustür unterbrochen, wir erschraken zutiefst, aber dann erkannten wir am doppelten Klopfen, dass es ein Eilbote sein musste. Wir begaben uns gemeinsam in die Eingangshalle, und van Helsing ging, uns mit einer Geste zum Schweigen auffordernd, zur Tür und öffnete. Draußen stand tatsächlich ein Depeschenbote, der dem Professor ein Telegramm aushändigte. Van Helsing schloss die Tür wieder, schaute kurz auf die Adresse, riss den Umschlag auf und las laut:

»Warnung vor D.! Er hat eben gerade (12:45 Uhr) Carfax verlassen und eilt jetzt nach Süden. Er scheint seine Runde zu machen, vielleicht ist er hinter Ihnen her. Mina«

Es entstand eine kurze Pause, die Jonathan Harker beendete:

»Gott sei Dank, dann werden wir ihn ja wohl bald treffen!«

Van Helsing wandte sich rasch zu ihm um und entgegnete:

»Gott fügt die Dinge auf seine eigene Weise und wann es ihm gefällt. Fürchten oder freuen wir uns jetzt noch nicht, denn das, was wir uns jetzt wünschen, ist vielleicht später unser Verderben.«

»Mir ist alles andere gleichgültig«, antwortete Harker erregt, »ich habe nur den einen Wunsch: dieses Vieh vom Angesicht der Erde zu tilgen. Für dieses Ziel würde ich sogar meine Seele verkaufen!«

»Oh, still, still, mein Junge!«, sagte van Helsing. »Gott schachert nämlich nicht in dieser Weise mit Seelen, und der Teufel tut es zwar, aber er hält nicht Wort. Gott aber ist gnädig und gerecht. Er kennt Ihren Schmerz und Ihre Hingabe für die liebe Madame |442|Mina. Bitte denken Sie daran, wie sehr es ihr Leid vergrößern würde, solche wilden, unüberlegten Worte von Ihnen zu hören. Fürchten Sie nicht, dass auch nur einer von uns unserer Sache untreu werden könnte; wir haben das Ziel fest im Auge, und der heutige Tag soll das Ende sehen. Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Heute ist dieser Vampir auf menschliche Kräfte beschränkt, denn bis zum Sonnenuntergang kann er sich nicht verwandeln. Es wird ihn Zeit kosten, hierherzukommen – lassen Sie mich nachsehen: Jetzt ist es zwanzig Minuten nach eins, da bleibt noch etwas Zeit, bis er frühestens hier sein kann, denn er ist nicht der Schnellste. Wir müssen nun darauf hoffen, dass Quincey und unser Lord Arthur zuerst eintreffen.«

Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir Mrs. Harkers Telegramm erhalten hatten, ließ sich ein energisches Klopfen an der Haustür vernehmen. Es war lediglich ein gewöhnliches Klopfen, wie es zu jeder Stunde an Tausenden von Londoner Türen zu hören ist, aber dennoch pochten unsere Herzen zum Zerspringen. Wir sahen einander an, gingen zusammen wieder auf den Flur hinaus und hielten unsere Waffen griffbereit – die weltlichen in der Rechten, die übernatürlichen in der Linken. Van Helsing entriegelte die Tür und gab ihr einen leichten Stoß, sodass sie alleine aufschwang; er aber ging einige Schritte zurück, um mit beiden Händen sofort einsatzbereit zu sein. Die Freude unserer Herzen musste sich deutlich auf unseren Gesichtern gezeigt haben, als wir draußen auf der Treppe Lord Godalming und Quincey Morris erblickten. Schnell kamen die beiden herein und schlossen die Tür hinter sich. Während wir dann durch die Eingangshalle gingen, sagte Lord Godalming:

»Alles in Ordnung: Wir haben beide Häuser gefunden, sechs Kisten pro Haus, alle zerstört!«

»Zerstört?«, fragte der Professor.

»Nun, für ihn unbrauchbar gemacht.« Für eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Quincey:

»Jetzt können wir nichts anderes tun als warten. Wenn er allerdings |443|bis fünf Uhr noch nicht hier aufgetaucht sein sollte, dann müssen wir gehen, denn wir können Mrs. Harker nach Sonnenuntergang nicht mehr alleine lassen.«

»Er wird bald hier sein«, sagte van Helsing, der sein Notizbuch zu Rate gezogen hatte. »Nota bene3, laut Madame Minas Telegramm hat er sich von Carfax aus nach Süden gewandt, das bedeutet, er musste über den Fluss. Diesen kann er aber nur bei Gezeitenwechsel überqueren, also kurz vor eins. Dass er nach Süden ging, ist für uns von Bedeutung. Als er Carfax verließ, war er nämlich nur argwöhnisch, und er ging zunächst an den Ort, an dem er am wenigsten mit einer Störung rechnete. Sie beide müssen nur ganz knapp vor ihm in Bermondsey gewesen sein. Dass er jetzt noch nicht hier ist, zeigt uns, dass er sich als Nächstes nach Mile End begeben hat. Das hat ihn wieder Zeit gekostet, denn er musste sich dazu irgendwie über den Fluss bringen lassen. Glauben Sie mir, liebe Freunde, wir werden nicht mehr allzu lange zu warten haben. Wir sollten uns einen Angriffsplan zurechtlegen, damit wir das Überraschungsmoment nicht verschenken … Halt, es ist zu spät! Haben Sie alle Ihre Waffen parat? Achtung!« Er hielt bei seinen letzten Worten seine Hand warnend empor, und wir alle konnten den Schlüssel hören, der sich vorsichtig im Schloss der Eingangstür drehte …

Selbst in diesem Augenblick konnte ich nicht umhin, den Automatismus zu bewundern, mit dem sich ein dominanter Geist durchsetzt. Bei allen unseren Jagdausflügen und Abenteuern in den verschiedensten Weltteilen hatte Quincey Morris immer die Pläne gemacht, während Arthur und ich uns schnell daran gewöhnt hatten, ihm blind zu folgen. Jetzt schien diese alte Gewohnheit wieder in uns dreien aufzubrechen: Quincey blickte sich rasch im Zimmer um und hatte sich augenblicklich einen Schlachtplan zurechtgelegt. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, wies er jedem von uns durch Winke seinen Platz zu. Van Helsing, |444|Harker und ich wurden direkt hinter der offenen Tür postiert, sodass der Professor diese gleich nach dem Eintreten des Ankömmlings zuwerfen konnte, während wir anderen beiden uns auf den Eintretenden werfen sollten. Godalming versteckte sich etwas weiter hinten, Quincey etwas weiter vorne. Beide waren darauf vorbereitet, den Weg zum Fenster zu versperren. So warteten wir in höchster Anspannung, und die Sekunden schlichen mit der Zähigkeit eines Albtraumes dahin. Aus der Eingangshalle waren jetzt langsame, vorsichtige Schritte zu vernehmen – offenbar war der Graf auf eine Überraschung gefasst, zumindest aber befürchtete er etwas.

Plötzlich sprang er mit einem riesigen Satz in die Mitte des Zimmers; er war so schnell an uns vorbei, dass wir keine Gelegenheit hatten, auch nur die Hand nach ihm auszustrecken. Es lag etwas Pantherhaftes in dieser Bewegung, etwas Nichtmenschliches, aber wir erholten uns dennoch augenblicklich vom Schock seines so plötzlichen Erscheinens. Der Erste, der handelte, war Harker; er warf sich augenblicklich zwischen die Tür und den Grafen. Als dieser uns erblickte, verzog sich sein Gesicht zu einer höhnischen Fratze, und wir konnten seine langen, spitzen Zähne sehen. Dann machte sein böses Grinsen einem kalten, löwenartigen Blick der Verachtung Platz, der aber nur bis zu dem Augenblick anhielt, in dem wir alle zugleich auf ihn zustürzten. Leider hatten wir uns vorab keinen Angriffsplan mehr zurechtlegen können, und so fragte ich mich noch im Moment unseres Vorstürmens, was eigentlich zu geschehen hätte. Ich wusste nicht einmal, ob uns unsere weltlichen Waffen etwas nützen würden. Harker schien diese Frage jedoch augenblicklich klären zu wollen, denn er hatte sein großes Gurkha-Messer4 im Anschlag und führte einen plötzlichen, kräftigen Stoß nach dem Grafen. Es war eine mächtige Attacke, und der Graf entging ihr nur dadurch, |445|dass er einen teuflisch schnellen Sprung nach hinten tat – nur einen Augenblick später hätte ihm die scharfe Klinge das Herz durchbohrt. So aber traf der Stoß lediglich seinen Mantel, den er weit aufschlitzte, wodurch ein Bündel Banknoten und eine große Anzahl Goldmünzen herausfielen. Der Gesichtsausdruck des Grafen wurde nun so diabolisch, dass ich einen Augenblick um Harker fürchtete, obgleich ich sah, dass dieser das schreckliche Messer bereits für einen zweiten Stoß erhoben hatte. Von dem Impuls getrieben, Harker zu schützen, trat nun auch ich näher heran, Kruzifix und Hostie in der hoch erhobenen Linken. Ich fühlte dabei eine mächtige Kraft durch meinen Arm rinnen, und es überraschte mich nicht, dass das Monster bei jedem Schritt zurückwich, den ich oder ein anderer von uns in dieser Weise gegen ihn machte. Es ist unmöglich, die Mischung aus Hass und verwirrter Bosheit, aus Wut und teuflischer Raserei zu beschreiben, die sich auf dem Gesicht des Grafen zeigte. Seine wachsartige Farbe nahm im Kontrast zu den rotglühenden Augen einen grüngelben Ton an, und die rote Narbe auf seiner Stirn wurde zu einer pulsierenden Wulst. Als Harker zustieß, duckte sich der Graf katzenartig zusammen und huschte unter dem Messer hindurch. Im Sprung eine Handvoll der auf dem Boden liegenden Goldmünzen zusammenraffend, schoss er darauf quer durch das Zimmer aufs Fenster zu, das Glas klirrte und splitterte, und der Graf stürzte auf den gepflasterten Hof. Durch das Prasseln der Glasscherben hindurch konnte ich das Scheppern der Goldmünzen vernehmen, die er beim Sprung verloren hatte.

Wir eilten ans Fenster und sahen, wie er unverletzt wieder aufsprang. Er hastete über das Pflaster des Hofes und stieß das Stalltor auf. Dort dreht er sich nach uns um und rief:

»Ihr glaubt, ihr könntet mich überlisten? Ihr bleichen Gesichter, aufgereiht wie die Schafe beim Schlachter! Das werdet ihr bereuen, jeder Einzelne von euch! Ihr glaubt, ihr habt mir meine Ruheplätze genommen? Ich habe noch viele! Meine Rache hat erst begonnen. Ich habe sie über die Jahrhunderte verteilt, und |446|die Zeit ist auf meiner Seite. Eure Frauen, die ihr alle geliebt habt, gehören jetzt schon mir. Durch sie werde ich euch und zahllose andere zu meinen Kreaturen machen, die meinen Befehlen gehorchen, und zu meinen Aasfressern, wenn ich speise!« Unter höhnischem Gelächter verschwand er darauf durch das Tor, und wir hörten den rostigen Riegel kreischen, mit dem er hinter sich absperrte. Dann vernahmen wir etwas leiser und aus der Entfernung das Öffnen und Schließen einer weiteren Tür, bevor es still war. Der Erste, der von uns die Sprache wiederfand, war der Professor. Er rief:

»Da haben wir also wieder etwas gelernt, und sogar sehr viel! Trotz seiner großen Worte fürchtet er uns, er fürchtet die Zeit, er fürchtet deren Mangel. Wenn das nicht so wäre, warum sollte er so eilen? Seine eigenen Worte haben ihn verraten, oder ich will meinen Ohren nicht mehr trauen. Sogar Geld hat er noch mitgenommen! Schnell, verfolgen Sie ihn, jagen Sie ihn wie ein wildes Tier, davon verstehen Sie doch etwas! Ich werde unterdessen dafür sorgen, dass er hier nichts Brauchbares mehr vorfindet, sollte er zurückkehren.« Darauf begann er, das auf dem Boden liegende Geld einzusammeln und es in seine Tasche zu stecken. Dann nahm er die Kaufverträge an sich und warf alle übrigen Sachen in den Kamin, um sie zu verbrennen.

Godalming und Morris waren unterdessen in den Hof gelaufen, und Harker hatte sich aus dem Fenster hinuntergelassen. Der Graf hatte das Stalltor fest verriegelt, und als sie es endlich aufgebrochen hatten, fanden sie keine Spur mehr von ihm vor. Van Helsing und ich suchten darauf die Rückseite des Hauses ab, aber die Ställe waren verlassen, und niemand hatte ihn entkommen sehen.

Es war mittlerweile später Nachmittag geworden, bald ging die Sonne unter. Wir mussten uns eingestehen, dass unser Spiel für heute zu Ende war. Mit schweren Herzen gaben wir dem Professor recht, als er sagte:

»Lassen Sie uns zu Madame Mina zurückkehren – arme, liebe |447|Madame Mina! Alles, was wir hier noch tun konnten, ist getan. Dort aber können wir noch etwas ausrichten, nämlich sie beschützen. Wir wollen nicht verzweifeln! Es ist nur noch eine einzige Kiste übrig, und wir werden sie finden. Wenn dies geschehen ist, dann ist alles gut.« Ich sah, dass er so zuversichtlich sprach, wie er nur konnte, um Harker zu trösten. Der arme Mann war so niedergeschlagen, dass er noch nicht einmal sein beständiges Seufzen unterdrücken konnte – er dachte sicher an seine Frau.

Mit traurigen Herzen kehrten wir in mein Haus zurück, wo uns Mrs. Harker erwartete. Sie trug eine frohe Miene zur Schau, die ihrem Mut und ihrer Selbstlosigkeit alle Ehre machte. Als sie jedoch unsere Gesichter sah, wurde sie blass wie der Tod, und sie schloss für ein oder zwei Sekunden die Augen wie im Gebet. Dann öffnete sie sie wieder und sagte freundlich:

»Ich kann Ihnen allen niemals genug danken. Oh, mein armer Liebling …« – sie ergriff die blasse Hand ihres Mannes und küsste sie – »lege dein müdes Haupt hierher und ruhe aus. Alles wird am Ende gut werden, Liebster. Gott wird uns beschützen, denn er ist gütig!« Der arme Kerl aber stöhnte nur, in seinem einzigartigen Leid gab es keinen Platz mehr für Worte.

Wir nahmen rasch unser Abendbrot ein, und ich muss sagen, es munterte uns auf. Vielleicht war es der Heißhunger der Erschöpfung, denn keiner von uns hatte seit dem ersten Frühstück einen Bissen über die Lippen gebracht, vielleicht war es aber auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Jedenfalls fühlten wir uns nach dem Essen alle etwas weniger elend, und wir sahen dem kommenden Morgen nicht ganz ohne Hoffnung entgegen. Getreu unserem Versprechen erzählten wir Mrs. Harker alles, was sich ereignet hatte. Und obwohl sie schneeweiß wurde, als sie hörte, in welcher Gefahr sich ihr Gatte befunden hatte, und rot, wenn von seiner Aufopferung die Rede war, lauschte sie doch tapfer und ruhig unseren Worten. Als die Rede darauf kam, wie bedenkenlos Harker sich auf den Grafen gestürzt hatte, klammerte |448|sie sich an den Arm ihres Mannes und hielt ihn fest, als könnte sie ihn dadurch vor allen kommenden Gefahren bewahren. Sie selbst sagte aber kein Wort, bevor sie nicht über alles unterrichtet war. Dann stand sie auf, ohne die Hand ihres Gatten loszulassen, und begann zu sprechen. Oh, wenn ich diese Szene doch beschreiben könnte, diese wundervolle, gute Frau in der strahlenden Schönheit ihrer Jugend und in all ihrer Lebendigkeit, mit der roten Narbe auf der Stirn, die sie niemals vergaß und die wir mit Zähneknirschen ansahen, da auch wir nicht vergessen konnten, wann und warum sie entstanden war. Mrs. Harker war voller Freundlichkeit und Liebe, wir aber waren erfüllt von grimmigem Hass. Ihr Vertrauen und ihr Glaube standen unseren Befürchtungen und Zweifeln gegenüber. Und dennoch war sie es, die, wenn die Symbole nicht lügen, in all ihrem Gottvertrauen, ihrer Reinheit und Güte von Gott verstoßen war.

»Jonathan«, begann sie, und das Wort klang auf ihren Lippen wie Musik, so erfüllt war es von Liebe und Zärtlichkeit, »liebster Jonathan, und Sie alle, meine treuen, wahren Freunde! Ich bitte Sie, in dieser schrecklichen Zeit eines nicht aus den Augen zu verlieren. Ich weiß, dass Sie das Ungeheuer bekämpfen, dass Sie es vernichten müssen, wie Sie auch die falsche Lucy vernichten mussten, um der wirklichen Lucy das ewige Leben zu geben. Aber dies darf kein Werk des Hasses sein! Die arme Seele, die all dieses Leid hervorgebracht hat, ist ja selbst am schlimmsten dran. Bitte stellen Sie sich einmal vor, wie unendlich glücklich diese Seele sein muss, wenn ihr böser Teil zugunsten des edleren vernichtet ist und sie endlich in die Ewigkeit eingehen kann! Wenn es Ihre Hände auch keinesfalls davon abhalten darf, ihn zu vernichten, so müssen Sie trotzdem Mitleid mit ihm haben.«

Während ihrer Worte konnte ich erkennen, wie sich das Gesicht ihres Mannes immer mehr verfinsterte. Es schien, als ob die in ihm brodelnde Leidenschaft seine ganze Gestalt auf ihren Kern zusammenzog. Unwillkürlich wurde sein Griff fester, und er drückte die Hand seiner Frau so stark, dass seine Knöchel dabei |449|weiß wurden. Sie aber zuckte nicht einmal mit der Wimper unter diesem Schmerz, den sie zweifellos empfinden musste, sondern blickte ihn mit Augen an, die flehender waren als jemals zuvor. Als sie mit ihrem Appell geendet hatte, sprang er auf die Füße, sodass ihre Hand beinahe der seinen entglitt, und entgegnete:

»Gott möge ihn mir wenigstens so lange in die Hände geben, dass ich sein irdisches Dasein vernichten kann, auf das wir es ja abgesehen haben. Wenn ich darüber hinaus aber auch seine Seele für alle Ewigkeiten ins brennende Höllenfeuer schleudern könnte – ich würde nicht zögern!«

»Oh, still, still! In Gottes Namen! Sage nicht solche Dinge, Jonathan, mein Gatte, du bringst Furcht und Schrecken über mich! Glaube mir, Liebster, ich habe heute den ganzen langen Tag darüber nachgedacht, dass … vielleicht … eines Tages … auch ich ein solches Mitleid nötig haben könnte, und dass ein anderer es mir dann verweigern könnte – mit dem gleichen Recht, wie du es jetzt für dich beanspruchst. Oh, mein geliebter Mann, wie gerne hätte ich dir diesen Gedanken erspart, wenn es denn einen anderen Weg gegeben hätte. Ich bete, dass Gott deine unbedachten Worte nicht auf die Waagschale legt, dass er sie als die Klage des gebrochenen Herzens eines leidgeprüften Mannes nimmt. Oh Gott, lass diese armen weißen Haare dafür Zeugnis ablegen, was er gelitten hat, der sein ganzes Leben nichts Unrechtes getan hat und über den so viel Leid hereingebrochen ist!«

Uns Männern standen die Tränen in den Augen, und als wir sie nicht mehr zu unterdrücken vermochten, weinten wir offen. Auch sie weinte, als sie sah, dass ihr Bitten nicht ohne Erfolg war. Ihr Mann sank neben ihr auf die Knie, schlang seine Arme um sie und verbarg sein Gesicht in den Falten ihres Kleides. Van Helsing gab uns ein Zeichen, und wir stahlen uns aus dem Raum, die beiden liebenden Herzen mit ihrem Gott allein lassend.

Bevor die Harkers sich schließlich zur Ruhe begaben, riegelte der Professor ihr Zimmer gegen das Eindringen des Vampirs ab und versicherte Mrs. Harker, dass sie friedlich schlafen könne. |450|Sie zwang sich dazu, ihm zu glauben, und gab sich – offensichtlich aus Rücksicht auf ihren Gatten – den Anschein von Zuversicht. Es war dies sicher ein harter innerer Kampf für sie, aber ich glaube, er war nicht ohne Erfolg. Van Helsing hatte jedem von ihnen eine Handglocke hingestellt, um uns im Notfall rufen zu können. Als sie sich zurückgezogen hatten, verständigte ich mich mit Quincey und Godalming über eine Nachtwache. Wir teilten die Stunden unter uns auf, um über die arme, geschlagene Lady zu wachen. Die erste Wache fiel auf Quincey, daher werden wir Übrigen so rasch wie möglich ins Bett gehen. Godalming ist gerade verschwunden, denn er hat die zweite Wache. Nun, da meine Arbeit getan ist, werde ich auch gehen.

 

Jonathan Harkers Tagebuch

 

3./4. Oktober, kurz vor Mitternacht

Der vergangene Tag schien nicht enden zu wollen. Ich sehnte mich nach Schlaf, denn ich hatte den blinden Glauben, dass nach dem Aufwachen alle Dinge anders sein würden, und dass jede Veränderung eine Veränderung zum Besseren wäre. Bevor wir auseinandergingen, diskutierten wir noch unsere nächsten Schritte, aber wir kamen zu keinem Ergebnis. Alles, was wir wussten, war, dass uns noch eine Kiste mit Erde fehlte. Deren Ort aber war nur dem Grafen bekannt. Wenn er sich dazu entschließen sollte, in seinem Versteck einfach liegen zu bleiben, so könnte er uns über Jahre in Ungewissheit lassen, und in der Zwischenzeit … Nein, das wäre zu schrecklich, ich wage noch nicht einmal jetzt daran zu denken. Eines weiß ich aber: Wenn es je eine vollkommene Frau gegeben hat, dann ist dies mein armer, zu Unrecht gestrafter Liebling. Ich liebe sie für ihr süßes Mitleid gestern Abend noch hundertmal mehr, ein Mitleid, das meinen eigenen Hass gegenüber diesem Monster jämmerlich erscheinen lässt. Gott wird nicht zulassen, dass die Welt durch den Verlust |451|eines solchen Geschöpfes wie Mina verarmt. Daraus schöpfe ich Hoffnung. Wir alle treiben nun auf Klippen zu, und der Glaube ist unser einziger Anker. Gott sei Dank, Mina schläft, und sie schläft traumlos. Ich fürchte mich, mir vorzustellen, was sie auf der Grundlage so schrecklicher Erinnerungen träumen könnte. Seit Sonnenuntergang ist sie nun ruhig. Vorhin lag für einen kurzen Moment so etwas wie Frieden auf ihrem Gesicht, es war wie der endlich anbrechende Frühling nach den Stürmen des März. Zuerst dachte ich, es wäre das weiche, rote Licht der untergehenden Sonne, aber nun glaube ich, dass es eine tiefere Bedeutung haben muss. Ich selbst bin nicht eigentlich müde, aber ich bin erschöpft, zu Tode erschöpft. Ich muss daher versuchen zu schlafen, denn morgen geht es weiter, und es wird keine Ruhe geben bis …

 

Später

Ich muss eingeschlafen sein, denn ich wurde von Mina geweckt, die aufrecht im Bett saß und sich verwirrt umblickte – ich konnte sie genau erkennen, denn wir hatten das Zimmer nicht verdunkelt. Sie legte ihre Hand warnend auf meinen Mund und flüsterte mir ins Ohr:

»Pst, es ist jemand auf dem Korridor!« Ich stand leise auf, durchquerte das Zimmer und öffnete vorsichtig die Tür.

Draußen lag, auf einer Matratze ausgestreckt, Mr. Morris, vollkommen wach. Er erhob ebenfalls als Mahnung zur Stille die Hand und flüsterte:

»Gehen Sie nur zu Bett, es ist alles in Ordnung. Einer von uns ist immer hier, die ganze Nacht über. Wir wollen kein Risiko eingehen!«

Sein Blick und seine Gesten untersagten eine Diskussion, deshalb ging ich zu Mina zurück und berichtete ihr. Sie seufzte, aber es flog auch der Schimmer eines Lächelns über ihr armes, blasses Gesicht. Ihre Arme um mich schlingend flüsterte sie:

»Wie danke ich Gott für diese guten, mutigen Männer!« Mit |452|einem Seufzer sank sie darauf in den Schlaf zurück. Ich schreibe dies, da ich keinen Schlaf finde, aber ich muss es erneut versuchen.

 

4. Oktober, morgens

Noch einmal wurde ich in dieser Nacht durch Mina geweckt. Dieses Mal aber mussten wir schon einige Stunden geschlafen haben, denn im Grau des erwachenden Tages hoben sich die Rechtecke der Fenster bereits scharf von der Wand ab, und die Gasflamme leuchtete eher als Fünkchen denn als ein volles Licht. Mina sagte hastig:

»Geh, hole den Professor. Ich muss ihn sofort sprechen!«

»Warum?«, fragte ich.

»Ich habe eine Idee. Ich glaube, sie ist mir über Nacht gekommen und ohne mein Zutun gereift. Er soll mich noch vor dem Sonnenaufgang hypnotisieren, dann werde ich etwas sagen können. Eile dich, Liebster, die Zeit wird knapp!« Ich ging zur Tür. Auf der Matratze lag jetzt Dr. Seward, der sofort aufsprang, als er mich erblickte.

»Ist etwas geschehen?«, fragte er erregt.

»Nein«, erwiderte ich, »aber Mina möchte sofort Dr. van Helsing sprechen.«

»Ich werde ihn holen«, sagte er und eilte ins Zimmer des Professors.

Zwei oder drei Minuten später trat van Helsing in seinem Morgenmantel in unser Zimmer, und Mr. Morris und Lord Godalming standen bei Dr. Seward an der Tür und bedrängten diesen mit Fragen. Als der Professor Mina sah, machte die Angst in seinem Gesicht einem Lächeln Platz. Er rieb sich die Hände und sagte:

»Oh, meine liebe Madame Mina, das ist in der Tat eine Veränderung! Sehen Sie doch nur, Freund Jonathan, wir haben heute unsere liebe Madame Mina zurück, ganz wie wir sie kennen!« Dann wandte er sich zu ihr und fragte freudig: »Was darf ich für |453|Sie tun? Zu einer solchen Stunde haben Sie mich ja sicher nicht ohne einen wichtigen Grund rufen lassen.«

»Ich möchte Sie bitten, mich zu hypnotisieren«, antwortete sie. »Und zwar, bevor es Tag wird, denn ich fühle, dass ich etwas zu sagen habe. Aber beeilen Sie sich, die Zeit ist knapp!« Ohne ein Wort zu erwidern, bedeutete er ihr durch einen Wink, sich im Bett aufzusetzen.

Dann fasste er sie fest ins Auge und begann, vor ihrem Gesicht mit seinen Händen gleichförmige Bewegungen zu vollführen, immer von oben nach unten, wobei sich seine Hände beständig abwechselten. Einige Minuten vergingen, während denen Mina ihn unverwandt anstarrte. Mein eigenes Herz schlug wie ein Hammerwerk, denn ich fühlte einen entscheidenden Moment herannahen. Langsam schlossen sich ihre Augen, und sie saß ganz steif da. Einzig die ruhige Bewegung ihrer Brust verriet, dass noch Leben in ihr war. Der Professor machte noch einige Handbewegungen, dann hielt er inne. Ich konnte erkennen, dass seine Stirn mit Schweißtropfen übersät war. Mina öffnete die Augen wieder, aber sie schien nicht mehr dieselbe Frau zu sein. Ihr Blick war wie in weite Ferne gerichtet, und ihre Stimme hatte einen traurigen, träumerischen Klang, der mir an ihr fremd war. Der Professor hob die Hand, um Stille zu gebieten, und machte mir ein Zeichen, die anderen hereinzuholen. Sie kamen auf Zehenspitzen, schlossen die Tür hinter sich und stellten sich am Fußende des Bettes auf – Mina schien sie gar nicht zu sehen. Van Helsing beendete das Schweigen mit leiser, tiefer Stimme, um den Fluss ihrer Gedanken nicht zu stören:

»Wo sind Sie?« Sie antwortete, ohne die geringste Regung zu zeigen:

»Ich weiß nicht. Der Schlaf hat keinen Platz, den er sein eigen nennen könnte.« Es folgten mehrere Minuten absoluter Stille. Mina saß aufrecht, der Professor fixierte sie mit starrem Blick, und der Rest von uns wagte kaum zu atmen. Im Zimmer wurde es immer heller; ohne seine Augen von Mina abzuwenden, |454|bedeutete mir van Helsing, die Vorhänge aufzuziehen. Ich tat es, und der Tag strömte herein. Der rote Horizont schickte sein rosiges Licht, das sich im Zimmer ausbreitete. In diesem Augenblick fragte der Professor wiederum:

»Wo sind Sie jetzt?« Ihre Antwort kam wie aus einem Traum, aber gleichwohl nicht ohne Bewusstsein. Es klang, als wolle sie etwas erklären. Ich kenne diesen Ton von ihr, wenn sie aus ihren stenografischen Notizen liest.

»Ich weiß nicht. Es ist mir alles fremd.«

»Was sehen Sie?«

»Ich kann nichts sehen, es ist alles dunkel.«

»Was hören Sie?« Trotz der geduldigen Stimme des Professors war seine Anspannung deutlich zu bemerken.

»Das Plätschern von Wasser. Es gluckert vorbei, kleine, hüpfende Wellen. Ich kann sie außen hören.«

»Dann sind Sie wohl auf einem Schiff?« Wir anderen sahen einander an und versuchten wechselseitig, unsere Gedanken zu erraten, denn wir fürchteten uns davor, selbst zu denken. Die Antwort kam schnell:

»Oh ja!«

»Was hören Sie noch?«

»Den Lärm von Männern, die über mir herumrennen. Tuch flattert, eine Kette rasselt, die Ankerwinde dreht sich klirrend.«

»Was tun Sie?«

»Ich bin still, oh, so still! Es ist wie der Tod!« Ihre Stimme verlor sich in einem tiefen Atemzug, ganz wie im Schlaf, und die geöffneten Augen fielen wieder zu.

Unterdessen war die Sonne aufgegangen, und wir standen im vollen Tageslicht. Dr. van Helsing legte seine Hände auf Minas Schultern und drückte sie sanft auf die Kissen zurück. Sie lag einige Sekunden ruhig wie ein schlafendes Kind, dann erwachte sie mit einem tiefen Seufzer und starrte uns verwundert an, die wir sie alle umstanden. »Habe ich im Schlaf gesprochen?«, fragte sie. Sie schien über die Situation ohne weitere Erklärungen im |455|Bilde zu sein, aber man merkte ihr an, dass sie wirklich nicht wusste, was sie gesagt hatte. Der Professor wiederholte ihr das Gespräch, und sie sagte:

»Dann ist kein Augenblick zu verlieren, vielleicht ist es noch nicht zu spät!« Mr. Morris und Lord Godalming wollten schon davoneilen, aber die ruhige Stimme des Professors hielt sie zurück:

»Halt, meine Freunde. Was für ein Schiff es auch sei, jedenfalls hat es die Anker bereits gelichtet, während sie sprach. In diesem Augenblick werden das wohl sehr viele Schiffe in Ihrem großen Londoner Hafen getan haben – welches von ihnen ist es denn, das Sie suchen? Seien wir zunächst einmal froh, dass wir wieder eine Spur haben, wenn wir auch noch nicht wissen, wohin sie uns führen wird. Wir müssen mit Blindheit geschlagen gewesen sein, mit menschlicher Blindheit, denn wenn wir jetzt zurückblicken, erkennen wir, was wir gesehen haben könnten, wären wir nur in der Lage gewesen zu sehen, was vor unseren Augen lag! – Dieser Satz verwirrt Sie, nicht wahr? Wir wissen jetzt, was der Graf vorhatte, als er das Geld vom Boden aufraffte, obgleich ihm durch Jonathans Messer eine Gefahr drohte, die selbst er zu fürchten schien: Er plante seine Flucht. Hören Sie? FLUCHT! Er hatte erkannt, dass dieses London kein Ort mehr für ihn sein konnte, mit nur einer einzigen Erdkiste und einer Meute von Männern auf seinen Fersen, die ihn jagen wie die Hunde den Fuchs. Er hat diese seine letzte Erdkiste an Bord eines Schiffes gebracht und verlässt das Land. Er meint uns entkommen zu können, aber nein: Wir folgen ihm! Tally Ho5, wie unser Freund Arthur sagt, wenn er seinen roten Jagdrock anzieht. Unser alter Fuchs ist sehr gerissen, und wir müssen bei seiner Verfolgung ebenfalls mit List vorgehen. Aber auch ich bin gerissen, und ich werde seine Gedanken bald erraten haben. Bis dahin können wir uns noch ausruhen, denn es trennen uns Wasser von ihm, die er wohl nicht mehr zu |456|überschreiten wünscht und die er auch nicht überschreiten könnte, selbst wenn er wollte, außer, das Schiff landete an. Und selbst dann ist er ja an die Gezeitenwende gebunden. Sehen Sie, die Sonne ist gerade erst aufgegangen, und der ganze Tag bis zum Sonnenuntergang gehört uns. Wir wollen baden, uns ankleiden und frühstücken, denn das haben wir alle dringend nötig. Und wir können unsere Mahlzeit genießen, denn er weilt nicht mehr im selben Land wie wir.« Mina sah ihn darauf flehend an und fragte:

»Aber warum müssen wir ihn denn noch weiter verfolgen, wenn er uns bereits verlassen hat?« Er ergriff ihre Hand und tätschelte sie, wobei er sagte:

»Fragen Sie jetzt nicht weiter. Wenn wir erst gefrühstückt haben, werde ich alle Ihre Fragen beantworten.« Da er nicht mehr sagen wollte, verließen wir den Raum, um uns anzukleiden.

Nach dem Frühstück wiederholte Mina ihre Frage. Er sah sie eine Weile ernst an und sagte dann bekümmert:

»Weil, meine liebe Madame Mina, wir ihn nun mehr als jemals zuvor finden müssen, und ginge es bis zu den Pforten der Hölle!« Sie wurde wieder blasser und fragte zaghaft:

»Und weshalb?«

»Weil«, antwortete er feierlich, »er noch Jahrhunderte vor sich hat, Sie aber eine sterbliche Frau sind. Seit er Ihnen sein Mal auf den Hals gedrückt hat, müssen wir die Zeit fürchten.«

Ich war gerade noch rechtzeitig zur Stelle, um die ohnmächtig Zusammenbrechende aufzufangen.