Dr. Sewards phonographisches Tagebuch,
gesprochen von van Helsing
Dies für Jonathan Harker.
Sie werden bei Ihrer lieben Frau Mina bleiben. Wir werden allein auf die Suche gehen, wenn wir es denn überhaupt eine Suche nennen wollen, denn wir kennen ja bereits seine Absichten und wollen unsere Kenntnisse also nur vertiefen. Sie aber bleiben heute hier und kümmern sich ausschließlich um Ihre Frau, das ist jetzt Ihre wichtigste Aufgabe und heiligste Pflicht. Er wird heute nicht mehr hier auftauchen. Lassen Sie mich auch Ihnen sagen, was ich den drei anderen Herren bereits mitgeteilt habe: Er, unser Feind, ist fort. Er kehrt auf seine Burg in Transsilvanien zurück. Ich bin mir dessen so sicher, als hätte es eine große Hand in glühenden Lettern an die Wand geschrieben. Er muss bereits in irgendeiner Weise darauf vorbereitet gewesen sein, denn die letzte Erdkiste stand ja schon irgendwo zur Verschiffung bereit. Darum nahm er das Geld, darum auch seine Eile: Wir durften ihn nicht noch vor Sonnenuntergang einfangen. Es war seine letzte Hoffnung, außer vielleicht, er hätte daran gedacht, sich in der Gruft der armen Miss Lucy zu verstecken, die er ja noch für seinesgleichen hält. Doch dafür blieb ihm nicht mehr genügend Zeit, und so eilte er zu seinem letzten Zufluchtsort, seinem letzten ›Erden-Werk‹, um einmal ein Wortspiel zu gebrauchen. Er ist schlau, sehr schlau! Er weiß, dass sein Spiel hier verloren ist, und so kehrt er nach Hause zurück. Er fand ein Schiff, das dieselbe Route nimmt, auf der er gekommen ist, und er ging an Bord. Wir aber werden jetzt erforschen, um welches Schiff und welches Ziel es sich handelt. Wenn wir dies wissen, kommen wir zurück und informieren Sie. Das wird Ihnen und Madame Mina neue Hoffnung |458|geben, denn es besteht wirklich noch Hoffnung, wenn Sie es sich recht überlegen: Es ist noch nicht alles verloren! Diese Kreatur, die wir verfolgen, brauchte Hunderte von Jahren, um bis nach London zu gelangen, und doch haben wir nur einen einzigen Tag gebraucht, ihn zu vertreiben, da wir die Mittel dazu kannten. Auch er ist begrenzt, obgleich er so große Macht hat, Unheil zu stiften, und obwohl er nicht so leiden kann wie wir. Wir aber sind stark, jeder auf seine eigene Weise, und gemeinsam sind wir noch stärker. Fassen Sie also frischen Mut, verehrter Gatte der Madame Mina! Die Schlacht hat gerade erst begonnen, und am Ende werden wir siegen, dies ist so gewiss wie die Tatsache, dass ein Gott über allem thront und über seine Kinder wacht. Also seien Sie guten Mutes, bis wir zurückkehren.
van Helsing
Jonathan Harkers Tagebuch
4. Oktober
Als ich Mina auf dem Phonographen van Helsings Mitteilung vorspielte, wurde das arme Mädchen bedeutend froher. Schon die Gewissheit, dass der Graf das Land verlassen hat, gewährte ihr Trost, Trost aber bedeutet für sie Kraft. Jetzt, da wir der schrecklichen Gefahr nicht mehr Auge in Auge gegenüberstehen, fällt es mir bereits schwer, überhaupt an ihre Realität zu glauben. Sogar meine eigenen entsetzlichen Erlebnisse auf Burg Dracula kommen mir wie ein lange vergessener Traum vor, hier, in der frischen Herbstluft an einem hellen Sonnentag …
Aber nein, wie könnte ich zweifeln! Während ich meinen Gedanken nachhing, sah ich auf der weißen Stirn meines armen Lieblings die rote Narbe. Solange diese nicht verschwindet, sind Zweifel undenkbar. Und danach wird unsere Erinnerung den Glauben an die Wahrheit der Geschehnisse wachhalten. Mina und ich fürchten den Müßiggang, und so sind wir die alten Tagebücher |459|und Papiere immer wieder aufs Neue durchgegangen. Obwohl die Ereignisse uns dabei von Mal zu Mal mehr in ihren Bann zogen, nahmen unser Schmerz und unsere Angst immer weiter ab. Allem Geschehenen scheint eine leitende Absicht zugrunde zu liegen, ein Sinn, der uns tröstet. Mina meint, wir seien vielleicht zu Werkzeugen der göttlichen Gnade ausersehen – vielleicht ist es ja wirklich so. Ich will mich bemühen, es so zu sehen wie sie. Wir haben die ganze Zeit über nicht von der Zukunft zu sprechen gewagt. Es ist auch besser, damit zu warten, bis der Professor und die anderen zurück sind.
Der Tag vergeht so schnell, ich hätte nicht gedacht, dass mir die Zeit noch einmal so rasch verfliegen würde. Jetzt ist es schon drei Uhr.
Mina Harkers Tagebuch
5. Oktober, 5 Uhr nachmittags
Versammlung zur Berichterstattung. Anwesend: Professor van Helsing, Lord Godalming, Dr. Seward, Mr. Quincey Morris, Jonathan Harker, Mina Harker.
Dr. van Helsing berichtete über die heute unternommenen Schritte, um herauszufinden, mit welchem Schiff Graf Dracula zu welchem Zielhafen flüchtet:
»Als mir klar geworden war, dass er nach Transsilvanien zurück wollte, wusste ich auch, dass er die Donaumündung zu erreichen beabsichtigte oder irgendeinen anderen Punkt des Schwarzen Meeres, da er ja von dort gekommen war. Vor uns stand eine gähnende Leere, aber: Omne ignotum pro magnifico est1. So machten wir uns denn schweren Herzens auf, zu erkunden, welche Schiffe letzte Nacht nach dem Schwarzen Meer abgegangen waren. Es musste sich um ein Segelschiff handeln, da Madame Minas Worte darauf hindeuteten, dass Segel gesetzt wurden. Diese Schiffe sind |460|nun meistens nicht bedeutend genug, um in den Nachrichten der ›Times‹ geführt zu werden, und so gingen wir auf Vorschlag von Lord Godalming zu Lloyd’s2, wo eine Liste sämtlicher abgehender Schiffe geführt wird, wie klein diese auch sein mögen. Dort sagte man uns, dass mit der letzten Flut nur ein einziges Schiff zum Schwarzen Meer ausgelaufen sei, die ›Zarin Katharina‹, die von Doolittle’s Wharf nach Varna segelte, und von dort dann weiter die Donau hinauf. ›So‹, sagte ich, ›das ist das Schiff, auf dem sich der Graf befindet!‹ Wir begaben uns darauf nach Doolittle’s Wharf und trafen dort einen Mann in einem so kleinen Bretterverschlag, dass der Insasse größer schien als das Büro. Bei ihm erkundigten wir uns über die Abfahrt der ›Zarin Katharina‹. Er fluchte viel, hatte ein rotes Gesicht und eine laute Stimme, war aber anscheinend dennoch ein guter Kerl. Quincey gab ihm etwas aus seiner Börse. Es knisterte, als der Mann die Gabe prüfend auseinanderfaltete, worauf er sie in eine kleine, tief in seiner Kleidung verborgene Tasche steckte, um fortan freundlich und diensteifrig zu sein. Er kam sogar mit uns und befragte viele Leute, die dort ziemlich ruppig und hitzköpfig zu sein scheinen, die aber schnell freundlicher werden, wenn sie nicht mehr durstig sind. Sie redeten eine Menge Zeug, das ich nicht verstand, wenngleich ich mir meinen Teil dazu dachte, schließlich aber erzählten sie uns doch noch alles, was wir wissen wollten.
Sie berichteten uns nämlich, dass gestern Nachmittag gegen fünf Uhr ein Mann in größter Eile zu ihnen gekommen sei. Ein großer Mann, hager und bleich, mit einer Adlernase, weißen Zähnen und Augen, die zu brennen schienen. Er sei ganz in Schwarz gekleidet gewesen, bis auf einen Strohhut, der weder zu ihm noch zur gegenwärtigen Mode passte. Er habe mit dem Geld nur so um sich geworfen, um möglichst rasch in Erfahrung zu bringen, welches Schiff zum Schwarzen Meer ginge und was der Zielhafen sei. Man brachte ihn zuerst zum Büro und dann zum Schiff, wo er |461|aber nicht an Bord ging, sondern am Ende des Laufbrettes stehen blieb und den Kapitän zu sich herüber an Land bat. Auf die Versicherung hin, dass er gut bezahlt werden würde, kam der Kapitän schließlich zu ihm, und obgleich er in der Unterredung mit dem Fremden entsetzlich fluchte und schimpfte, wurden sich die beiden einig. Dann ging der Dünne wieder und fragte jemanden, wo er wohl Pferd und Leiterwagen mieten könne. Er eilte an den Ort, den man ihm wies, und bald darauf kehrte er zurück, eigenhändig einen Wagen lenkend, auf dem eine große Kiste stand. Ganz alleine hob er diese herunter, obwohl dann mehrere Männer dazu nötig waren, sie auf das Schiff zu verladen. Er hielt dem Kapitän eine lange Rede darüber, wo und wie er seine Kiste aufgestellt haben wollte, aber dem Kapitän passte das gar nicht. Er schimpfte und fluchte in mehreren Sprachen mit dem Fremden und sagte ihm, er solle gefälligst selbst an Bord kommen und sich von der Unterbringung seiner Fracht überzeugen. Der Fremde aber sagte, er könne jetzt noch nicht an Bord gehen, denn er habe noch viel zu erledigen. Darauf erwiderte der Kapitän, dass er sich dann besser beeilen möge, denn das Schiff würde verdammt noch mal auslaufen, bevor der verfluchte Gezeitenwechsel eintrete. Jetzt lächelte der hagere Mann und sagte, dass der Kapitän natürlich ablegen könne, wann er es für richtig halte, dass er selbst sich aber wundern sollte, wenn dies schon so früh geschehen würde. Der Kapitän fluchte immer ungehaltener in mehreren Sprachen, sodass der Hagere sich dankend verbeugte und sagte, er wolle die Freundlichkeit des Kapitäns dahingehend strapazieren, dass er erst kurz vor der Abfahrt an Bord komme. Schließlich brüllte der Kapitän mit hochrotem Kopf und in noch mehr Sprachen als gewöhnlich, dass er keine verfluchten Franzosen auf seinem Schiff wolle, solche Verdammten hätten auf seinem verwünschten Schiff nichts zu suchen!3 Und so ging der Fremde |462|wieder, nachdem er sich zuvor noch nach einem Büro für Frachtbriefe erkundigt hatte.
Niemand wusste, wohin er gegangen war, aber man kümmerte sich auch nicht darum, denn schließlich gab es genug andere Dinge zu bedenken. Bald darauf stellte sich nämlich heraus, dass die ›Zarin Katharina‹ nicht zur festgesetzten Zeit würde auslaufen können. Ein dünner Nebel stieg vom Fluss herauf, der immer dichter und dichter wurde, bis das Schiff und seine nächste Umgebung schließlich von einer grauen Wand eingehüllt waren. Der Kapitän fluchte in allen Sprachen der Welt und rief Verdammnis und Verwünschung auf alles und jeden herab, aber es half ihm nichts. Das Wasser stieg und stieg, sodass er bereits befürchtete, den Gezeitenwechsel zu versäumen. Er war also in keiner besonders guten Stimmung, als gerade zum Höhepunkt der Flut der hagere Mann über das Laufbrett daherkam und sich erkundigte, wo seine Kiste verstaut sei. Der Kapitän gab ihm zur Antwort, er solle sich mitsamt seiner Kiste zur Hölle scheren, aber der Hagere war keineswegs beleidigt, sondern ging mit dem Maat hinunter und sah selbst nach seiner Fracht. Dann kam er wieder herauf und blieb eine Weile an Deck im Nebel stehen. Er müsse dann jedoch irgendwie wieder von Bord gegangen sein, meinten die Männer, denn plötzlich sei er verschwunden gewesen. Niemand dachte über ihn nach, denn bald schon begann der Nebel zu zerfließen und alles lag wieder klar. Meine durstigen Freunde lachten, als sie mir zum Abschluss erzählten, dass der Kapitän sich im Fluchen selbst übertraf, als er hörte, dass keiner der Schiffer, die zu besagter Stunde auf dem Fluss unterwegs waren, etwas von einem Nebel bemerkt hatte, außer diesem einen, der rings um Dolittle’s Wharf lag. Das Schiff lief jedenfalls bei Ebbe aus und wird gegen Morgen in der Flussmündung gewesen sein; während wir uns unterhielten, war es längst auf hoher See.
Und nun, Madame Mina, können wir uns eine Weile ausruhen. Unser Feind ist auf See, mit dem Nebel als treuem Bundesgenossen, und seine Fahrt geht zur Mündung der Donau. So ein Segelschiff |463|ist langsam; wir werden die Reise zu Lande unternehmen, das geht schneller, und wir können ihn bei seiner Ankunft erwarten. Unsere größte Hoffnung ist es, ihn zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in seiner Kiste anzutreffen, da er sich dort nicht wehren kann und wir ihn am einfachsten erledigen können. Wie auch immer, wir haben noch mehrere Tage Zeit, unseren Plan auszuarbeiten. Wir wissen über seine Route genauestens Bescheid, denn wir haben den Schiffseigentümer gesprochen, der uns alle nur erdenklichen Frachtbriefe und Papiere vorgelegt hat. Die Kiste, die wir suchen, wird in Varna ausgeladen und einem dortigen Agenten, einem gewissen Ristics, übergeben. Sobald sich dieser ordentlich legitimiert, erhält er die Kiste, und der Schiffseigentümer hat seinen Vertrag erfüllt. Letzterer fragte uns noch, ob es irgendein Problem mit der Kiste gebe, denn dann würde er nach Varna telegrafieren und Untersuchungen anstellen lassen, aber wir verneinten das, denn schließlich ist dies kein Fall für die Polizei oder die Zollbehörde. Wir werden das ganz alleine und auf unsere eigene Weise erledigen.«
Als van Helsing geendet hatte, fragte ich ihn, woher er so sicher wüsste, dass der Graf tatsächlich an Bord des Schiffes geblieben sei. Er antwortete: »Wir haben dafür den besten nur denkbaren Beweis: die Aussagen, die Sie heute früh in Trance gemacht haben.« Ich fragte ihn darauf erneut, ob es denn wirklich notwendig sei, den Grafen zu verfolgen. Diesmal ging es mir bei meiner Frage um mich, denn ich fürchtete zu sehr, dass Jonathan mich verlassen könnte – wenn alle anderen gingen, würde auch er sich schließlich nicht zurückhalten lassen. Der Professor antwortete mir zunächst ruhig, aber seine Erregung steigerte sich mit der Zeit bis hin zu einem Zorn, in dem wir alle nicht umhin konnten, die dominante Persönlichkeit zu erkennen, die sicher ihren Anteil daran hatte, ihm seine Ausnahmestellung unter den Männern einzutragen.
»Ja, es ist notwendig! Notwendig, notwendig, notwendig! In erster Linie um Ihrer selbst willen, dann aber auch um der Menschheit |464|willen. Dieses Monster hat schon genug Übles angerichtet in dem beschränkten Spielraum und in der kurzen Zeit, in der es mit seinen Handlungen gleichsam noch im Dunkeln tappte. All das habe ich den anderen schon erläutert; Sie aber, meine liebe Madame Mina, können es aus den Aufzeichnungen Ihres Mannes oder aus dem phonographischen Tagebuch meines Freundes John erfahren. Ich habe ihnen dargelegt, dass der Entschluss des Grafen, sein eigenes, dünn besiedeltes Land zu verlassen und ein neues Land aufzusuchen, wo die Menschen dicht wie Kornähren wachsen, das Werk von Jahrhunderten war. Hätte ein anderer Untoter als er einen solchen Versuch gewagt, so hätten wahrscheinlich alle vergangenen und alle noch kommenden Jahrhunderte nicht ausgereicht, dies gelingen zu lassen. Bei diesem Einen aber müssen alle okkulten, abgründigen und mächtigen Kräfte der Natur in merkwürdiger Weise zusammengewirkt haben. Das Land, in dem dieser Untote seit Jahrhunderten gelebt hat, ist voll von Absonderlichkeiten auf den Gebieten der Geologie und der Chemie. Es gibt dort so tiefe Höhlen und Spalten, dass niemand weiß, ob sie überhaupt ein Ende haben. Es gab dort Vulkane, deren Krater noch heute Wasser von ganz eigentümlicher Beschaffenheit ausspeien, und Gase, die zu töten oder zu heilen vermögen. Zweifellos sind in einigen dieser unerforschten Kräfte auch magnetische und elektrische Strömungen vorhanden, die sich auf den lebenden Organismus in seltsamster Weise auswirken können. Und zeigte er nicht auch selbst bereits von Anfang an Qualitäten, die ihn über seine Zeitgenossen erhoben? In einer rauen, kriegerischen Zeit war er wegen seiner eisernen Nerven, seiner Klugheit und seiner Tapferkeit berühmt. In ihm haben einige vitale Prinzipien in unfassbarer Weise ihre höchste Vollendung erlangt, und wie sein Körper erstarkte, wuchs und gedieh, so wuchs auch sein Verstand. All dies erreichte er ohne dämonische Kräfte, über die er zusätzlich verfügt, die aber denjenigen Mächten weichen müssen, die im Guten ihren Ursprung haben. Nun wissen wir also, was wir von ihm zu halten haben. Er hat Sie vergiftet – verzeihen Sie mir, meine Liebe, |465|dass ich das ausspreche, aber es ist nur zu Ihrem Besten! Selbst wenn er Ihnen nie mehr nahekommt, so hat er Sie in einer Weise vergiftet, dass Sie Ihr Leben einfach weiterleben können wie bisher, auf die Ihnen vertraute Weise, dass Sie aber später, wenn der Tod kommt, unabänderlich werden wie er. Das darf nicht geschehen! Wir haben es einander geschworen, dass es nicht sein darf. Wir sind in diesem Falle die Vollstrecker des göttlichen Willens: Gott will die Welt und die Menschen, für die sein eigener Sohn in den Tod gegangen ist, nicht einem solchen Ungeheuer überlassen, dessen bloße Existenz schon eine Lästerung des Allmächtigen darstellt. Es war uns schon vergönnt, eine Seele zu erretten, und wir ziehen nun aus wie die alten Kreuzritter, um noch mehr zu erlösen. Wie sie ziehen wir gen Sonnenaufgang, und wenn wir fallen müssen, so fallen wir wie sie um einer guten Sache willen.«
Er machte eine kurze Pause, und ich sagte:
»Aber wird der Graf aus diesem Misserfolg denn nicht auch seine Lehren ziehen? Wird er nicht, nachdem er aus England vertrieben worden ist, dieses Land meiden wie der Tiger das Dorf, in dem man Jagd auf ihn gemacht hat?«
»Ah«, sagte er, »Ihr Vergleich mit dem Tiger ist gut, und ich werde ihn übernehmen. Ihr ›Menschenesser‹, wie die Inder einen Tiger nennen, der schon einmal Menschenblut gekostet hat, schaut keine andere Beute mehr an, sondern streift von seiner Begierde getrieben umher auf der Suche nach neuem Menschenfleisch. Der, den wir von unserem Dorf aus jagen, ist auch ein Tiger, ein Menschenesser, und auch er wird sein nächtliches Herumschleichen nie aufgeben. Leider ist seine Natur nicht danach, sich zurückzuziehen oder von etwas fernzuhalten. Zu seinen Lebzeiten, seinen wirklichen Lebzeiten, überschritt er die türkische Grenze und griff den Feind auf dessen eigenem Boden an. Er wurde zurückgeschlagen, aber hielt ihn dies ab, erneut einzubrechen? Nein! Er kam wieder und wieder und wieder. Beachten Sie seine Ausdauer und seine Hartnäckigkeit. Mit seinem Kindergehirn fasste er schon vor langer Zeit den Plan, in eine große |466|Stadt zu gehen. Was tat er? Er fand diejenige heraus, die ihm von allen Städten der Welt die günstigsten Aussichten bietet. Dann machte er sich in wohlüberlegter Weise an die Durchführung seiner Idee. Er prüfte in Ruhe alle seine Fähigkeiten und Kräfte, er lernte neue Sprachen, er unterrichtete sich über die neuen gesellschaftlichen Umgangsformen und die neuen Gegebenheiten der modernen Welt: die Politik, das Rechtswesen, die Finanzwirtschaft und die Wissenschaften. Er studierte die Gebräuche eines neuen Landes und eines neuen Volkes, das erst zu seinen Lebzeiten entstanden ist. Die Einblicke, die er dabei gewann, vergrößerten nur seinen Appetit und seine Begierde. Seine geistigen Kräfte wuchsen über all dem, und er fand durch den Augenschein bestätigt, was seine Gier ihm versprochen hatte. Er hat dies alles ganz allein zuwege gebracht, aus einer Grabruine in einem vergessenen Land heraus! Wie viel mehr aber würde er doch ausrichten können, wenn er sich die große Welt des Wissens eröffnete! Er, der, wie wir wissen, über den Tod lachen kann, und der inmitten von Seuchen, die ganze Völker dahinraffen, gedeiht! Oh, wenn ein solcher wie er von Gott käme, und nicht vom Teufel – welch eine Macht des Guten würde er in unserer Welt darstellen! Aber wir haben uns gegenseitig geschworen, die Welt zu befreien. Unsere Arbeit muss im Stillen vorbereitet, unsere Pläne müssen im Geheimen überlegt werden, denn in unserem aufgeklärten Zeitalter, in dem die Menschen nicht einmal das glauben, was sie sehen, sind die Zweifel der Gebildeten seine größte Stärke. Unsere Zweifel wären ihm Schild und Waffe zugleich, um uns zu vernichten. Uns, die wir gewillt sind, sogar unsere eigenen Seelen aufs Spiel zu setzen für das Heil der einen, die wir lieben. Zum Wohle der Menschheit und zu Gottes Ruhm und Ehre!«
Nach einer allgemeinen Diskussion beschlossen wir, heute Nacht keine Entscheidungen mehr zu treffen. Wir alle wollen die Sache überschlafen, jeder wird zunächst für sich selbst die Fakten bedenken und seine eigenen Schlüsse ziehen. Morgen wollen wir uns dann zum Frühstück wieder treffen und uns gegenseitig |467|unsere Schlussfolgerungen vorstellen. Danach werden wir uns miteinander auf einen verbindlichen Plan verständigen.
In mir herrschen heute Nacht auf wunderbare Weise Ruhe und Frieden. Es ist, als wäre ein Albdruck von mir genommen. Sollte vielleicht gar …
Ich habe den Gedanken nicht zu Ende gebracht, ich konnte ihn nicht zu Ende denken, denn ich sah im Spiegel das rote Mal auf meiner Stirn, und ich weiß nun, dass ich immer noch unrein bin.
Dr. Sewards Tagebuch
5. Oktober
Wir standen alle früh auf, und ich glaube, der Schlaf hat uns ohne Ausnahme gut getan. Als wir uns zum Frühstück setzten, herrschte eine größere allgemeine Fröhlichkeit, als wir je wieder meinten empfinden zu können.
Es ist wunderbar, welche Widerstandsfähigkeit die menschliche Natur besitzt. Sobald niederdrückende Hemmnisse, welcher Art auch immer, aus dem Weg geräumt sind, wird unser Inneres wieder auf seine tiefsten Grundprinzipien Hoffnung und Freude zurückgeworfen. Als wir so um den Tisch versammelt saßen, kam mir immer wieder der Gedanke, dass all das, was wir die letzten Tage erlebt hatten, nur ein grässlicher Traum gewesen sein konnte, und nur der Blick auf die rote Narbe an Mrs. Harkers Stirn brachte mich wieder in die Realität zurück. Selbst jetzt noch, wo ich die Sache schon so oft durchdacht habe, kann ich mir kaum vorstellen, dass der Urheber all unseres Leides noch immer existiert. Und auch Mrs. Harker scheint auf Augenblicke ihr Elend zu vergessen; nur dann und wann, wenn irgendetwas sie darauf bringt, denkt sie noch an ihre schreckliche Narbe. In einer halben Stunde wollen wir hier in meinem Arbeitszimmer zur Beratung über unser weiteres Vorgehen zusammenkommen. Ich sehe augenblicklich nur ein einziges Problem, und es ist |468|mehr eine Ahnung als ein Faktum: Wir werden alle offen miteinander reden müssen, und dennoch fürchte ich, dass Mrs. Harkers Zunge auf irgendeine geheimnisvolle Weise gebunden sein könnte. Ich weiß, dass sie selbst ihre eigenen Schlüsse zieht, und nach all dem, was bisher gewesen ist, gehe ich davon aus, dass sie auch diesmal brillant und richtig sein werden. Aber sie wird ihnen diesmal vielleicht keinen Ausdruck geben können oder wollen. Ich habe diese meine Befürchtung van Helsing gegenüber angedeutet, und er versprach mir, sich mit mir darüber auszutauschen, wenn wir alleine sind. Ich fürchte fast, dass jenes furchtbare Gift in ihren Venen schon in ihr zu wirken beginnt. Der Graf verfolgte ja zweifellos eigene Zwecke, als er ihr die »Bluttaufe des Vampirs« gab, wie van Helsing dies nannte. Nun, vielleicht gibt es ja ein Gift, das aus dem Guten heraus entsteht – in einem Zeitalter, wo noch nicht einmal das Leichengift erforscht ist, sollten wir uns eigentlich über gar nichts wundern! Eines weiß ich aber: Wenn mich meine Ahnung bezüglich Mrs. Harkers Schweigen nicht täuscht, dann birgt das vor uns liegende Werk noch manche Schwierigkeiten und unbekannte Gefahren. Denn dieselbe Kraft, die ihr das Schweigen gebietet, kann sie wohl auch nach ihrem Willen sprechen lassen. Ich will nicht weiter daran denken, um der edlen Frau kein Unrecht zu tun.
Van Helsing ist ein wenig früher als die anderen zu mir ins Arbeitszimmer gekommen. Ich werde ihn auf das Thema ansprechen …
Später
Der Professor kam, und wir haben über die Lage der Dinge gesprochen. Ich sah ihm sofort an, dass er etwas auf dem Herzen hatte, aber er zögerte lange, damit herauszurücken. Nachdem wir ein wenig drum herumgeredet hatten, sagte er plötzlich:
»Freund John, ich muss etwas mit Ihnen allein besprechen, wenigstens fürs Erste. Später können wir dann auch die anderen ins |469|Vertrauen ziehen …« Er hielt inne, aber da auch ich schwieg, fuhr er fort:
»Madame Mina, unsere arme, liebe Madame Mina verändert sich …« Als ich meine schlimmsten Befürchtungen so bestätigt hörte, rann mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Der Professor sagte:
»Eingedenk unserer traurigen Erfahrungen mit Miss Lucy sollten wir diesmal gewarnt sein, bevor die Sache zu weit geht. Unsere Aufgabe ist gegenwärtig schwieriger als je zuvor, denn dieses neue Problem lässt wieder jede einzelne Stunde kostbar werden. Ich sehe, wie sich die Charakteristika des Vampirismus auf ihrem Gesicht zu zeigen beginnen. Noch ist es sehr wenig, aber es ist nicht zu leugnen, wenn man sie ohne Vorurteil anblickt. Ihre Zähne werden spitzer, und auch ihre Augen scheinen mir schon etwas härter als zuvor. Aber das ist noch nicht alles: Sie ist jetzt oft so schweigsam, genau wie seinerzeit Miss Lucy, die ja auch nicht sprach, und die das, was sie bekannt zu machen wünschte, sogar für später aufschrieb. Nun befürchte ich Folgendes: Wenn Madame Mina uns in der Hypnose sagen kann, was der Graf hört und sieht – muss es dann nicht umso wahrscheinlicher sein, dass auch er sie, wann immer er will, zwingen kann, ihm das zu verraten, was sie von uns weiß? Schließlich hat er sie zuerst hypnotisiert, hat ihr Blut getrunken und ihr das seine zu trinken gegeben!« Ich nickte zustimmend, und er fuhr fort:
»Wenn das wirklich so ist, dann müssen wir alles daransetzen, um das zu verhindern! Wir müssen sie über unsere Absichten im Dunkeln lassen, denn das, was sie nicht weiß, kann sie ihm auch nicht verraten. Oh, das ist eine schmerzhafte Angelegenheit, allein der Gedanke daran bricht mir das Herz! Aber es muss sein. Wenn wir uns gleich treffen, werde ich ihr sagen, dass wir sie beschützen, aber dass sie aus einem Grund, den wir ihr leider nicht mitteilen können, von unseren Beratungen fernbleiben muss.« Er wischte sich die Stirn, auf der große Schweißperlen standen, |470|so sehr hatte ihn die grausame Notwendigkeit angegriffen, die ohnehin schon so geplagte Frau erneut kränken zu müssen. Ich glaubte, ihm dadurch etwas Trost spenden zu können, dass ich bemerkte, ich sei alleine bereits zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen. Ich glaube, meine Worte befreiten ihn von quälenden Zweifeln.
Die Zeit für unsere Versammlung ist nahe. Van Helsing ist weggegangen, um sich, wie er sagte, auf unser Treffen vorzubereiten, insbesondere auf den für ihn schmerzlichsten Teil. Ich glaube aber, dass er sich zurückgezogen hat, um alleine zu beten.
Später
Gleich zu Beginn der Versammlung verspürten van Helsing und ich eine große persönliche Erleichterung, denn Mrs. Harker hatte ihren Gatten beauftragt, uns mitzuteilen, dass sie nicht kommen werde. Sie sei der Ansicht, dass sie uns mit ihrer Anwesenheit eher hinderlich wäre und dass wir ohne sie freier über unsere Pläne beraten könnten. Ich wechselte rasche Blicke des Einverständnisses mit dem Professor, und wir beide fühlten uns besser. Was mich anbetraf, so vermutete ich, dass Mrs. Harker die Gefahr von selbst erkannt hatte und uns durch ihre Entscheidung viele Unannehmlichkeiten und Gefahren ersparen wollte. Ich kam mit dem Professor – den Finger an den Lippen, Frage und Antwort zugleich in den Blicken – dahin überein, bezüglich unseres Verdachtes Stillschweigen zu bewahren, bis es uns wieder möglich war, ungestört darüber zu sprechen. Wir gingen darauf sofort an die Beratung unseres Feldzuges. Van Helsing breitete zunächst grob die Fakten vor uns aus:
»Die ›Zarin Katharina‹ ist gestern früh aus der Themse ausgelaufen. Im schnellsten Falle benötigt dieses Schiff bis Varna wenigstens drei Wochen. Wir können diese Stadt über den Landweg in drei Tagen erreichen. Rechnen wir noch zwei Tage weniger für die Fahrt des Schiffes – wir wissen ja, dass der Graf imstande ist, |471|sich das Wetter für seine Zwecke dienstbar zu machen; für Zeitverluste, die uns treffen können, rechnen wir einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, dann bleiben uns immer noch reichlich zwei Wochen. Wir müssen also, um sicherzugehen, spätestens am 17. dieses Monats abfahren. Dann sind wir mindestens einen Tag vor Ankunft des Schiffes in Varna und haben noch Zeit, die nötigen Maßregeln zu treffen. Auf alle Fälle gehen wir bewaffnet, bewaffnet gegen alles Böse, sei es weltlicher oder übernatürlicher Art.« Quincey Morris fügte hinzu:
»Im Land des Grafen soll es ja Wölfe geben, die er auf uns hetzen könnte. Deshalb schlage ich vor, dass wir unsere Ausrüstung noch durch ein paar Winchesterbüchsen vervollständigen. Für derartige Fälle habe ich nämlich ein festes Vertrauen in die Winchester. Erinnerst du dich, Art, als so ein Rudel bei Tobolsk hinter uns her war? Was hätten wir da nicht für ein Repetiergewehr gegeben!«
»Abgemacht«, sagte van Helsing, »Winchesterbüchsen kommen mit! Wenn es um Fragen der Jagd geht, dann ist Quincey einfach unschlagbar. – Hier aber bleibt uns jetzt nichts mehr zu tun, und da wir Varna nicht kennen, spricht eigentlich nichts dagegen, schon etwas früher dorthin aufzubrechen – warten müssen wir hier ebenso lange wie dort. Wenn wir uns also heute Nacht und morgen vorbereiten und packen, dann könnten wir vier aufbrechen.«
»Vier?«, fragte Harker, indem er seinen Blick von einem zum anderen gleiten ließ.
»Natürlich«, antwortete der Professor rasch, »Sie müssen doch hierbleiben und für Ihre liebe Frau sorgen.« Harker schwieg eine Weile, dann sagte er mit rauer Stimme:
»Lassen Sie uns diesen Punkt am kommenden Morgen besprechen. Ich will mich mit Mina beraten.« Ich meinte, dass es nun für van Helsing an der Zeit wäre, Harker davor zu warnen, seiner Frau unsere Pläne zu enthüllen, aber der Professor sagte nichts. Ich warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und hüstelte, aber |472|er legte zur Antwort nur einen Finger an die Lippen und drehte sich um.
Jonathan Harkers Tagebuch
5. Oktober, nachmittags
Seit unserer Beratung heute früh bin ich nicht mehr imstande zu denken. Die neue Phase, in die unsere Angelegenheit eingetreten ist, hat meinen Geist in einen Zustand versetzt, der keine Überlegungen zulässt. Minas Weigerung, noch irgendwie an unseren Beratungen teilzunehmen, hat mich stutzig gemacht, und da es mir nicht möglich war, Gründe von ihr zu erfahren, muss ich mich aufs Raten verlegen. Ich bin jetzt aber von einer Lösung des Rätsels weiter entfernt als je. Auch ist mir die Art und Weise, wie die anderen die Nachricht aufnahmen, unverständlich. Wann immer wir in letzter Zeit über diese Dinge gesprochen hatten, waren wir uns schließlich einig, dass Mina nicht das Geringste mehr verheimlicht werden sollte. Mina schläft jetzt ruhig und sanft, ihre Lippen sind leicht geöffnet und ihr Gesicht strahlt vor Glück. Ich bin froh, dass es doch noch solche Augenblicke für sie gibt.
Später
Wie seltsam mir alles vorkommt. Ich bewachte Minas frohen Schlaf und fühlte mich dabei schon fast so glücklich, wie ich es nur sein konnte. Als der Abend herankam und die sinkende Sonne lange Schatten auf die Erde malte, wurde mir im stillen Raum dann immer feierlicher zumute. Plötzlich schlug Mina die Augen auf, sah mich zärtlich an und sagte:
»Jonathan, du musst mir etwas auf dein Ehrenwort versprechen. Du versprichst es mir, aber Gott ist unser Zeuge, und du darfst deinem Wort nicht untreu werden, sollte ich mich vor dir auch auf den Knien winden und dich mit heißen Tränen darum anflehen. Schnell, du musst es mir sofort versprechen!«
|473|»Mina«, sagte ich, »ein solches Versprechen kann ich nicht so ohne Weiteres geben. Vielleicht habe ich gar kein Recht dazu.«
»Aber Liebster«, sagte sie mit Nachdruck, und ihre Augen leuchteten wie Sterne, »ich bin es ja, die es sich wünscht, und ich tue es ja nicht um meinetwillen. Du kannst van Helsing fragen, ob ich richtig handle. Wenn er mir Unrecht gibt, kannst du tun, was du für nötig hältst. Nein, noch mehr als das: In dem Fall, dass ihr alle euch später einhellig gegen die Einhaltung deines Versprechens aussprecht, bist du von ihm entbunden.«
»Dann verspreche ich es!«, sagte ich, und einen Augenblick schoss ein Anflug von Glück über ihr Gesicht. Ich aber glaube nicht an ihr Glück, solange ich die rote Narbe auf ihrer Stirn sehe. Sie fuhr fort:
»Versprich mir, dass du mir gegenüber nie etwas von dem verlauten lässt, was ihr gegen den Grafen im Schilde führt. Weder in Worten, noch durch Zeichen, noch durch Andeutungen. So lange nicht, wie ich dieses Zeichen hier trage.« Sie wies auf die Narbe an ihrer Stirn, und ich sah, dass es ihr ernst war. Ich antwortete also:
»Ich verspreche es.« Als ich das sagte, hatte ich augenblicklich ein Gefühl, als würde sich eine Tür zwischen uns beiden schließen.
Später, Mitternacht
Mina ist den ganzen Abend froh und heiter gewesen, so sehr, dass wir alle wieder Mut fassten. Es war, als hätte sich ihre Fröhlichkeit auch auf uns übertragen. Selbst mir, auf dem doch das Leid besonders schwer zu lasten scheint, kam es vor, als würde dieses Gewicht etwas nachlassen. Wir zogen uns alle früh zurück. Mina schläft nun wie ein Kind; es ist seltsam, dass sie ihre Fähigkeit zu schlafen selbst im tiefsten Gram nicht einbüßt. Wenigstens vergisst sie so ihre Sorgen. Vielleicht wirkt ja auch in dieser Beziehung ihr gutes Beispiel, wo doch heute Abend bereits ihre Fröhlichkeit |474|so ansteckend auf uns gewirkt hat? Ich will es versuchen. Was gäbe ich für einen Schlaf ohne Träume …
6. Oktober, morgens
Eine neue Überraschung. Mina weckte mich früh, etwa zur selben Zeit wie gestern, und bat mich, van Helsing zu holen. Ich dachte, sie wolle wieder hypnotisiert werden, und ging ohne weitere Frage, um ihn zu wecken. Er hatte offenbar erwartet, gerufen zu werden, denn er saß vollkommen angekleidet in seinem Zimmer. Seine Tür stand offen, sodass er sofort hören konnte, wenn sich bei uns etwas rührte. Er kam ohne zu zögern mit mir. Als er in unser Zimmer trat, fragte er Mina, ob die anderen auch kommen sollten.
»Nein«, antwortete sie schlicht, »das ist nicht nötig. Sie können es ihnen ja sagen. Ich muss nämlich mit Ihnen auf Ihre Reise gehen.« Van Helsing war ebenso erstaunt wie ich. Nach einer Pause fragte er:
»Aber warum denn?«
»Sie müssen mich mitnehmen. Ich bin sicherer bei Ihnen, und Sie sind ebenfalls sicherer.«
»Aber wie das, Madame Mina? Sie wissen, dass Ihre Sicherheit unsere heiligste Pflicht ist. Wir gehen einer Gefahr entgegen, welche für Sie um ein Vielfaches größer ist oder größer sein kann als für uns, und das aus Gründen … aus stattgefundenen Ereignissen …« – er unterbrach sich verwirrt.
Als sie antwortete, erhob sie ihren Finger und deutete auf ihre Stirn.
»Ich weiß. Darum eben muss ich mitgehen. Ich kann es Ihnen jetzt sagen, während die Sonne aufgeht, vielleicht werde ich es nicht noch einmal sagen können. Ich weiß, dass ich gehen muss, wenn der Graf nach mir verlangt. Ich weiß, dass ich, wenn er mich im Geheimen ruft, ihm folgen muss mit aller List und Tücke, selbst wenn ich dabei Jonathan hintergehe.« Gott sah den Blick, den sie mir bei ihren Worten zuwarf, und wenn es wirklich einen |475|Engel gibt, der alles verzeichnet, so wird dieser Blick zu ihrer immerwährenden Ehre festgehalten sein. Ich konnte nur ihre Hand ergreifen, ich konnte nicht sprechen, und meine Erregung war selbst für erleichternde Tränen zu groß. Sie fuhr fort:
»Sie alle sind Männer, mutig und stark. Und Sie sind auch stark an Zahl, sodass sie vielem trotzen können, unter dessen Last die Standhaftigkeit einer einzelnen Wache zusammenbräche, kurz: Gemeinsam können Sie mich besser schützen. Und ich kann Ihnen nützlich sein, da Sie mich hypnotisieren und von mir Dinge erfahren können, die ich selbst nicht weiß.« Dr. van Helsing antwortete sehr ernst:
»Madame Mina, Sie sprechen wie immer sehr weise. Sie sollen mit uns kommen, und zusammen wollen wir das verrichten, zu dessen Vollendung wir ausziehen.« Als er geendet hatte, fiel mir auf, dass Mina gar nicht reagierte – sie war eingeschlafen und auf ihr Kissen zurückgesunken. Sie wachte selbst dann nicht auf, als ich die Vorhänge öffnete und das Sonnenlicht ins Zimmer flutete. Van Helsing gab mir einen Wink, leise mit ihm zu kommen. Wir gingen auf sein Zimmer, und innerhalb einer Minute waren auch Lord Godalming, Dr. Seward und Mr. Morris bei uns. Der Professor berichtete ihnen über das Gespräch mit Mina und fügte hinzu:
»Morgen früh werden wir nach Varna abreisen. Wir haben nun mit einem neuen Faktor zu rechnen, mit Madame Mina. Oh, ihre Seele ist treu! Es muss sehr qualvoll für sie gewesen sein, uns so viel zu erzählen, wie sie es getan hat, aber es war das einzig Richtige, und wir sind nun rechtzeitig gewarnt. Wir dürfen keine Möglichkeit verpassen, und in Varna müssen wir in dem Augenblick handeln, in dem das Schiff anlandet.«
»Was genau haben wir dann zu tun?«, fragte Morris knapp. Einen Augenblick zögerte der Professor, dann antwortete er:
»Wir werden als Erstes gemeinsam an Bord gehen. Wenn wir dann die Kiste identifiziert haben, werden wir einen Zweig wilder Rosen darauflegen. Das wird ihn festhalten, denn solange der |476|Zweig auf der Kiste liegt, ist es dem Grafen unmöglich herauszukommen – wenigstens behauptet dies der Aberglaube. Auf diesen müssen wir uns nämlich vorerst verlassen, er war der Glaube der frühen Menschen, und unser heutiger Glaube wurzelt noch tief in ihm. Dann, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet und wenn niemand in der Nähe ist, uns zu beobachten, werden wir die Kiste öffnen, und alles wird gut werden.«
»Ich werde jedenfalls nicht lange auf eine solche Gelegenheit warten«, sagte Morris. »Wenn ich die Kiste sehe, werde ich sie öffnen und das Scheusal vernichten, sollten auch tausend Leute zusehen und mich gleich darauf selbst erledigen.« Unwillkürlich griff ich seine Hand und fühlte, dass sie hart war wie Stahl. Ich glaube, er verstand meinen Blick. Ich hoffe es.
»Guter Junge«, sagte van Helsing, »tapferer Junge! Quincey ist ein aufrechter Mann, Gott segne ihn dafür! Mein Sohn, glauben Sie mir, auch von uns anderen wird keiner der Gefahr ausweichen oder auch nur mit der Wimper zucken. Ich sagte ja nur, was wir zu tun haben, was wir tun müssen. Aber es lässt sich heute in der Tat noch nicht vorhersehen, wie es tatsächlich werden wird, denn es können sich noch so viele Dinge ereignen. Wir werden in jeder Weise bewaffnet sein, und wenn die Zeit zum Handeln kommt, dann werden wir nicht zögern. Nun aber lassen Sie uns alle unsere Angelegenheiten in Ordnung bringen, besonders was die berührt, die wir lieben oder die von uns abhängen, denn keiner weiß, wie unser Abenteuer ausgehen wird. Was mich betrifft, so habe ich bereits alles geregelt, und da ich nun nichts anderes zu tun habe, werde ich unsere Reise organisieren. Ich kümmere mich um die Fahrkarten und was sonst noch so alles dazugehört.«
Weiter gab es nichts mehr zu besprechen, und so trennten wir uns. Ich will nun alle meine irdischen Angelegenheiten ordnen, um in jeder Hinsicht auf das Kommende vorbereitet zu sein …
Es ist alles in Ordnung. Mein Testament ist gemacht, und alles ist geregelt. Wenn Mina mich überlebt, so ist sie meine Universalerbin. Sollte dies nicht der Fall sein, so sollen die anderen alle, die so gut zu uns waren, die Erben sein.
Minas wachsende Unruhe zeigt mir an, dass sich die Sonne langsam senkt. Ich bin sicher, es ist etwas in ihr, das sich genau bei Sonnenuntergang enthüllen wird. Diese Auf- und Untergänge der Sonne werden langsam zu peinigenden Momenten für uns, denn sie bergen immer neue Gefahren und neue Schmerzen. Möge Gott dies alles zu einem guten Ende führen. Ich schreibe diese Dinge in mein Tagebuch, da meine liebe Frau sie ja nicht hören darf. Wenn es ihr aber beschieden sein sollte, diese Blätter wieder anzusehen, dann sollen sie ihr wenigstens von allem berichten.
Sie ruft nach mir …