Brief von Mina Harker an Lucy Westenra
Budapest, den 24. August
Meine liebste Lucy,
ich weiß, Du wirst neugierig sein zu erfahren, was sich ereignet hat, seit wir uns in Whitby verabschiedet haben. Also, meine Liebe, ich kam wohlbehalten nach Hull, bestieg das Schiff nach Hamburg und reiste von dort aus mit dem Zug weiter bis hierher. Ich kann mich kaum noch an die lange Reise erinnern, außer daran, dass ich ununterbrochen daran dachte, nun endlich Jonathan wiederzusehen. Und da dessen Pflege in der kommenden Zeit mir sicher einiges abverlangen wird, versuchte ich unterwegs so viel Schlaf wie möglich zu bekommen. … Ich fand meinen Liebsten schrecklich mager, bleich und schwach vor. Alle Entschlossenheit ist aus seinen lieben Augen entschwunden, und die ruhige Würde, die auf seinem Gesicht lag und von der ich Dir so oft vorgeschwärmt habe, ist gänzlich dahin. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst, und er kann sich an absolut nichts mehr erinnern, was ihm in den vergangenen Wochen widerfahren ist. Zumindest hat er mir dies versichert, und ich hüte mich davor, weiter in ihn zu dringen. Schließlich hat er einen schrecklichen Schock erlitten, sodass ein Auffrischen der Erinnerungen für seinen armen Verstand die Gefahr eines Rückfalls mit sich bringen könnte. Schwester Agatha, ein gutes Geschöpf und die geborene Pflegerin, sagte mir, dass er von schauerlichen Dingen gesprochen habe, als er noch im Delirium lag. Ich bat sie, mir einiges davon zu erzählen, aber sie bekreuzigte sich und beteuerte mir, sie würde nie darüber sprechen – die Fantasien Kranker seien heilige Geheimnisse, und die Pflegerinnen, die sie infolge |155|ihres Berufes zu hören bekommen, müssten sie als solche respektieren. Sie ist wirklich eine gute Seele. Als sie am nächsten Tag bemerkte, dass ich mir noch immer darüber Sorgen machte, kam sie von alleine auf das Thema zurück, beteuerte erneut, dass sie niemals von dem sprechen werde, was mein armer Schatz in seinen Fieberträumen gesehen hatte, und beruhigte mich mit den Worten: »Meine Liebe, ich kann Ihnen immerhin versichern, dass es nichts war, wegen dessen er sich zu schämen hätte, und Sie, die Sie seine Frau werden wollen, brauchen sich gar nichts Schlimmes dabei zu denken. Er hat Sie niemals vergessen, und auch nicht das, was er Ihnen schuldig ist. Er hatte Furcht vor so schrecklichen und gewaltigen Dingen, wie sie kein Sterblicher zu ertragen vermag.« Ich glaube gar, die gute Seele hielt mich für eifersüchtig und nahm an, dass meine Befürchtungen dahin gehen würden, dass mein armer Geliebter sich in irgendein anderes Mädchen verliebt haben könnte. Was für eine Idee! – Und doch, Liebe, lass Dir flüstern, dass mich ein freudiges Zucken durchlief, als ich sicher wusste, dass keine andere Frau an seiner Krankheit die Schuld trägt. Ich sitze gerade an seinem Bett und kann ihm ins Gesicht sehen, während er schläft. Jetzt wacht er auf …
Als er erwacht war, bat er mich um seinen Mantel, da er etwas aus der Tasche nehmen wollte. Ich fragte Schwester Agatha danach, und diese brachte ihm alle seine Sachen. Ich sah darunter auch ein Notizbuch und wollte ihn eben bitten, mich einen Blick hineinwerfen zu lassen, denn sicher ist darin ein Hinweis auf seine rätselhafte Krankheit zu finden. Aber er musste mir meinen Wunsch schon angesehen haben, bevor ich ihn noch ausgesprochen hatte, denn er schickte mich an das Fenster, da er einen Augenblick allein sein wollte. Dann rief er mich wieder zu sich, und als ich kam, hatte er die Hand auf dem Notizbuch und sagte sehr feierlich zu mir:
»Wilhelmina …« – ich wusste sofort, dass es ihm sehr ernst war, denn er hatte mich seit seinem Heiratsantrag nicht mehr mit |156|vollem Namen angesprochen – »meine Liebste, du kennst meine Anschauungen über das Vertrauen zwischen Mann und Frau. Es soll kein Geheimnis, kein Versteckspiel geben. Ich hatte einen furchtbaren Schock, und wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, beginnt mein Verstand zu taumeln, sodass ich nicht mehr weiß, was Wirklichkeit ist und was die Fantasie eines Wahnsinnigen. Wie du weißt, hatte ich ein Nervenfieber, und das bedeutet, dass man irre ist. Das Geheimnis ist hier drin, aber ich will es nicht kennen. Ich will mein Leben stattdessen jetzt und hier wieder neu aufnehmen, indem ich dich heirate.« Meine Liebe, Du kennst ja unseren Entschluss zur Hochzeit, sobald alle notwendigen Formalitäten erfüllt sind. Er fuhr fort: »Nun, Wilhelmina, frage ich dich: Bist du gewillt, mir meine Unkenntnis in dieser Sache zu erhalten? Hier ist das Tagebuch, nimm es und bewahre es auf. Lies es, wenn du magst, aber halte seinen Inhalt von mir fern, es sei denn, es entsteht eine Situation, die es unabdingbar macht, mir die bitteren Stunden ins Gedächtnis zurückzurufen, über die ich hier, schlafend oder wachend, gesund oder im Wahnsinn, Buch geführt habe.« Er sank erschöpft zurück, und ich legte das Buch unter sein Kissen und küsste ihn. Ich habe Schwester Agatha zum Superior gesandt und ihn für heute Nachmittag um unsere Vermählung gebeten. Ich erwarte seinen Bescheid …
Sie ist wieder zurückgekommen und hat mir mitgeteilt, dass nach dem Kaplan der englischen Gesandtschaft geschickt wurde. In einer Stunde werden wir getraut, oder besser: sobald Jonathan erwacht …
Lucy, der große Augenblick kam so schnell und ist schon vorüber. Mir ist sehr festlich zumute, und ich bin überglücklich! Jonathan erwachte etwas nach der verabredeten Stunde, und alles war bereit. Er setzte sich im Bett auf, hinter seinen Rücken hatten wir ihm Kissen gelegt, um ihn zu stützen. Er sagte sein »Ich will!« fest und entschieden, ich aber konnte kaum sprechen, mein Herz war so voll, dass sogar diese zwei einfachen Worte |157|mich zu ersticken schienen. Die Ordensschwestern waren alle so gütig, nie werde ich sie vergessen und den großen Dank, den ich ihnen schulde. Ich muss Dir aber nun von meinem Hochzeitsgeschenk erzählen: Als der Kaplan und die Schwestern mich mit meinem Mann allein gelassen hatten – oh, Lucy, es ist das erste Mal, dass ich schreibe »mein Mann« –, nahm ich das Notizbuch unter seinem Kissen hervor und wickelte es in weißes Papier. Dann verknotete ich es mit einem Stückchen blauen Bandes von meinem Brautkleid, versiegelte es über dem Knoten und benützte meinen Trauring als Petschaft. Ich küsste das Paket, zeigte es meinem Mann und sagte ihm, dass ich es so fürs ganze Leben aufbewahren wolle als äußeres, sichtbares Zeichen unseres gegenseitigen Vertrauens; dass ich es nie öffnen wolle, außer, es wäre um seiner selbst willen oder in Erfüllung irgendeiner ernsten Pflicht. Dann nahm er meine Hand in die seine – ach Lucy, es war das erste Mal, dass er die Hand seiner Frau ergriff – und sagte, dies wäre das Schönste auf der Welt und er würde dafür gerne noch einmal all das Vergangene durchmachen, wenn es nötig sein sollte. Er meinte damit natürlich nicht alles Vergangene, sondern nur die Zeit vor seiner Reise, aber er hat noch überhaupt kein Zeitgefühl, und es sollte mich nicht wundern, wenn er nicht nur die Monate durcheinanderbringt, sondern auch das Jahr nicht weiß.
Nun, Liebste, was konnte ich darauf erwidern? Ich konnte ihm nur versichern, dass ich die glücklichste Frau auf der Welt sei, dass ich ihm nichts weiter zu geben hätte als mich selbst, mein Leben und mein Vertrauen, und dass ihm zusammen mit diesen meine Liebe und Treue bis ans Ende meines Lebens gehörten. Als er mich daraufhin mit seinen schwachen Händen an sich zog und küsste, da war es wie ein heiliges Gelübde zwischen uns …
Lucy, meine Liebe, weißt Du, warum ich Dir das alles erzähle? Nicht nur, weil es mir selbst Freude macht, sondern auch, weil Du mir so unendlich lieb warst und bist. Ich hatte das große Glück, Deine Freundin und Helferin zu sein, als Du aus der |158|Schule kamst und Dich auf das Erwachsenenleben vorbereitetest. Ich freue mich nun, Dir zeigen zu können, wohin das Leben mich geführt hat. Blicke froh auf Deine Freundin und werde in Deiner eigenen Ehe ebenso glücklich, wie ich es bin. Ich bitte den Allmächtigen, dass das Leben Dir alles schenken möge, was Du Dir erhoffst, dass Deine Ehe ein langer Sonnentag ohne raue Winde, ohne Pflichtvergessenheit und ohne Misstrauen sein möge. Ich kann nicht darum bitten, dass das Leben Dir jegliches Leid erspare, denn das ist unmöglich. Aber ich hoffe, dass Du immer so glücklich bist, wie ich es jetzt bin. Auf unser Wiedersehen, meine Liebe, ich werde diesen Brief gleich absenden und Dir auch sehr bald wieder schreiben. Ich muss nun schließen, denn Jonathan erwacht – ich muss mich um meinen Gemahl kümmern!
Deine Dich immer liebende
Mina Harker
Brief von Lucy Westenra an Mina Harker
Whitby, den 30. August
Meine liebste Mina,
Ozeane von Liebe und Millionen von Küssen – mögest Du bald mit Deinem Gemahl in Deinem eigenen Heim Einzug halten! Ich wünschte, Ihr könntet rasch genug heimkommen, um hier bei uns zu sein. Die kräftige Seeluft würde Jonathan bestimmt guttun, sie hat auch mich wiederhergestellt. Ich habe einen Appetit wie ein Kormoran, bin quicklebendig und schlafe vorzüglich. Du wirst es sicher gerne hören, wenn ich Dir mitteile, dass ich das Nachtwandeln völlig aufgegeben habe. Ich glaube, es ist schon eine ganze Woche her, dass ich zuletzt bei Nacht aus dem Bett gestiegen bin – dass heißt, falls ich mich überhaupt zur Nacht hinlege. Arthur meint, ich werde dick. Dabei fällt mir ein, dass ich ja ganz vergessen habe, Dir zu erzählen, dass Arthur gekommen |159|ist! Wir machen Spaziergänge und Ausritte, und wir rudern, fischen und spielen zusammen Tennis. Ich liebe ihn mehr als je zuvor. Er sagt mir ebenfalls, er würde mich mehr lieben als je, aber ich glaube ihm nicht: Früher hat er mir nämlich wiederholt beteuert, dass seine Liebe keiner Steigerung fähig wäre. Doch das ist ja nur Spaß … Soeben kommt er und ruft nach mir. Also Schluss für heute. In Liebe,
Lucy
PS: Mutter sendet Grüße; es geht ihr jetzt wieder etwas besser. Die Ärmste.
PPS: Wir heiraten am 28. September!
Dr. Sewards Tagebuch
20. August
Der Fall Renfield wird immer interessanter. Er hat sich nun so weit gefangen, dass es zwischen seinen Tobsuchtsanfällen auch ruhige Phasen gibt. Die erste Woche nach seinem großen Anfall war er äußerst gewalttätig. Dann, eines Nachts, als gerade der Mond aufging, wurde er ruhiger und murmelte immer wieder vor sich hin: »Nun kann ich warten, nun kann ich warten …« Der Pfleger kam daraufhin zu mir, und ich eilte sofort hinunter, um meinen Patienten zu sehen. Er war noch in der Zwangsjacke und in der gepolsterten Zelle, aber der verstörte Ausdruck war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Augen hatten wieder ihre flehende, ich möchte fast sagen kriecherische Sanftmut. Ich war mit diesem seinem Zustand recht zufrieden und gab Anweisung, ihn von Zwangsjacke und Kette zu befreien. Die Pfleger zögerten, führten dann aber schließlich meinen Befehl ohne Murren aus. Der Patient war merkwürdigerweise so gut gelaunt, dass er ihre Unzufriedenheit bemerkte; er trat recht nahe an mich heran und sagte unter verstohlenen Blicken auf die Pfleger:
|160|»Die da glauben, ich würde Sie verletzen! Stellen Sie sich nur vor: Ich sollte Ihnen etwas antun! Was für Idioten!«
Es war zwar beruhigend zu hören, dass er in seinem kranken Gehirn anscheinend doch einen Unterschied zwischen mir und den anderen machte, aber ich konnte seinen Gedankengängen dennoch nicht folgen. Sollte ich annehmen, er glaubt, mit mir etwas gemeinsam zu haben, das uns zu gegenseitigem Beistand verpflichten würde? Oder erwartete er von mir etwas so überaus Gutes, dass mein Wohlergehen ihm nützlich erscheint? Ich muss das gelegentlich herauszufinden suchen. Letzte Nacht wollte er gar nicht reden. Selbst das Angebot eines jungen Kätzchens oder sogar einer ausgewachsenen Katze konnte ihn nicht verführen. Er entgegnete nur: »Katzen interessieren mich nicht. Ich habe jetzt an anderes zu denken, und ich kann warten, ich kann warten.«
Nach einer Weile bin ich gegangen. Der Pfleger hat mir berichtet, dass der Patient bis kurz vor Tagesanbruch ruhig gewesen sei, sich dann aber zunehmend aufregte und schließlich wieder gewalttätig wurde. Am Ende stand ein Paroxysmus, der ihn so anstrengte, dass er in Ohnmacht fiel.
… Drei aufeinanderfolgende Nächte dasselbe Schauspiel. Den ganzen Tag über gewalttätig, dann ruhig von Mondaufgang bis Sonnenaufgang. Ich möchte doch wissen, wie dies zugeht. Es macht den Eindruck, als würde er einem Einfluss unterliegen, der bald kommt, bald geht. Eine vielversprechende Idee: Wir werden heute Nacht die Vernunft gegen den Wahnsinn antreten lassen! Ist er zuvor einmal ohne unsere Hilfe entkommen, so soll er heute Nacht mit ihr entfliehen. Wir werden ihm eine Gelegenheit bieten und zugleich Leute bereithalten, die notfalls eingreifen können …
»Das Unerwartete tritt immer ein!« – Wie gut doch Disraeli1 das Leben kannte! Unser Vogel fand den Käfig offen, wollte aber nicht entfliegen, und so verwehten alle unsere elaborierten Pläne im Wind. Immerhin haben wir eines herausgefunden, nämlich, dass die Perioden der Ruhe ziemlich lange andauern. Es wird zukünftig möglich sein, ihm seine Fesseln jeden Tag für einige Stunden abzunehmen. Ich habe dem Nachtwächter Anweisung gegeben, ihn erst eine Stunde vor Sonnenaufgang in die gepolsterte Zelle zu sperren. Der Körper des armen Teufels wird die Erleichterung dankbar empfinden, wenn auch sein Geist sich keine Rechenschaft darüber zu geben vermag. Doch halt, wieder »das Unerwartete«! Man ruft nach mir, der Patient ist erneut entflohen.
Später
Erneut ein nächtliches Abenteuer. Renfield hatte geschickt gewartet, bis der Nachtwächter zur Inspektion seine Zellentür öffnete. Dann stürzte er augenblicklich an ihm vorbei und rannte den Gang hinunter. Ich schickte sogleich die Männer hinter ihm her. Wieder stieg er in den verlassenen Garten, und wieder fanden wir ihn am alten Platz, dicht an die Kapellentür gepresst. Als er mich erblickte, wurde er rasend, und er hätte mich zweifelsohne getötet, wenn nicht die Pfleger rechtzeitig zur Hand gewesen wären. Nachdem wir ihn gepackt hatten, geschah etwas Unbegreifliches: Erst verdoppelte er seine Anstrengungen, dann aber wurde er abrupt ruhig. Ich sah mich unwillkürlich nach einem Grund um, konnte aber nichts entdecken. Dann beobachtete ich die Blickrichtung meines Patienten, konnte aber auch hier nichts Besonderes erkennen außer einer großen Fledermaus, die still und gespenstisch im Mondlicht gen Westen flatterte. |162|Fledermäuse pflegen in der Regel in wilden Kreisen umherzuschwirren, diese aber zog in gerader Linie ihres Weges, als ob sie einem besonderen Ziel zustrebte und irgendeine bestimmte Absicht verfolgte. Mein Patient wurde immer stiller und sagte schließlich:
»Sie brauchen mich nicht zu fesseln; ich komme freiwillig mit Ihnen.« Ohne Störung gelangten wir zur Anstalt zurück. Mir kommt seine Ruhe verdächtig vor, ich muss mir diese Nacht merken …
Lucy Westenras Tagebuch
Hillingham, den 24. August
Ich muss es Mina gleichtun und die Dinge aufschreiben, dann haben wir Stoff genug zum Plaudern, wenn wir uns wiedersehen. Ich wollte, sie wäre bei mir, denn ich fühle mich so unglücklich. Letzte Nacht war es wieder so wie bei dem schrecklichen Traum, den ich damals in Whitby hatte. Vielleicht ist die Luftveränderung daran schuld, vielleicht auch die Tatsache, wieder zu Hause zu sein. Jedenfalls scheint mir nach diesem Traum heute immer noch alles dunkel und beängstigend, obwohl ich mich an rein gar nichts erinnern kann. Ich bin von einer unbestimmten Angst erfüllt und fühle mich schwach und erschöpft. Als Arthur zum Lunch kam und mich erblickte, wurde er bedrückt. Ich hinwieder hatte nicht den Mut, mich fröhlich zu geben. Vielleicht kann ich ja heute Nacht bei der Mutter im Zimmer schlafen? Ich werde schon einen Vorwand finden.
25. August
Eine weitere schlechte Nacht. Mutter war von meinem Wunsch nicht gerade angetan. Sie fühlte sich selbst nicht recht wohl und fürchtete ohne Zweifel, mir nur noch mehr Sorgen zu bereiten. Ich versuchte also wach zu bleiben, was mir eine Zeit lang auch gelang. Als die Uhr aber zwölf schlug, erwachte ich aus einem |163|leichten Schlummer – ich musste also eingedöst sein. Am Fenster war ein seltsames Kratzen und Flattern zu vernehmen, ich kümmerte mich aber nicht darum. Da ich mich an nichts anderes erinnern kann, nehme ich an, dass ich wieder eingeschlafen bin. Dann kamen die schrecklichen Träume wieder – wenn ich mich doch nur an ihren Inhalt erinnern könnte! Heute früh war ich sehr schwach. Mein Gesicht ist geisterhaft bleich und mein Hals schmerzt. Es muss mit meinen Lungen etwas nicht in Ordnung sein, denn ich habe Mühe, ausreichend Luft zu bekommen. Ich muss heiterer scheinen, wenn Arthur kommt, sonst wird er über meinen Zustand wieder unglücklich sein.
Brief von Arthur Holmwood an Dr. Seward
Albemarle Hotel, den 31. August
Lieber Jack,
ich möchte Dich um einen Gefallen bitten. Lucy ist krank. Es ist kein bestimmtes Leiden, aber sie sieht entsetzlich aus und wird von Tag zu Tag elender. Ich habe sie gefragt, ob das irgendeinen Grund habe. Ihre Mutter um Rat zu bitten, wage ich nicht, denn es wäre gefährlich, die arme Frau in ihrem jetzigen Zustand auch noch mit Lucys Krankheit zu ängstigen. Mrs. Westenra hat mir nämlich gestanden, dass ihr Ende bereits feststehe – ein Herzleiden, von dem die gute Lucy jedoch nichts ahnt. Ich bin überzeugt, dass irgendetwas auf der Seele meines lieben Mädchens lastet. Wenn ich nur an sie denke, gerate ich ganz aus der Fassung, und wenn ich sie sehe, so versetzt es mir einen Stich. Ich habe ihr gesagt, ich würde Dich bitten, sie zu untersuchen. Zuerst machte sie Einwendungen – ich weiß schon warum, alter Freund –, dann gab sie aber doch ihre Zustimmung. Es ist eine schreckliche Aufgabe für Dich, das weiß ich wohl, mein Freund, aber es geschieht um ihretwillen, und ich zögere nicht Dich zu bitten, wie auch Du nicht zögern darfst zu handeln. Komme am besten morgen um |164|zwei Uhr nach Hillingham zum Lunch, damit Mrs. Westenra keinen Argwohn fasst. Nach dem Lunch wird Dir Lucy Gelegenheit geben, sie allein zu sprechen. Zum Tee werde dann auch ich da sein, und wir können zusammen wieder weggehen. Ich bin so besorgt, dass ich Dich unbedingt sprechen muss, sobald Du sie untersucht hast. Bitte lasse uns nicht im Stich!
Arthur
Telegramm von Arthur Holmwood an Dr. Seward
1. September
Wurde zu meinem Vater gerufen, wo es schlecht steht. Ich schreibe. Gib mir ausführlich Bericht mit der Abendpost nach Ring. Wenn nötig, telegrafiere.
Brief von Dr. Seward an Arthur Holmwood
2. September
Lieber alter Freund,
betreffs Miss Westenras Gesundheit beeile ich mich, Dir mitzuteilen, dass nach meiner Ansicht keine funktionelle Störung oder irgendeine mir bekannte Krankheit nachzuweisen ist. Allerdings bin ich mit ihrem Aussehen keineswegs zufrieden; sie hat sich außerordentlich verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Natürlich musst Du berücksichtigen, dass ich nicht alle Untersuchungsmöglichkeiten ausgeschöpft habe, die mir sonst zur Verfügung stehen – die Achtung vor unserer Freundschaft setzte der ärztlichen Wissenschaft gewisse unüberwindliche Grenzen. Ich werde Dir im Folgenden den ganzen Hergang der Untersuchung schildern und es Dir überlassen, Deine eigenen Schlüsse zu ziehen. Danach teile ich Dir meine bereits unternommenen Schritte mit sowie meine weiteren Vorschläge.
Ich fand Miss Westenra in scheinbar aufgeräumter Stimmung. |165|Ihre Mutter war ebenfalls anwesend, und nach wenigen Minuten war mir klar, dass Lucy sich nur verstellte, um ihren Zustand vor der alten Dame zu verbergen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie die Lage ihrer Mutter deutlich fühlt, wenn sie auch nichts Genaues weiß. Wir aßen allein zu Mittag, und da wir uns alle Mühe gaben, fröhlich zu erscheinen, gelangten wir wie zur Belohnung für unser Bemühen auch wirklich in eine heitere Stimmung. Dann entschuldigte sich Mrs. Westenra, um sich etwas niederzulegen, und Lucy und ich blieben allein zurück. Lucy bat mich darauf in ihr Zimmer, und bis wir dort angekommen waren, hielt ihre Fröhlichkeit an. Ich nehme an, dass sie sich vor den Hausangestellten verstellte, denn kaum hatten wir die Tür hinter uns geschlossen, fiel die Heiterkeit wie eine Maske von ihr ab. Sie sank mit einem Seufzer in ihren Stuhl und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Als ich sah, dass ihre Stimmung dahin war, versuchte ich mir aus ihren Reaktionen ein Bild zu formen. Sie sagte sehr sanft zu mir:
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich es hasse, von mir zu sprechen.« Ich entgegnete ihr, dass es eine ärztliche Schweigepflicht gebe und dass Du Dich in schrecklicher Angst um sie befändest. Sie verstand meine Worte augenblicklich und erklärte: »Erzählen Sie Arthur alles, was er nach Ihrer Meinung wissen sollte. Ich sorge mich nicht um mich, sondern allein um ihn.« Ich bin also völlig offen:
Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass sie sehr blutarm ist, aber die gewöhnlichen Anzeichen einer Anämie waren nicht zu entdecken. Ein Zufall gab mir sogar die Möglichkeit, die Qualität ihres Blutes zu prüfen, denn als sie das Fenster öffnete, zerbrach eine Scheibe, und ein Glassplitter verletzte sie leicht an der Hand. Die Sache war an sich unbedeutend, aber es traf sich gerade gut – ich nahm ein paar Blutstropfen mit und analysierte sie. Die Zusammensetzung des Blutes war vollkommen normal und bewies, für sich allein betrachtet, einen vorzüglichen Gesundheitszustand. Auch andere physiologische Beobachtungen geben mir die |166|Gewissheit, dass in dieser Richtung kein Grund zu Befürchtungen besteht. Da aber nichts auf Erden ohne Ursache geschieht, kam mir die Idee, dass die Ursache ihres Leidens vielleicht auf seelischem Gebiet zu suchen sein könnte. Sie beklagt sich über zeitweilige Atembeschwerden und über tiefe lethargische Schlafzustände mit quälenden Träumen, an die sie sich aber nach dem Erwachen nicht mehr erinnert. Auch erzählte sie mir, dass sie als Kind Schlafwandlerin gewesen, und dass diese Gewohnheit in Whitby wiedergekehrt sei. Einmal sei sie dort in der Nacht sogar bis zum East Cliff gegangen, wo Miss Murray sie dann gefunden habe. Zugleich versicherte sie mir aber, dass seit dem letzten Mal bereits eine längere Zeit vergangen sei. Ich habe gleichwohl große Bedenken, und so tat ich das Einzige, was mir in dieser Lage einfiel: Ich schrieb meinem alten Freund und Lehrer Professor van Helsing nach Amsterdam, der mehr von unklaren Krankheitsbildern versteht als sonst jemand auf der Welt. Ich habe ihn gebeten, hierher zu kommen. Da Du mir mitgeteilt hast, dass Du für alle Unkosten aufkommen wirst, habe ich ihm auch von Dir geschrieben und in welchem Verhältnis Du zu Miss Westenra stehst. Dies, mein lieber Freund, geschah lediglich in Erfüllung Deiner Wünsche, und ich bin glücklich und stolz, dass es mir vergönnt ist, etwas für Dich tun zu können. Ich weiß, dass van Helsing aus persönlichen Gründen gerne alles für mich tun wird, gleichwohl gilt es, sich auf ihn einzustellen, denn er ist ein sehr eigenwilliger Mann. Allerdings hat er dafür auch guten Grund, denn auf seinem Gebiet gibt es niemanden, der ihm das Wasser reichen könnte. Er ist ein Philosoph und Metaphysiker und einer der fortschrittlichsten Wissenschaftler unserer Epoche, zugleich aber absolut unvoreingenommen. Diese Eigenschaften sind bei ihm gepaart mit Nerven aus Stahl, mit größter Willensstärke, unbeugsamer Entschlossenheit, Selbstbeherrschung und Toleranz. Unter der Herrschaft des freundlichsten und aufrechtesten Herzens, das je geschlagen hat, vereint sich alles zu dem edlen Werk, dass er für die Menschheit in Theorie und Praxis leistet. Sein Horizont ist so weit wie seine |167|Menschenliebe. Ich sage Dir das alles, damit Du begreifst, warum ich ein solches Vertrauen zu ihm hege. Ich habe ihn gebeten, sofort zu kommen. Ich werde Miss Westenra morgen erneut treffen. Wir haben uns bei Harrod’s2 verabredet, damit ihre Mutter nicht erschrickt, wenn ich meine Visite so rasch wiederhole.
Stets der Deine,
John Seward
Brief von Abraham van Helsing, Dr. med., Dr. phil.,
Dr. h. c. mult. etc., an Dr. Seward
2. September
Mein lieber Freund,
ich habe Ihren Brief erhalten und mache mich sofort auf den Weg zu Ihnen. Glücklicherweise kann ich jetzt gerade fort, ohne jemanden zu vernachlässigen, der sich mir anvertraut hat. Wäre es anders, so stünde es freilich übel um meine Patienten hier, denn zu meinem Freund komme ich, sobald er mich ruft, und helfe denen, die ihm teuer sind. Sagen Sie Ihrem Freund aber, dass Sie damals, als Sie mir so rasch das Gift aus der Wunde gezogen haben, die mir das Skalpell unseres unvorsichtigen Kameraden geschlagen hatte, mehr für mein jetziges Kommen getan haben, als das Geld Ihres Freundes je ausrichten könnte. Es ist mir eine zusätzliche Freude, Ihrem Freund beizustehen, der Grund meines Kommens sind jedoch ganz allein Sie. Reservieren Sie mir bitte Räume im »Great Eastern Hotel«, sodass ich gleich in der Nähe bin, und richten Sie es bitte so ein, dass wir die junge Dame morgen nicht allzu spät aufsuchen können, denn es ist möglich, dass ich noch in der Nacht wieder hierher zurückkehren muss. Sollte es sich jedoch als nötig erweisen, so werde ich in drei Tagen wiederkommen und dann bei Bedarf länger bleiben. Bis dann, mein Freund John,
van Helsing
|168|Brief von Dr. Seward an Hon. Arthur Holmwood
3. September
Mein lieber Art,
Van Helsing ist gekommen und auch schon wieder fort. Wir waren gemeinsam in Hillingham, wo es die umsichtige Lucy so einzurichten gewusst hatte, dass ihre Mutter auswärts zu Mittag aß – wir waren also ungestört. Van Helsing nahm eine sorgfältige Untersuchung der Patientin vor. Er wird mir seine Meinung mitteilen, und ich werde dann wiederum Dir berichten. Natürlich war ich bei der Untersuchung nicht die ganze Zeit über anwesend. Er ist, fürchte ich, sehr bekümmert, denn er meinte, er müsse zunächst nachdenken. Als ich ihm von unserer Freundschaft erzählte und ihm sagte, wie sehr Du in der Angelegenheit auf meine Hilfe bautest, meinte er: »Teilen Sie ihm ruhig alles mit, was Sie von der Sache halten. Und wenn Sie es erraten können, so sagen Sie ihm meinetwegen auch, was ich denke. Nein, nein, ich scherze nicht. Hier geht es um Leben und Tod, vielleicht sogar um mehr.« Wir waren gerade wieder in die Stadt zurückgekehrt, wo er vor seiner Rückreise nach Amsterdam noch eine Tasse Tee trank. Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle, denn er war äußerst ernst. Er wollte mir jedoch keine weitere Aufklärung zuteil werden lassen. Du darfst ihm das nicht verübeln, Art. Seine Zurückhaltung verrät vielmehr, dass sein Verstand gerade im höchsten Maße in Lucys Interesse arbeitet. Er wird, glaube mir, offen sprechen, wenn die Zeit gekommen ist. So sagte ich ihm denn, ich wolle Dir lediglich einen Bericht machen, als ob ich einen Artikel für den »Daily Telegraph« zu verfassen hätte. Er schien es nicht zu hören, sondern sagte, der Schmutz in London sei heute nicht mehr so schlimm wie damals, als er hier studierte. Ich werde seinen Bericht morgen erhalten, wenn er es einrichten kann. Auf jeden Fall bekomme ich einen Brief.
Nun also zur Visite: Lucy war viel heiterer als am ersten Tag, und sie sah ohne Zweifel besser aus. Sie hatte nicht mehr das |169|Geisterhafte, das Dich so entsetzte, und ihr Atem war normal. Dabei war sie äußerst freundlich gegenüber dem Professor (was sie ja eigentlich immer ist) und suchte ihm seine Arbeit möglichst zu erleichtern. Trotz allem aber merkte ich, dass das liebe Mädchen einen harten Kampf mit sich selbst ausfocht. Ich glaube, van Helsing bemerkte dies auch, denn ich sah einen raschen Blick unter seinen buschigen Brauen hervorschießen, den ich seit langem kenne. Er begann von allem Erdenklichen zu plaudern, außer von uns selbst und von Krankheiten, und er tat dies mit einer solchen Gewandtheit, dass Lucys bisher nur gespielte Fröhlichkeit sich in eine echte verwandelte. Dann, scheinbar ohne der Angelegenheit größere Bedeutung beizulegen, kam er auf unsere Visite zu sprechen und sagte in liebenswürdigem Ton: »Liebes junges Fräulein, es bereitet mir eine große Genugtuung zu wissen, dass Sie so sehr geliebt werden. Das ist sehr viel wert. Man hat mir erzählt, dass Sie sehr niedergeschlagen und blass wären – darauf kann ich nur erwidern: Blanker Unsinn! Sie und ich, wir beide werden allen beweisen, dass sie sich irren, nicht wahr? Wie könnte der da« – er deutete auf mich mit demselben Blick und derselben Geste, mit denen er einmal in seinem Kolleg und später noch einmal bei anderer Gelegenheit auf mich gedeutet hatte, an die er nie versäumte, mich zu erinnern – »wie sollte der etwas von jungen Ladys verstehen? Er hat es schließlich immer nur mit Irren zu tun, die er wieder glücklich machen und dann ihren Familien zurückgeben soll. Das ist natürlich eine große Aufgabe und auch eine gewisse Genugtuung, wann immer dies gelingt. Aber junge Ladys? Er hat weder Frau noch Tochter, und junge Leute sprechen zu ihresgleichen ganz anders als zu alten Leuten wie mir, die so viel Elend und auch dessen Ursachen kennengelernt haben. Deshalb, mein Kind, schicken wir ihn weg, damit er im Garten seine Zigarette rauchen kann, während wir beide in Ruhe miteinander plaudern.« Ich verstand seinen Wink und begab mich hinaus; schon bald darauf kam der Professor aber ans Fenster und rief mich wieder hinein. Er sah sehr besorgt aus und |170|sagte: »Ich habe eine eingehende Untersuchung vorgenommen, von einer Funktionsstörung konnte ich aber nichts bemerken. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass sie in der letzten Zeit viel Blut verloren hat, aber ihre ganze Konstitution ist in keiner Weise anämisch. Ich habe sie gebeten, mir noch ihr Zimmermädchen zu schicken, an das ich ein oder zwei Fragen hätte, damit wir auch nichts übersehen. Allerdings kann ich mir schon denken, dass nicht viel dabei herauskommen wird. Und doch ist irgendeine Ursache vorhanden, für alles gibt es eine Ursache. Ich muss heimfahren und nachdenken. Sie werden mir jeden Tag telegrafieren, und wenn es nötig ist, komme ich sofort wieder. Diese Krankheit – denn wenn man sich nicht wohl befindet, so ist man krank – interessiert mich, und die nette junge Dame interessiert mich auch. Sie hat mich bezaubert, und so habe ich bereits drei Gründe zur Rückkehr: unsere Freundschaft, die junge Lady und mein wissenschaftliches Interesse an diesem Fall.«
Wie bereits erwähnt, wollte er mir keine weiteren Erklärungen geben, selbst dann nicht, als wir alleine waren. Nun, mein lieber Art, weißt Du also genauso viel wie ich. Ich kümmere mich. Zugleich hoffe ich, dass auch Dein lieber Vater sich wieder auf dem Weg der Besserung befinden möge. Es muss schlimm für Dich sein, alter Kamerad, in der Mitte zwischen diesen beiden Kranken, die Dir so teuer sind. Ich kenne Dein Pflichtgefühl Deinem Vater gegenüber, und Du tust recht daran, bei ihm zu sein. Sei versichert: Sollte es unumgänglich sein, dass Du zu Lucy kommst, so gebe ich Dir Nachricht. Sei also nicht überbesorgt, denn ich werde Dich auf dem Laufenden halten.
Dr. Sewards Tagebuch
4. September
Der Zoophagus-Patient weiß unser Interesse an ihm wachzuhalten. Er hatte nur einen Anfall, und zwar gestern zu einer ganz ungewöhnlichen |171|Zeit. Kurz bevor es Mittag schlug, wurde er unruhig. Der Pfleger kannte die Symptome und forderte augenblicklich Unterstützung an. Zum Glück waren Leute in der Nähe und rechtzeitig bei ihm, denn mit dem zwölften Glockenschlag wurde der Patient dermaßen wild, dass die vereinten Kräfte gerade so ausreichten, ihn zu halten.
Nach etwa fünf Minuten wurde er jedoch wieder ruhiger und versank schließlich in eine Art Melancholie, die noch immer andauert. Der Pfleger erzählte mir, dass der Patient entsetzlich geschrien habe. Als ich ankam, hatte ich alle Hände voll zu tun, denn einige andere Patienten sind mittlerweile ganz krank vor Angst. Ich kann diese Wirkung gut begreifen, denn das Gebrüll ging selbst mir nahe, der ich doch in ziemlicher Entfernung weilte. Nun ist in unserer Einrichtung die Zeit der Mittagsruhe, und mein Patient sitzt brütend in einer Ecke, mit einem verstörten, düsteren, wehmütigen Ausdruck im Gesicht, der allenfalls etwas andeutet, jedoch nichts aussagt. Ich kann ihn jedenfalls nicht enträtseln.
Später
Wieder eine Veränderung an meinem Patienten. Um fünf Uhr sah ich nach ihm und fand ihn so glücklich und vergnügt, wie er sonst zu sein pflegt. Er fing Fliegen und aß sie auf, wobei er seine Fänge durch kleine Kerben aufzeichnete, die er mit seinen Nägeln in den Türpfosten zwischen der Polsterung einritzte. Als er mich erblickte, entschuldigte er sich wegen seines schlechten Verhaltens und bat mich demütig und schmeichlerisch, ihn in seine Zelle zurückbringen zu lassen und ihm sein Notizbuch zurückzugeben. Ich hielt es für nützlich, ihn in gute Laune zu versetzen, und so ist er nun bei geöffneten Fenstern in seiner alten Zelle. Er hat seine für den Tee bestimmte Zuckerportion auf dem Fensterbrett ausgestreut und erbeutet damit eine große Anzahl Fliegen. Allerdings isst er sie jetzt nicht mehr, sondern sammelt sie wie zuvor in einer Schachtel und späht bereits in allen |172|Winkeln herum, um eine Spinne ausfindig zu machen. Ich versuchte, einiges über die letzten Tage aus ihm herauszubringen, da irgendein Anhaltspunkt bezüglich seiner Ideen mir von großem Nutzen wäre, aber er war nicht zum Sprechen zu bewegen. Eine Weile sah er sehr betrübt aus, dann sagte er mit tonloser Stimme, als spräche er mehr zu sich selbst als zu mir:
»Alles vorbei! Alles vorbei! Er hat mich im Stich gelassen. Keine Hoffnung mehr für mich, wenn ich es nicht selbst tue!« Dann wandte er sich plötzlich in entschlossenem Ton an mich: »Herr Doktor, würden Sie wohl so nett sein und mir etwas mehr Zucker verschaffen? Ich glaube, dies würde mir guttun.«
»Und den Fliegen ebenfalls«, entgegnete ich.
»Ja! Die Fliegen lieben ihn, und ich liebe die Fliegen. Also liebe ich Zucker.« – Und da gibt es tatsächlich Leute, die einem Wahnsinnigen jegliches logische Denken absprechen wollen! Ich versprach ihm eine doppelte Ration, und ich glaube, ich habe ihn damit zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht. Könnte ich doch nur seinen Geist ergründen!
Mitternacht
Wieder eine Änderung an ihm. Ich war eben von einem Besuch bei Miss Westenra zurückgekehrt, die ich bedeutend wohler angetroffen hatte, und stand, in den Sonnenuntergang versunken, am Eingangstor, als ich ihn auf einmal brüllen hörte. Da seine Zelle auf dieser Seite des Hauses liegt, konnte ich ihn besser hören als am Morgen. Ich bedauerte sehr, mich von der wunderbaren, dunstigen Schönheit eines Sonnenunterganges über London losreißen zu müssen, von den gespenstischen Lichtern und tintenschwarzen Schatten und all den herrlichen Farben, wie sie sich nur über stehenden Wolken oder über ruhendem Wasser zeigen.
Ich wurde zurückgerissen in den finsteren Ernst dieses kalten, steinernen Hauses mitsamt all dem brütenden Elend, das mein eigenes einsames Herz zu ertragen hat. Noch bei Sonnenuntergang |173|trat ich bei ihm ein, durch sein Fenster konnte ich die rote Scheibe sehen. Je tiefer die Sonne hinuntersank, desto ruhiger wurde der Patient, und als sie verschwunden war, entglitt er den Händen der Pfleger und fiel als träge Masse zu Boden. Es ist merkwürdig, wie rasch sich Wahnsinnige von derartigen Anfällen erholen, denn nach einigen Minuten stand er ruhig wieder auf und blickte umher. Ich gab den Pflegern ein Zeichen, ihn nicht zu halten, denn ich war aufs Äußerste gespannt zu sehen, was er wohl tun würde. Er ging auf das Fenster zu und wischte die Zuckerkrümel weg, dann nahm er seine Fliegenschachtel, schüttete sie aus und warf sie fort. Schließlich schloss er sein Fenster und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen aufs Bett. Alles das überraschte mich sehr, und ich fragte ihn: »Wollen Sie denn keine Fliegen mehr fangen?«
»Nein«, antwortete er, »ich habe diesen Unsinn satt.« – Er ist in der Tat ein sehr interessantes Studienobjekt. Ich wünschte, ich könnte nur den kleinsten Einblick in sein Geistesleben gewinnen, oder wenigstens die Ursache seiner plötzlichen Anfälle ausfindig machen … Moment, vielleicht ist das ein Anhaltspunkt: wenn wir herausbekommen könnten, warum sein Paroxysmus heute zu Mittag und dann erneut bei Sonnenuntergang ausbrach! Wäre es möglich, dass die Sonnenphasen einen schlechten Einfluss auf gewisse Personen ausüben, wie es ja auch die Mondphasen zuweilen tun? Wir wollen sehen!
Telegramm von Seward, London,
an van Helsing, Amsterdam
4. September
Patientin heute noch besser.
|174|Telegramm von Seward, London,
an van Helsing, Amsterdam
5. September
Große Fortschritte der Patientin. Appetit gut, Schlaf regelmäßig, gute Laune, Farbe kehrt zurück.
Telegramm von Seward, London,
an van Helsing, Amsterdam
6. September
Schrecklicher Umschwung zum Schlechten! Kommen Sie sofort, verlieren Sie keine Stunde! An Holmwood telegrafiere ich erst, wenn wir uns gesprochen haben.